Mit ähnlich grossem Überraschungseffekt wie einst Trump in den USA hat sich in Argentinien der Aussenseiter Javier Milei durchgesetzt. So wird er auch in derselben Schublade eingeordnet: Rechtspopulist mit Hang zum Autoritären. Während Trump nur Schockwert hatte, bietet Milei eine Schocktherapie. Aus dem hoch regulierten Land soll eine Oase wirtschaftlicher Freiheit werden.
Nur zwei Wochen nach seinem Amtsantritt präsentierte er ein 351-seitiges Gesetzespaket, das zwei Drittel seiner Reformversprechen enthält. Mangels parlamentarischer Mehrheit strebt der erste Gesetzesvorschlag nach Notstandsbefugnissen, die dem Präsidenten für zwei Jahre freie Hand gewähren sollen.
Die Opposition setzte mit Massendemonstrationen und einem Generalstreik zum Widerstand an. Milei will das Ausnutzen des Versammlungsrechts zur Blockade nicht tolerieren: Für Organisatoren werden bis zu fünf Jahre Haft gefordert. Die Demonstranten sollen zudem die Kosten der Einsätze tragen. Das verstärkt die Vorwürfe, im liberalen Pelz stecke ein autoritärer Wolf. Für die radikale Linke ist ohnedies immer schon klar: Neoliberalismus sei Steigbügelhalter des Faschismus.
Die Zeit für solche ideologischen Verdrehungen ist jedoch vorbei. Der Aufstieg eines «autoritären Rechtspopulismus», der manchmal wirtschaftsliberale Ansätze nutzt, hat Gründe, die kaum ideologisch sind – höchstens als Gegenreaktion. Trump, Milei, Bolsonaro, Orbán haben ideologisch wenig gemeinsam. Sie einen hauptsächlich ihre ideologischen Gegner: Journalisten und Akademiker.
Die «Rechtspopulisten» sind nicht antidemokratisch, sondern eine Folge des Niedergangs der Demokratie. Die Ursprungsbedeutung von Demokratie sieht Subsidiarität von Gemeinden auf der Grundlage bürgerlicher Verantwortung vor. Intellektuelle haben mitgeholfen, daraus eine Kultur der Verantwortungslosigkeit zu machen, indem sie um «Demokratie» und «Rechtsstaat» mächtige Tabus geschaffen haben, die keinerlei Kritik mehr zulassen. Wahlen wurden, wie der amerikanische Publizist H. L. Mencken anmerkte, zum «Vorverkauf gestohlener Güter». Argentinien befindet sich im fortgeschrittenen Stadium dieses Wahlmissbrauchs. Peronismus war nichts anderes als besonders unverfrorene Umverteilungspolitik und Juan Perón viel eher Faschist.
Wenn sich der durchschnittliche Wähler als Nutzniesser dieser Umverteilung sieht, erscheint die als demokratisch getarnte Interessenpolitik unumkehrbar. In den meisten «demokratischen» Staaten ist der Punkt längst erreicht, wo die Mehrheit der Bevölkerung von Transferleistungen auf Kosten anderer lebt.
Doch so unumkehrbar ist die Sache doch nicht. Eine Dynamik wirkt zunächst unsichtbar, bis ihre Folgen das Umverteilungsregime von innen aushöhlen. Dann erkennt der Medianwähler, dass die Verhältnisse gegen seine Interessen gehen, und neigt zur wütenden Sanktionierung über die Wahlurne. Mit Liberalismus hat dies selten zu tun – dazu braucht es schon den lupenreinen Etatismus des Peronismus und die Ausnahmefigur eines Wirtschaftsprofessors als «Populist».
Die zunächst schleichende, dann unübersehbare Dynamik könnte man Inkompetenzspirale nennen. Steigende Anspruchsmentalität und sinkende Rechenschaft dank Tabuisierung und Geldmengenausweitung führen dazu, dass Positionen in Politik und Staat überwiegend an Günstlinge gehen und immer weniger Kompetenz voraussetzen. Am weitesten fortgeschritten ist der Prozess dort, wo die ideologische Tabuisierung zur «Alternativlosigkeit» führt – etwa in Venezuela und Südafrika. Die Bekenntnisse zum Sozialismus sind hierbei nebensächlich. In Venezuela kommen die Tabus aus der Geopolitik, in Südafrika von der Hautfarbe.
Argentinien ist eines der Geburtsländer des Narrativs vom «Neoliberalismus»: Dabei wurde, unter Mithilfe europäischer Intellektueller, ein ideengeschichtliches Etikett völlig umgedeutet und als Chiffre missbraucht, um negative Erfahrungen durch reale Schieflagen der Dollarschöpfung und geopolitischer US-Interessen mit Etatismus zu verbrämen. Vielleicht deshalb tritt ausgerechnet dort die Abrechnung mit der Inkompetenzspirale als Liberalismus auf.
Sie ereilt als selbsterfüllende Prophezeiung diejenigen Intellektuellen, die sich bequem im Umverteilungsstaat eingerichtet haben, aber ständig die Empörungswelle über die Entrechteten und Armen reiten. Kritik, besonders von Sozialwissenschaftlern, ist wichtig. Doch aus diesem hehren Auftrag wurde eine Unkultur der Kritiklosigkeit gegenüber Inkompetenz, bis hin zur «Wokeness». Diese setzt anstelle des Kompetenzwettbewerbs einen Wettbewerb um Opferstatus und ist damit Beschäftigungsprogramm für diejenigen, deren Inkompetenz tabuisiert und keiner Kritik mehr zugänglich ist.
Der Preis steigender Inkompetenz ist Minderleistung, die vor allem dann wütend macht, wenn Anspruchsdenken auf schwindende Qualität staatlicher Leistungen trifft. Sind im Höchststeuerland Deutschland nicht einmal mehr die Züge pünktlich, so mag man die Empörung als übertriebene Erwartungshaltung abtun. Tatsächlich sind solche Infrastrukturmängel aber Wegmarken nach Südafrika. Am Ende kommt dann auch der Strom nicht mehr aus der Steckdose.
Die Umwandlung der Demokratie in ein Instrument, mit dem zufällige Mehrheiten – meist nicht mehr als ein Fünftel der Bevölkerung – ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen, verwandelt jede Politik in Populismus. Wenn Journalisten dieses Etikett einseitig vergeben, meinen sie hingegen die politische Strategie, Zustimmung der Bevölkerung statt der medialen und der akademischen Elite zu suchen. «Populismus» als Vorwurf bezeichnet dann nichts anderes als Wut über den Verlust der eigenen Torwächterfunktion.
«Autoritär» schliesslich ist die Intuition des Durchschnittsmenschen, wenn er unter Inkompetenz zu leiden beginnt. Dann steigt die Sehnsucht nach dem selbstbewussten «Aufräumer». Diese Sehnsüchte sind gewiss gefährlich, führen zur massiven Überbewertung von Politik und zur Heroisierung von Politikern, der diese kaum jemals entsprechen können. Das befördert Kompetenzdarsteller, denen das Schauspiel dank Narzissmus gut gelingt. Diese Karrieren sind jedoch nicht Siegeszug eines plötzlichen antidemokratischen Autoritarismus, sondern nur ein weiteres Symptom tabuisierter Inkompetenz in den Institutionen.
Buenos Aires liegt nicht geografisch, aber politisch genau zwischen Berlin und Johannesburg. Berlin steht für die Lage, in der erstmals paradoxe Interessengegensätze zwischen Politikern und ihren Wählern offensichtlich werden, weil Letztere zwar wollen (mehr Geld!), Erstere aber nicht mehr können (mehr Kaufkraft und Gratisleistungen zuteilen). Die Qualität sinkt dann schneller, als die Quantität es wettmachen kann. In Buenos Aires wurde schon vor zwanzig Jahren «que se vayan todos» skandiert – alle Politiker weg! Johannesburg steht für den Endpunkt dieser Entwicklung: völliges Staatsversagen, in dem die bürgerlichen Reste Parallelstrukturen aufbauen, weil der Staat gar nichts mehr zu bieten hat.
Für die Argentinier gibt es den Funken Hoffnung, dass unter hohem Leidensdruck eine Kehrtwende gelingt, sodass sich Buenos Aires doch noch von Berlin am Weg Richtung Johannesburg überholen lassen kann. Eine solche Umkehrung wäre gewiss begleitet von der geifernden Wut, aber letztlichen Ohnmacht deutscher Akademiker und Journalisten, die stets den Rechtsextremismus herbeischreiben. Demokratie und Rechtsstaat missbrauchen aber vor allem diejenigen, die selbst mit Geltungstugend und in tabuisierten Positionen Prestige und Einkommen konsumieren, während das gesellschaftliche Kapital einer Allianz von ideologischer Verblendung und Inkompetenz geopfert wird.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.