Im modernen Unternehmertum wird ein großzügiger Umgang mit Mitteln gerne als Hinweis auf Wachstumsorientierung angesehen. Knausrige Unternehmer erwirtschaften zwar vielleicht momentan Renditen, doch vermindern durch allzu eilige Konzentration auf Rentabilität das langfristige Skalierungspotential. So gilt es, insbesondere im Start-up-Bereich, als kein Makel mehr, auf Rentabilität vorübergehend zu verzichten – ja es ist sogar zulässig und verwegen, diese nicht einmal plausibel absehen zu können. Die Burn rate, das Verheizen des Kapitals, soll Kreativität auf höchster Flamme kochen lassen, um so während einer unrentablen Phase des Suchens und Experimentierens erst den Unternehmensgegenstand und die Monetisierungsmöglichkeiten zu erkunden. Man solle also keine Kosten und Mühen scheuen, ungeahnte Skalierungsmöglichkeiten und Unternehmensbewertungen zu erzielen, bis zum Status eines Unicorn, des Wunders eines Start-ups, das nicht durch Rentabilität, sondern Kreativität so sexy wird, dass sich Google oder andere Großkonzerne mit endlos tiefen Taschen seines Charmes nicht mehr erwehren können und einen lukrativen Exit erlauben.
Ich halte diese Entwicklung für Anzeichen einer Blase. Dass die Prinzipien des Angel Investing langfristig für Anleger relevant sein können, die nicht selbst zu den wenigen erfolgreichen Inkubatoren zählen – also primär serielle Unternehmer, nicht Investoren sind – scheint mir so wahrscheinlich wie die Existenz von Einhörnern. Gewiss zählt am Markt primär die Einhornsichtung und nicht die Einhornexistenz – diese ist zwar nicht unmöglich, aber eben ziemlich unwahrscheinlich.
Für eine realistische Betrachtung eines Unternehmenswerts – abgesehen von seltenen Einhornsichtungen – komme ich zu gegenteiliger Empfehlung. Finanziell ist der langweilige Buchhalter, gerade aus langfristiger Wachstumsperspektive, attraktiver als der spendable Kreative. Denn gerade Unternehmen mit einer Burn rate von null haben die nötige Resilienz, um sich ohne Verbiegen und ohne Ablenkung durch Erwartungen und Irrtümer des Zeitgeists der Erkundung von langfristigen Marktpotentialen zu widmen.
Die Geschichte scheint mir diese Perspektive zu bestätigen. Natürlich zeichnen sich viele erfolgreiche Unternehmer dadurch aus, Visionäre zu sein. Doch die wirklich großen, überdauernden Konzerne waren oft von nüchterner Disziplin getragen – sofern sie nicht politisch überdehnt wurden.
Burton Folsom, ein amerikanischer Wirtschaftshistoriker, beleuchtet in seinem Büchlein The Myth of the Robber Barons sechs amerikanische Unternehmerpersönlichkeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das war die Zeit der industriellen Erschließung des Landes, durch Dampfschiff und Eisenbahn und mittels Stahl- und Ölindustrie, wobei erstmals Großkonzerne entstanden. Folsom differenziert zwischen politischen und marktorientierten Unternehmern, eine Unterscheidung, die – vor allem heutzutage – nicht immer eindeutig zu treffen ist. Er möchte dadurch den Ruf einiger seiner Meinung nach zu Unrecht in Verruf geratener und mit politischen Unternehmern in Verbindung gebrachter Marktunternehmer wiederherstellen.
Einer dieser Marktunternehmer nach der Folsomschen Definition war John D. Rockefeller. Der große Erdölmagnat war für viele Zeitgenossen undurchschaubar und bisweilen gänzlich unverständlich. Geiz und Großzügigkeit waren bei ihm keine Gegensätze, sondern gleichsam stark ausgeprägt. Einerseits war Rockefellers Standard Oil für seine enorme Effizienz bekannt. In hochskalierten Unternehmenskonstruktionen können schon kleine Kostenunterschiede dramatische Auswirkungen haben und über unternehmerischen Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Für Rockefeller war dabei jeder Cent bedeutsam. Schon aus seiner Jugendzeit als Buchhalter berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter:
Rockefeller war methodisch bis zum Äußersten, sorgfältig bis ins Detail und auf einen Bruchteil peinlich genau. Wenn uns ein Cent zustand, wollte er ihn haben. Und wenn dem Kunden ein Cent zustand, wollte er, dass ihn der Kunde erhält. (Folsom 1991, S.83f)
Diese Buchhaltermentalität hat Rockefeller all die Jahre beibehalten. Bis heute gilt die Regel: „Der Gewinn wird im Einkauf gemacht.” Von Beginn an war Rockefeller der Abfall, der bei der Erdölproduktion entsteht, ein Dorn im Auge. Im Gegensatz zur Konkurrenz erkannte er die vielen Einsparpotentiale und den Nutzen der „Abfallprodukte” der Erdölherstellung. Hunderte Nebenprodukte wurden so von Chemikern entwickelt.
Im vermeintlichen Gegensatz dazu spendete der gläubige Baptist Zeit seines Berufslebens mindestens ein Zehntel seines Einkommens an kirchliche und karitative Einrichtungen. Riesige, noch nie dagewesene Summen kamen dabei zusammen. In seinem achtzigsten Lebensjahr spendete Rockefeller 138 Millionen USD. Bevor er im Alter von 97 Jahren starb, kam so ein Spendenvolumen von 550 Millionen USD zusammen, mehr als irgendein Amerikaner vor ihm überhaupt besessen hatte.
Auch seinen Mitarbeitern gegenüber war Rockefeller spendabel. Ähnlich wie Stahlunternehmer Carnegie versprach sich Rockefeller durch überdurchschnittliche Löhne, Erfolgsbeteiligungen und lange Urlaubszeiten insgesamt Kosteneinsparungen aufgrund erhöhter Produktivität.
Unternehmerisches Maßhalten, das Profitabilität als Maßstab verinnerlicht, ist also etwas gänzlich anderes als Geiz oder Gier. Die Gewinne sind nicht Zweck, sondern Bedingung des nachhaltigen Unternehmertums. Wenn Unternehmer die Profitabilität aus den Augen verlieren oder sie gar durch angebliche „soziale” und „politische” Ziele relativieren, untergraben sie die Basis des Unternehmertums: Die Fähigkeit, die Ungewissheit der Zukunft zu schultern, das heißt, Rückschläge und Fehler, die beim wettbewerblichen Entdeckungsverfahren unvermeidlich sind, durch aus Gewinnen erwirtschafteten Reserven abzufangen.
Somit sind es vorrangig die Korrekturphasen des Konjunkturzyklus, die Aussetzer der Booms und die Platzer der Blasen, in denen sich die Spreu der Unternehmer von den maßhaltenden, resilienten trennt. Hier findet sich eine überraschende Unternehmertugend – überraschend deshalb, weil sie so bürgerlich und langweilig ist, und nicht dem Bild des prassenden Helden und rücksichtslosen Visionärs entspricht:
Die Voraussetzung, großzügig sein zu können, ist es, Ersparnisse gebildet zu haben. Sparen kommt von einem alten indogermanischen Wort für „retten” und „bewahren“. Es geht darum, Wertvolles für alternative Verwendungen zu erhalten, anstatt es in der direktesten Verwendung aufzubrauchen. Dieses Sparen hat zunächst hortenden Charakter, es geht darum Werte über die Zeit zu bewahren, bis man den rechten Zeitpunkt und Kontext gefunden hat, sie für Besseres und Höheres einzusetzen. Dieser Einsatz, der das Ziel des Sparens darstellt (abgesehen von der Vorsorge), ist der investive Aspekt des Sparens. Investieren bedeutet wörtlich „einkleiden”, das meint, den bewahrten Werten eine Funktion zu geben. Diese Funktion besteht darin, Wertvolleres hervorzubringen, was eine so schwierige Aufgabe ist, dass sie in der Regel misslingt. Ohne Menschen, die diese Funktion erfüllen, lebt eine Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes nur von der Hand in den Mund. Kapitalaufbau ist Wohlstandsaufbau. Dafür ist die Tugend der temperantia die Voraussetzung. Gemeint ist jene Mäßigung, die sehr langfristiges Handeln, Ersparnisbildung, Kapitalaufbau und damit auch die langfristigsten Investitionen – Stiftungen ohne direkte Konsumabsicht – ermöglicht. (Taghizadegan 2016, S.182f)