Der Schutz der Privatsphäre gilt heute als Recht, das vom Gesetzgeber gewährt und privaten Unternehmen abgerungen werden muss. Diese Auffassung ist eine relativ junge, wurde in den USA populär gemacht, zeigt aber in der heutigen EU die stärksten Auswirkungen – etwa in der Datenschutzverordnung DSGVO. Wegweisend war ein Artikel der US-Juristen Samuel Warren und Louis Brandeis, der 1890 erschien und ein „Recht auf Privatsphäre“ mit dem Gewohnheitsrecht in Übereinstimmung zu bringen versuchte.
Anlass waren eine Empörungswelle über Fotos von Frauen, die ohne deren Einverständnis für Werbung missbraucht wurden, und eine generelle Skepsis gegenüber dem Journalismus. Kameras stießen als neue Technologie auf große Ängste. Eine Panik machte sich breit über potenzielle Sexualisierung, getragen vom US-Puritanismus, ähnlich wie heute in den neopuritanischen „Woke“- und „MeToo“- Bewegungen. Warren und Brandeis argumentierten für einen gesetzlichen Schutz von Gefühlen und vor Kränkungen, die schwerer wiegen könnten als physische Schläge.
Diese Argumentation ist genauso absurd wie heutige Rufe nach „Safe Spaces“. Die Privatsphäre, die Warren und Brandeis geschützt sehen wollten, sei ein „retreat from the world“, ein Rückzugsort von der Welt mit ihrer „müßigen und lüsternen Neugier“. Das Gewohnheitsrecht wie auch das Naturrecht sahen im Haus des freien Mannes gewiss zu Recht einen heiligen Rückzugsort, der politischen Anmaßungen entzogen sei. Doch im Versuch, dieses Recht vom Ort zu abstrahieren, auf alle Menschen auszuweiten und an Gefühlen festzumachen, wurde die Grundlage dieses Rechts untergraben. Der Schutz der Privatsphäre als Gefühlsschutz und moralisierendes Gesetz ist ein gefährlicher Irrweg, der bei steter Aushöhlung echter Privatheit hauptsächlich Anwälten und Bürokraten dient.
Ob die menschlichen Antlitze, mit denen Konsumgüter und Politiker beworben werden, von entlohnten Fotomodellen, Schauspielern, ungefragten Passanten oder KI-Generatoren stammen, ist eine völlig nebensächliche Frage für den Schutz der Privatsphäre. Wenn es keinen gesetzlichen Schutz des eigenen Abbilds gäbe, wäre das für manche manchmal peinlich und unangenehm, doch noch lange keine Katastrophe. Immerhin wäre es dann eher Allgemeingut, dass Plakatfotos wenig mit der Wahrheit gemein haben, wenn gelegentlich das eigene Antlitz dafür missbraucht würde. Genau dies ist ja bei „Memes“ der Status Quo, bei denen aufgrund der digitalen Viralität eine Exekution von Bildrechten schwer möglich ist. Die meisten Menschen, die zufällig zu Meme-Material wurden, finden sich damit ab und können der Sache Positives abgewinnen.
Die Fiktion des schützenden Staates führt zu tendenziell sorglosem Umgang mit dem eigenen Konterfei und – viel verheerender – mit den Daten, die heute überreichlich im Leben anfallen. Natürlich ändern sich mit neuen Technologien auch die sinnvollen Standards der Privatsphäre. Heute bestehen gleichzeitig Datenpanik und absolute Datenfahrlässigkeit. Unternehmen, die freiwillig hinterlassene Kontaktinformationen für Angebote nutzen, die jeder ablehnen kann, werden wie Verbrecher behandelt, während Menschen für ein wenig Anerkennung jedes Detail ihres Privatlebens digital teilen. Es ist kaum zu fassen, dass vor nicht allzu langer Zeit noch sämtliche Kontaktdaten fast aller Bürger in dicken Telefonbüchern veröffentlicht wurden.
Der Gedanke, dass Privatsphäre ein Recht wäre, ist wahrscheinlich selbst der Irrweg. Wer auf die Straße tritt, kann gesehen werden. Wer seine realen Daten weitergibt, stimmt auch ohne drei störende Pop-ups mit langen Juristentexten und Kreuzerllisten deren Speicherung und Nutzung zu.
Privatsphäre ist kein Recht, das wir aus der staatlichen Einschränkung von Unternehmen gewinnen können. Diese Wunschvorstellung ist so absurd wie das Klagen der Touristen am überlaufenen Ort über den Massentourismus – mit der Forderung, Letzteren gesetzlich zu begrenzen. Menschen sind neugierig. Dass wir unseren Ruf besitzen würden, ist eine irreführende Abstraktion. Gewiss können Irrtümer und Gehässigkeit manchmal dazu führen, dass über uns zu Unrecht schlecht geredet wird. Doch den Tratsch gesetzlich zu ahnden, kann nur puritanischen Totalitären einfallen.
Privatsphäre ist aber auch nicht primär ein liberales Abwehrrecht des egoistischen Einzelnen gegenüber einer gemeinnützigen Öffentlichkeit. Transparenz und Öffentlichkeit sind vielmehr Ausnahmen in Situationen, die besondere Kontrolle erfordern. Tatsächlich sollte Privatsphäre eher als moralische Pflicht aufgefasst werden. Individuelle Präferenz ist sie nur für die wenigsten. Leider ziehen fast alle Menschen Bequemlichkeit, Anerkennung oder kleinste Vorteile dem Datenschutz vor. Mehr Privatsphäre hat überwiegend eine soziale Funktion, die diesen Einzelpräferenzen oft entgegensteht.
Privatsphäre schützt vor dem unsozialsten Gift, das durch menschliche Nähe entsteht und Gesellschaften zerstört: Neid. Helmut Schoeck schloss in seiner berühmten Behandlung dieses Phänomens: „Je mehr es in einer Gesellschaft den Privatleuten wie den Trägern der politischen Macht möglich ist, so zu handeln, als ob es keinen Neid gäbe, desto größer wird das wirtschaftliche Wachstum und die Zahl der Neuerungen im Allgemeinen sein.“ René Girard nennt den Neid „mimetisches Begehren“ und schildert die verheerende Wirkung bis hin zum Lynchmord: „Rivalisierende Begehren sind gerade deshalb so gefährlich, weil sie sich tendenziell gegenseitig verstärken.“
Der Schutz der Privatsphäre ist eine moralische Pflicht wie die Höflichkeit und überschneidet sich ein wenig mit ihr. Privatheit schafft friedensstiftende soziale Grenzen, überdeckt potenziell Anstößiges und allzu Begehrtes mit einem Schleier, ist Bescheidenheit und Wahrung des Intimen. Der jeweils aktuelle technologische Stand gibt dabei die höchsten Standards vor. Nur die wenigsten können der Datensammlung und Überwachung völlig entgehen. Diese sind in der Regel keine Verbrecher, sondern moralische Vorbilder, die uns Normalmenschen einen Maßstab und Spiegel bieten.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.