In Österreich kam eine politische Nachwuchshoffnung unlängst zu einer wichtigen Erkenntnis: Politik habe nicht im Geringsten mit Charakter zu tun! Wie so oft gelang die Erkenntnis nur, weil sie nützlich war. Die Kandidatin wollte sich so unbeholfen aus der Schusslinie nehmen. Einstige Freunde hatten sie gegenüber Journalisten als notorische Lügnerin verpetzt. Da sich einige Lügen auf Bettgeschichten bezogen, und die größten Talente der Nachwuchshoffnung Aussehen und Geschlecht sind, dominierte danach voyeuristisches Interesse die Wahl. Die Medien freute es, denn Aufmerksamkeit ist ihre Geschäftsgrundlage.
Jene Spitzenkandidatin der Grünen hätte lieber über “Inhalte” gesprochen, die eigentlich im Mittelpunkt guter Politik stehen sollten. Welch absurde Annahme! Warum sollte die Wiedergabe von Meinungen durch die spätpubertäre Tochter eines kommunistischen Bankiers mehr politische Relevanz als ihr Charakter haben? Dass sie diese Meinungen ganz narzisstisch als Erretterin der Menschheit in Richtung Kommunismus für das Klimaheil darstellen, ist so absehbar wie langweilig, und viel eher noch eine Frage des Charakters als der Rhetorik oder Ideologie. Dass solche Meinungen “Konzepte für den Klimaschutz” wären, kann doch nur den Dümmsten in den Sinn kommen.
Dass die Sinne allerdings so breit und weit vernebelt sind, legt den Schluss nahe, dass Politik vor allem kollektive Verblendung und Verdummung sein muss. Wie beim nackten Kaiser geht es wohl um das gemeinsame Aussetzen des Hausverstands in einem Glaubensbekenntnis, das gerade in seiner Absurdität zusammenschweißt.
Das alte theologische Motiv der heilsbringenden Jungfrau kommt der Narzisstin zupass. Doch sie unterschätzte das Risiko: Wenn die Projektionsfläche enttäuscht, funkelt Hass entgegen. Nicht die Sünde bringt die Menschen auf, sondern das Heucheln. Nahezu jede antireligiöse Reaktion entzündete sich am Charakter- oder Systemmangel des Heuchelns: anderen einen Maßstab vorhalten, den man selbst nicht einhält.
Plakatiert hatten die Grünen das hübsche Gesicht mit dem Gesinnungskitsch “Herz statt Hetze”. Sexismus und Inhaltsleere der antisexistischen Politikerin, der so viel an den Inhalten läge, empörte alleine noch zu wenig, dazu ist die kollektive Verblendung zu groß. Doch dann dokumentierten Indiskretionen, dass die Dame im Privatleben völlig herzlos sei und gegen andere hetze. Der Gegensatz zum Wahlkampfslogan war von peinlicher Offensichtlichkeit. Bis hierhin tat ich nun nichts anderes als ein professioneller Journalist: Ich füllte eine Glosse mit einem tagespolitischen Thema, partizipierte willig am Aufmerksamkeitsstrudel, der alle Sinne raubt, und reihte mich in den Schulterschluss der Leser gegen “Grüne”, die in Deutschland sogar noch unpopulärer als in Österreich sind. Das ist charakterlich vielleicht mies, aber Journalismus hat natürlich nicht im Geringsten mit dem Charakter des Schreibers zu tun, sondern allein mit Inhalten! Weil ich aber am Journalismus gar nicht hänge, erlaube ich mir das Thema vom allzu einfachen Subjekt der gefallenen Jungfrau zum toxischen Mann zu variieren.
Im Überlappungsbereich von Politik und Journalismus verdingen sich die Influencer. Die grüne Politikerin ist eigentlich auch eine solche, deren mediale Reichweite die Parteigranden ganz pragmatisch und aufmerksamkeitskapitalistisch zum Rekrutieren der “Quereinsteigerin” veranlassten, die lange zögerte, was zumindest für ihre intellektuellen Fähigkeiten spricht. Influencer reiten auf Netzwerkeffekten der Aufmerksamkeit, sie versuchen in ihren Nischen zu Prototypen zu werden.
Einer der erfolgreichsten Bitcoin-Influencer und damit reichweitenstärkste “Libertarian” sah sich fast gleichzeitig einem “shitstorm” ausgesetzt, der frappierend der Erfahrung der grünen Kandidatin ähnelt. Das Publikum ist auch hier gespalten. Warum sollte der Charakter auch nur im Geringsten etwas damit zu tun haben, ein großes Publikum für Freiheit und Bitcoin zu begeistern? Warum sollte sich überhaupt jemand für das Privatleben eines Mannes interessieren und für dessen Bettgeschichten?
Auch hier führt die wertneutrale Perspektive nicht zum Relativieren von Werten und Moral. Die Empörung ist nachvollziehbar, sie ist Enttäuschung der “plebs” über ihren Guru. Als “pleb” bezeichnet sich das Fußvolk der Bitcoin-Bewegung. Ein Guru schließlich ist stets auch moralisches Vorbild und Sinnbild einer besseren Welt. Gerade Bitcoiner sind beseelt vom Moralismus, dass Bitcoin eine moralisch bessere Welt hervorbringen werde, in der nahezu alles, was heute empört, “gefixt” sei.
Auch die Freiheits-Influencer können sich dem heutigen Kulturkampf nicht entziehen, der höchstpersönliche Fragen der Ernährung und Beziehung politisiert. Dieser Influencer partizipierte gar am “tradwife meme”, der Sehnsucht nach den guten Frauen und Müttern vor dem heutigen Geschlechterkrieg. Frau und Kind inszenierte er selbst in kitschigen Aufnahmen, die er sozial-medial verbreitete, und bekannte sich natürlich auch zur traditionellen Küche des toten Tiers am Rost.
Und dann, in einem Moment narzisstischer Verirrung, teilte er plötzlich mit aller Welt stolz folgende Bildgeschichte: Seine sexy Freundin, eine hochsexualisierte OnlyFans-Bildschirmprostituierte, bereitete eine glutenfreie Pizza für ihren muskelgestählten Freund zu. Die dermaßen brüskierte Mutter seiner Tochter fühlte sich durch den Influencer missbraucht und teilte auch das mit aller Welt.
Keine Gruppe ist an sich moralischer als eine andere, weder Grüne, noch Bitcoiner oder Libertarians, am allerwenigsten Ethikexperten und Moralapostel. Das Publikum allerdings kann sich so manche Enttäuschung und Empörung ersparen, wenn es das Phänomen kennt, das ich Moralkompensation nennen möchte. Die öffentliche Zugehörigkeit zu einer moralischeren Gruppe, ob Retter des Klimas oder des Abendlandes, korreliert negativ mit eigener Charakterstärke, denn unsere Interessen nehmen den öffentlichen Moralismus nur allzu bereitwillig als Alibi für private Unmoral in Anspruch.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.