Einst war Massenarmut das Argument gegen freie Märkte: Ungeduldige Intellektuelle waren überzeugt, dass ihre utopischen Pläne mehr Wohlstand für die Massen bringen würden als eigennützige Unternehmer. Diese Argumentation wurde durch die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt. Heute wird den Märkten eher der Massenwohlstand angelastet. Dieser Vorwurf ist zwar indirekt und unbewusst, doch seine Grundlage ist gewichtig: Er beruht auf der Abneigung gegenüber dem Massen- oder Durchschnittsmenschen.
Dieser Abneigung kann man sich schwer entziehen, insbesondere als Intellektueller. Freunden der Freiheit liegt sie ebenso nahe, denn Freiheit ist ein Minderheitenprogramm gegen die Masse opportunistischer Mitläufer. Das Bild beruht aber auf einem Denkfehler. Der Durchschnittsmensch existiert gar nicht, es handelt sich um eine Analogie der Statistik. Dennoch drückt die Analogie eine Tatsache aus.
Menschen unterscheiden sich, ähneln sich aber natürlich auch, und in gewissen Aspekten sind sie identisch. Wir teilen 99 Prozent unseres Erbgutes mit Schimpansen, mit Mäusen 92 Prozent und mit Pflanzen immerhin noch 50 Prozent. Dennoch ist der Mensch nicht bloß durchschnittliche Vegetation. Minimale Unterschiede haben maximale Bedeutung. Solche Qualitäten entziehen sich dem statistischen Denken.
Bei den niedrigeren Bedürfnissen sind wir uns also am ähnlichsten. „Niedrig“ bedeutet hierbei, dass das spezifisch Menschliche und Individuelle in den Hintergrund treten, und das Physiologische bis Animalische dominieren. Diese Ähnlichkeiten für einen realen „Durchschnittsmenschen“ zu halten, ist so falsch wie die Ansicht, der Durchschnittsmensch sei ein Affe. Jeder von uns ist zum allergrößten Teil „durchschnittlich“, das heißt, durch biologische, genetische und kulturelle Ähnlichkeiten bestimmt. Der „innere Schweinehund“ umfasst jene evolutionären Programme, die eine Art Autopilot des Lebens darstellen. Jedes Bedürfnis individuell zu wählen, würde uns kognitiv überfordern.
Der Markt erlaubt eine Spezialisierung und Arbeitsteilung, indem an die Stelle von Subsistenz die Kooperation mit unzähligen Fremden tritt. Ein wesentliches Element, das diese Spezialisierung wirtschaftlich macht, sind Skaleneffekte: sinkende Grenzkosten bei der Produktion höherer Stückzahlen. Zugleich spornt Markt aber auch größere Vielfalt an. Warum sehen wir eher die Ähnlichkeit als die Vielfalt? Dafür gibt es zwei Gründe:
Erstens erkennen wir eher das Vertraute, und das findet sich im Ähnlichen und Zahlreicheren. Alle Menschen sind Konsumenten, weshalb uns die Konsumgüter vertrauter sind als die unglaubliche Vielfalt von Produktionsgütern, die in den spezialisierten Produktionszweigen der Kapitalstruktur versteckt sind. Die häufigsten Bedürfnisse sind die ähnlichsten. Das Begehren von Gütern, die kurzfristig Lust, Status und Ablenkung stiften, ist ein sichtbares und nahegehendes Laster. Die Zuschreibung dieser Lasterhaftigkeit auf den Markt ist absurd, auch wenn die Abneigung oft aufrichtig ist – eben ein inneres Ringen mit unseren ureigenen Trieben.
Zweitens verzerrt Politik in Richtung Masse. Politik ist in Umkehrung der berühmten Formulierung von Mandeville öffentliches Laster und privater Vorteil: Es ist eine Fassade falscher Tugendhaftigkeit, hinter der kurzfristige Nullsummenspiele im Verborgenen verzehren, was sich der Politik nicht entziehen kann. Regulierung und Geldsozialismus schaffen künstliche Skaleneffekte, welche die natürlichen überdehnen. Das kurzfristig Zahlreiche wird in der Wirtschaft zulasten des langfristig Vielfältigen gehebelt. Dazu passt auch die Konsumfixierung moderner Wirtschaftstheorien.
Diese Verzerrung verstärkt das ohnehin schon große „Unbehagen in der Kultur“, die Spannung zwischen alten Trieben und neuen Wahlmöglichkeiten. Es sind durchaus nicht die Schlechtesten, denen dadurch das Unternehmertum als ungeeignete Berufung erscheint, weil sie den Massengeschmack nicht bedienen wollen. Das interessanteste Unternehmertum reicht aber stets tiefer, unter die Schichten des aktuell und kurzfristig Angesagten. Es reicht in die Zukunft ungeahnter Möglichkeiten und Herausforderungen oder in die Tiefe der Kapitalstruktur, wo es hauptsächlich um „Business-to-Business“ geht.
Die Ungewissheit der Zukunft von kapitalintensiverer Produktion ist leider abschreckend, besonders wenn die Ungewissheit auch noch politisch vergrößert wird. Darum ist Unternehmertum im engeren Sinne ohnedies nur die Sache der wenigen, niemals der Masse. Umso verheerender, wenn sich diese wenigen noch durch Massenabscheu vom Unternehmertum abhalten lassen oder sich gar gegen die Marktwirtschaft wenden.
Der Wettbewerb um Massenskalierung für die niedrigsten Bedürfnisse ist oft ekelhaft. Solchen Wettbewerb muss man nicht noch loben als reinen Selbstzweck. Doch trügt der Eindruck, dass die schlechtesten Dinge am besten skalieren. Das furchtbare Geschäftsmodell des Gratiskonsums für Aufmerksamkeitsbewirtschaftung der unsozialen Medien ist eine Ausnahme – hier verstärken sich Netzwerkeffekte, Skaleneffekte und Verzerrungen gegenseitig. Sonst reiten die übelsten Angebote oft auf den vorübergehenden Irrtümern und Bequemlichkeiten relativ kleiner Zahlen von Menschen, während das zeitlos Nützliche besser skaliert, weil Produktivitätserhöhungen über die Zeit aufeinander aufbauen können.
Gewiss lassen sich an den Konsumgewohnheiten heutiger Menschen psychische Schieflagen ablesen. Ein Verfechter der Marktwirtschaft muss nicht jeden freiwilligen Konsumakt und jeden Wettbewerber unterschiedslos preisen. Weitaus gewichtiger und verheerender sind die geldpolitischen Schieflagen, welche die Abwägung zwischen kurzfristigem Genuss und langfristigem Wohlergehen durch Abwertung der Zukunft immer stärker ins Kippen bringen. Ohne Markt, ohne die Möglichkeit, weltweit unter besseren Angeboten wählen zu können, würden weder die psychischen noch die monetären Schieflagen geringer. Die Alternative zum Markt ist das marxistische Diktat der niedrigsten Bedürfnisse der größten Zahl, das die Fähigsten versklavt, anstatt ihnen die Wahl zu lassen, welchen Bedürfnissen sie dienen wollen.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.