In diesem letzten Artikel einer zehnteiligen Reihe über Contrepreneurship will ich ein Rätsel auflösen: Warum waren die bisherigen Artikel so rätselhaft und schwer verständlich? Contrepreneurship ist konträres Unternehmertum, wenn der bisherige Orientierungsrahmen für unternehmerisches Handeln zu versagen beginnt. Da niemand allwissend ist und Unternehmertum das Schultern von Ungewissheit bedeutet, lässt sich niemals objektiv im Vorhinein und für jedermann korrekt festlegen, wann Contrepreneurship sinnvoller ist und in welcher konkreten Form.
Schon aus gesetzlichen Gründen war diese Artikelreihe natürlich nicht als Anstiftung zu illegalem Handeln gedacht, sondern als nüchterne Analyse von Dynamiken. Illegalität sollte niemals Ziel sein und ist meist auch ein schlechtes Mittel. Aber Legalität ist eben auch kein Selbstzweck und kann der Gerechtigkeit widersprechen. Im Graubereich muss manches grau bleiben.
Doch ich habe mich nicht bloß aus Selbstschutz um Unverständlichkeit bemüht. Diese ist vor allem eine Folge der Rolle und Art von Wissen im Unternehmertum. Unternehmerisches Handeln unterscheidet sich vom gewöhnlichen Handeln durch die Absicht und Bereitschaft, mehr Ungewissheit zu schultern, indem Produktionsmittel aus bisherigen Verwendungen gelöst werden (meist durch marginal höhere Angebote dank eingesetzter Liquidität). Das kann nur dann ohne Verlust ausgehen, wenn die Zukunft von den Einschätzungen der meisten anderen abweicht, die zu Unternehmertum und Investitionen fähig sind. Sonst hätten deren Gebote die nötigen Produktionsmittel schon so weit verteuert, dass Profite unmöglich wären.
Ein erfolgreicher Unternehmer ist immer auch ein „Contrarian“ (jemand mit abweichenden Ansichten zur Mehrheit), zumindest im Vorhinein. Umso mehr gilt das für den Contrepreneur. Der Unternehmer Peter Thiel sieht Innovation dort entstehen, wo Menschen von etwas überzeugt sind, das fast alle anderen für falsch halten. Kandidaten, die er für seine Unternehmen rekrutieren will, stellt er folgende Frage: „Bei welcher wichtigen Tatsache stimmen Ihnen nur wenige Menschen zu?“ Eine für ihn unangenehme Antwort wäre, dass die offizielle Rentabilität seiner Unternehmen, wie etwa Palantir, nicht mehr notwendig ein Hinweis auf unternehmerische Wertschöpfung ist. Es könnte sich um Arbitragegewinne der Geldschöpfung handeln.
Unternehmerische Praxis bedeutet Andersmachen. Konkrete Empfehlungen, die beliebten „Tipps“, ob bei Anlage oder Unternehmensideen, sind kontraproduktiv. Öffentliche Empfehlungen, die jeder verstehen und umsetzen kann und bei denen die Idee wichtiger als Zeitpunkt und Art der Umsetzung ist, haben wenig Wert. Selbst wenn eine Empfehlung zufällig zur rechten Zeit erfolgt, ist damit nicht gesagt, dass sie dem Umsetzenden Erfolg beschert. Meist erfolgt die Umsetzung zu einem anderen Zeitpunkt, wenn die Empfehlung bereits zum Allgemeinplatz geworden ist und die Ungewissheit am geringsten scheint, damit aber auch der Marktvorteil geschwunden ist. Selbst wenn die Umsetzung zeitgerecht und richtig erfolgt, kann der Schaden groß sein: Die Empfehlung löst dann den sogenannten „Halo-Effekt“ aus, der Erfolg steigt zu Kopf oder wird falscher Ursache zugeschrieben.
Lässt sich dann überhaupt sinnvoll über unternehmerische Praxis schreiben? Vier Möglichkeiten bleiben dazu: Erstens die Geschichtsschreibung, die eigene unternehmerische Erfahrungen zugänglich macht oder fremde unternehmerische Erfahrungen sammelt, auswählt und systematisiert. Zweitens die Theorie, die historische Praxis heranzieht, um Begriffe zu schärfen, Dynamiken zu erklären und Kausalitäten zu verstehen. Drittens das Beschreiben technischer Möglichkeiten und Verfahren. Viertens eine verschlüsselte Anleitung zum Selbstdenken, die Problemlösungsfähigkeit anregt. Die erste Art der Behandlung unternehmerischer Themen ist die lesbarste und verständlichste und erscheint am praxisrelevantesten, ist aber die am wenigsten direkt in die Praxis umsetzbare, weil sie sich auf die Vergangenheit bezieht. Je dynamischer ein Wirtschaftsraum, desto mehr unterscheidet sich die Zukunft von der Vergangenheit. Trotzdem ist Autobiographisches von Unternehmern oft sehr inspirierend und gewiss wertvoller als all die pseudopraktische Bestsellerliteratur, die voll von einfachen Rezepten und Empfehlungen ist.
Diese Artikelreihe verband alle vier beschriebenen Möglichkeiten, über unternehmerische Praxis zu schreiben – mit zunehmendem Gewicht in der Reihenfolge der Zählung dieser Möglichkeiten. Mit dieser Aufklärung wird der eine oder andere die vergangenen Artikel nun gewiss mit mehr Gewinn nochmals lesen. Freilich nur jene, für die diese Praxis überhaupt relevant sein kann.
Praktisches Unternehmertum ist nicht verallgemeinerbar. Sehr häufig stößt man auf folgende Einschätzung und Aussage: Ich würde ja gerne unternehmerisch tätig werden, allein fehlt mir bislang die Idee. Diese Einschätzung ist leider ein Hinweis auf mangelnde Bereitschaft zu wirklichem Unternehmertum. Ideen – konkrete Empfehlungen für Produkte, Prozesse, Methoden – sind ziemlich wertlos. Sie sind nicht so knapp, wie sie jenen scheinen, die die Welt bislang noch nicht mit unternehmerischen Augen betrachten konnten, sie sind bloß ungleich verteilt – leider aber nicht umverteilbar. Knapp ist Kapital. Nicht umverteilbares Geld ist damit gemeint, sondern jene konkrete Struktur realer Wertsteigerung, die aus vielen Einzelentscheidungen unterschiedlichster Art kristallisiert wird.
Schreibt man heute über praktisches Unternehmertum in Deutschland, so ist eine rätselhaft erscheinende Düsterkeit kaum zu vermeiden. Immerhin geht es um die Zukunft, und die ist im abendländischen Unterbewusstsein schon längst mit düsterer Ahnung belegt. Die nervende Tschakka-Mentalität der üblichen Unternehmerliteratur schlägt leicht in Ohnmacht um. Echte Unternehmer greifen den Dynamiken ganz nüchtern vor. Contrarians liegen meistens falsch. Unternehmertum misslingt meistens. Es sind aber die Ausnahmen, auf die es ankommt.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei