Nur noch wenige bekennen sich heute noch zur Reinform des materialistischen Sozialismus, die meisten sind auf die von Karl Marx als kleinbürgerlich verlachten Themen wie Umweltschutz oder Wohlfahrtsstaat ausgewichen. Die Epigonen des alten Sozialismus haben sich zum großen Teil als Massenmörder herausgestellt. Ein letztes Fossil, das seinen Anachronismus geschickt in Aufmerksamkeit ummünzt, ist Jean Ziegler. Er ist stolz darauf, einst Che Guevara chauffiert zu haben. Gerne hätte er sich der bewaffneten Revolution angeschlossen, doch – wie er selbst zugibt – war er als „Kleinbürger” dazu untauglich. El Comandante lehnte sein Angebot ab, mit dem Hinweis, als Intellektueller könne er sich nützlicher machen. So änderte Ziegler seinen Vornamen von Hans ins revolutionärere „Jean” und machte von Genf aus Karriere. Er schloss sich dem Jetset der internationalen Organisationen an und stieg zum Liebling der Verlage und Medien auf. Er ist Hoffnungsträger vieler Systemkritiker, die ihn als zuspitzendes Sprachrohr des Ausbruchs aus der Alternativlosigkeit schätzen; als Wutopa, der dank seines als mutig wahrgenommenen Kokettierens mit einem jugendlichen Radikalismus Aufmerksamkeit erzielt und diese für Moralpredigten nutzt – auch das typisch kleinbürgerlich, wenn wir uns an Marx halten würden. So ist Ziegler für sich ein Phänomen, das einiger Erklärung bedarf.
Auch ein österreichischer Privatsender schloss sich der letzten Promo-Tour Zieglers an und machte mit einer Werbesendung für ihn und sein letztes Buch die Aufwartung. Dazu wurde ein Talkshow-Format kurzerhand umfunktioniert. Als Diskutant nahm ich an dieser Sendung teil und konnte daher das Phänomen aus nächster Nähe betrachten, mit einigem Erkenntniswert.
Zieglers Argumentation ist simpel. So simpel, dass er sie jedes Mal nahezu wortgleich wiederholt, wie ein Aufnahmegerät oder ein Politiker nach dem Coaching. Er skandalisiert die bestehenden Missstände dieser Welt und kreidet sie als konkrete Schuld Andersdenkenden und Andersmachenden an: Neoliberale, Spekulanten, Konzerne – diese brandmarkt er als Mörder und empfiehlt tatsächlich den Galgen. Solche Gewaltaufrufe sind schon ungewohnt, aber zumindest in ihrer Radikalität erfrischend ehrlich. Das macht auch den Reiz von Ideologen aus: Sie sind ehrlicher als die üblichen Funktionäre, die sich um jede Aussage drücken. Doch zugleich sind sie unehrlicher als ihre Vorbilder: Diese griffen tatsächlich zur Gewalt und machten sich damit selbst die Hände schmutzig, riskierten zumindest auch ihr Leben für ihre Überzeugungen – intellektuelle Ideologen riskieren nur das Leben anderer für ihre Überzeugungen. Doch Ehrlichkeit ist wie jede andere Tugend nur in Verbindung wertvoll – eine Tugend für sich, losgelöst von den anderen, ist gefährlich. Als Intellektueller steht Ziegler für die große Tugendloslösung und -auflösung der Moderne, vor der schon G.K. Chesterton gewarnt hatte:
Die moderne Welt ist voll von den alten christlichen Tugenden, bloß sind diese vollkommen verrückt geworden […], weil sie voneinander isoliert worden sind und nun alleine umherwandern. So sorgen sich manche Wissenschaftler um die Wahrheit, doch ihre Wahrheit ist ohne Barmherzigkeit. So sorgen sich manche Humanitäre um die Barmherzigkeit, doch ihre Barmherzigkeit ist oft ohne Wahrheit. (Chesterton 1908: 52f)
Ehrlichkeit ohne Mäßigung ist so schlimm wie Gerechtigkeit ohne Klugheit. Auch Zieglers wütende Moralisierung erweist sich letztlich als christliche Häresie, worin er Marx wieder nahekommt. Ziegler ist – so gibt er selbst zu – calvinistisch traumatisiert. Die Prädestinationslehre, mit der sein Vater irdische Missstände abtat, erschien ihm zu Recht als grausam. Der junge Ziegler begann diese Lehre in seinem jugendlichen Radikalismus, der typischerweise gegen den Vater rebellierte, zu spiegeln: Er gelangte zu einer marxistischen Prädestination, die Missstände als unentrinnbare Schuld zuweist – aber wiederum nicht sich selbst, sondern anderen. Jedes Kind, das heute verhungere, sei Mord, an dem andere schuld seien: All jene, die nicht seiner Ersatzreligion folgen, die Macht und Vermögen nicht für seine Pläne abtreten; die Verdienste aufweisen, die nicht zugeteilt wurden. Die absolute Zahl der hungernden Kinder nähme jedes Jahr zu, deshalb wachse auch die Schuld und damit die Notwendigkeit zu einer Weltrevolution, zu einem apokalyptischen Jüngsten Gericht, bei dem Galgen und Guillotine wieder die Gerechtigkeit herstellen. Jean Zieglers Idole zeigen diesen Weg an: Jean-Jacques Rousseau, Che Guevara – und all jene, über die er heute lieber schweigt, die er einst aber als Hoffnungsträger pries: Mao, Pol Pot, Mugabe, Chavez. Rousseau und Che Guevara sind noch die harmlosesten seiner Idole: Ersterer lebte wie Ziegler in Genfer Villen, wo er das „Zurück zur Natur” und die Dezivilisierung in den gepflegten Parks seiner Gönner predigte, und damit Stichwortgeber der Französischen Revolution wurde, bei der die Guillotine als Gerechtigskeitsbringer entdeckt und der erste moderne Genozid (an Andersdenkenden in der Vendée, mitsamt ihren Kindern) veranstaltet wurde. Che Guevara befehligte immerhin nur Erschießungskommandos und ließ Konzentrationslager errichten, vom Massenmord eines Pol Pot war er noch entfernt.
Gewiss sehen solche Kommentare nach ideologischer Gehässigkeit aus. Doch es geht um ein grundlegenderes Argument: Warum wird jemandem eine Bühne geboten, der mit seinen Prophezeiungen bislang so verheerend falsch lag? Der nachweisbar Massenmörder pries – zugegebenermaßen, bevor ihre Massenmorde allgemein erkannt waren. Jeder hat das Recht zu irren. Gerade junge Menschen dürfen schon einmal blind vor Enthusiasmus und Idealismus sein. Doch drei Umstände geben hier zu denken:
- Er wird medial zum Hype aufgeblasen.
- Jean Ziegler zeigt in hohem Alter keinerlei Reue über vergangene Irrtümer und genießt sichtlich seinen Status.
- Seine Argumentation beruht auf offensichtlichen Verkürzungen.
Beginnen wir beim dritten Punkt: Armut ist erklärungsbedürftig und kein Skandal. Reichtum erfordert die Erklärung, Massenwohlstand ist das Wunder. Seit der Ausrottung der Großviehbestände und der Einführung der Landwirtschaft war periodischer Hunger der Normalzustand des Menschen. Noch nie wuchs Wohlstand allerdings so schnell wie heute: Seit wenigen Jahrzehnten entkommen etwa 100.000 Menschen täglich bitterer Armut – nicht durch Umverteilung, sondern durch wirtschaftliche Entwicklung. In absoluten Zahlen nehmen die Hungerleidenden in der Tat zu. Das liegt an einem paradoxen Phänomen, das dem Grund ähnelt, aus dem die Zahl der Krebskranken zunimmt. Letzteres gilt Ziegler als Hinweis der Vergiftung durch Konzerne, ersteres als Hinweis auf bewussten Mord an Kindern durch Spekulanten. Beides ist falsch. Im den letzten 20 Jahren ist die Lebenserwartung weltweit im Durchschnitt um fast sieben Jahre gestiegen. Einerseits werden Menschen älter. Je älter Menschen werden, desto mehr sterben an Krebs – anstatt an Gewalt, Unfällen, Infekten, Hunger. Andererseits überleben immer mehr Kinder. Es ist noch nicht so lange her, dass auch in unseren Breiten die Menschen zwölf Kinder zeugten, damit vier bis ins Alter der Eltern überleben. Je mehr Kinder überleben, desto mehr Kinder überleben hungernd. Relativ gesehen nimmt der Hunger dramatisch ab, so wie die Armut. In absoluten Zahlen aber überleben die Menschen eher als die Strukturen daran angepasst werden. Gehungert wird heute dort, wo die Politik den spontanen Strukturen der Menschen im Weg steht: In Zimbabwe und Venezuela; Länder, die Jean Ziegler einst explizit als Vorbilder angeführt hatte. Gewiss, es klingt zynisch, die wachsende Zahl hungernder Kinder als positives, erstes Symptom steigenden Wohlstands zu interpretieren. Noch zynischer aber ist die vermeintlich humanitäre Losung von Jean Ziegler: Jedes hungernde Kind sei ein Kind zu viel. Mir ist bewusst, dass dies nicht wörtlich gemeint ist, in der Konsequenz entspricht aber Zieglers Denken genau dieser Logik. Skandalisierung, Moralisierung und Politisierung aus Genf hilft diesen Kindern nicht – Hunger verschwindet nur in kurzfristigen Notsituationen durch Umverteilung, langfristig stets nur durch Entwicklung. Die „Spekulanten”, so symptomatisch diese auch für die bedauerlichen Verzerrungen der Weltwährungssysteme sein mögen, für den Hunger verantwortlich zu machen, ist Sündenbockhetze, die nichts mit der Realität zu tun hat.
Warum bleibt Jean Ziegler stur bei seinen Phrasen? Er macht einen gerissen-zynischen Eindruck. Seine Marke lebt vom Widerspruch des kleinbürgerlichen Senioren und großbürgerlichen UN-Funktionärs, der proletarisch-idealistische Losungen ausgibt, die man von pubertären Rebellen erwarten würde. Die Marke floriert. Seine Auftritte sind professionell orchestriert; stets wird er von einem Manager eines der größten kapitalistischen Verlagshäuser begleitet. Ziegler pusht die eigene Marke wie ein Turbokapitalist. Vor der Fernsehsendung besteht er noch persönlich darauf, dass sein Buch direkt in die Kamera gehalten wird. Von sich selbst sagt er, er habe sechs Millionen Franken Schulden. Was als Erwiderung auf den Vorwurf der Bereicherung gemeint war, entblößt, wie weit Ziegler der vorgeschobenen Kleinbürgerlichkeit schon entwachsen ist. Auch in der Schweiz haben Kleinbürger keinen solchen Kredit. Meine Einschätzung: Ziegler spürt die eigene Widersprüchlichkeit, kokettiert auch oft damit, doch der im Unterbewusstsein festgefressene Prädestinationsgedanke erleichtert die pragmatische Schizophrenie. Damit ist er die ideale Projektionsfläche für Kleinbürger, die mit Revolutionschic liebäugeln, aber ihre Bobo-Existenz dafür niemals eintauschen würden. Ihr schlechtes Gewissen findet ein Ventil im Wutopa Ziegler, der die Schuld stets den anderen auflädt und damit eine Art billiger Beichtvater ist: Schuldabnahme ohne Eingeständnis.
Was aber erklärt den medialen Hype um Ziegler? Wie funktioniert er? Welche Interessen stehen dahinter? Die Sendung des Privatsenders machte hinter den Kulissen die Dynamiken deutlich. Eine Entwarnung vorweg: Keine Verschwörungstheorien, sondern eine Analyse im besten Marxschen Sinne kann ich bieten.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.