In Zeiten wie diesen kann Realismus auf das Gemüt schlagen. Spricht noch etwas für Optimismus? Für das Wohlbefinden scheint er geboten, doch man kann ihn nicht einfach als Heilmittel verschreiben. Viktor Frankl stellte einst fest: „Was der Mensch wirklich will, ist letzten Endes nicht das Glücklichsein, sondern ein Grund zum Glücklichsein.“ An den nötigen Optimismus wollen wir auch glauben können.
Dass Optimismus allgemein wünschenswert sein soll, ist zumindest fragwürdig. Der Begriff kam einst eher als Spottbegriff auf. Im vermeintlichen Gegensatz zum „Meliorismus“, dem Gedanken von der Verbesserbarkeit von Mensch und Welt, geht der Optimismus der Wortherkunft nach schon von der „besten aller Welten“ aus. Die berühmteste Kritik an dieser Vorstellung kam von Voltaire. In seinem Bildungsroman „Candide“ entblößte er den Optimismus als Farce. Im bloßgestellten Pangloss, einem nutzlosen Intellektuellen, sollte der Leser deutsche Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz erkennen.
Was stört den Aufklärer Voltaire so sehr am Optimismus? Er wirft dieser Perspektive eine zynische Beschönigung empörender Verhältnisse vor. Dass die aktuelle Welt mitsamt ihren Institutionen schon die „bestmögliche“ wäre, sei die Lüge ihrer Günstlinge, die sich dadurch vor Kritik und Entmachtung schützen. Der aufgeklärte Bürger hingegen solle seine Fesseln erkennen, um sie abzuschütteln.
Gegen diesen Wutbürger ist Leibniz etwas in Schutz zu nehmen. Sein „Optimismus“ ist eine weise Antwort auf die Frage der Theodizee. Bei großen Erschütterungen durch individuelle Schicksalsschläge oder kollektive Katastrophen liegt der Zweifel nahe, ob die Welt an sich gut oder vielmehr unerträglich schlecht sei. Letzterer Schluss vergällt den Lebenswillen. Leibniz wollte verständlich machen, dass der Maßstab der Welt nicht der ungünstige Einzelumstand sein kann. Wie Murray Rothbard einst richtig bemerkte: „Leben und Vollkommenheit sind unvereinbar.“ Wenn wir uns Variationen der Welt vorstellen, die in einem Einzelumstand besser sind, wissen wir ja nicht, in welchen anderen Umständen sie dadurch notwendig schlechter sind. Eine reale Welt ist eben eine der Trade-offs, wie die Ökonomen sagen. Leben bedeutet Tod, Freiheit bedeutet Fehler. Alle Ziele haben Opportunitätskosten, so auch das Glück, von dem wir uns ohne Unglück gar keinen Begriff machen könnten. Die real existierende Welt ist insofern die bestmögliche, als nur eine unmögliche Welt eine in jeder Hinsicht für jeden Beobachter beste wäre.
Viel gefährlicher ist intellektueller Hochmut: Dieser leitet aus der Unvollkommenheit der Welt einen menschlichen Auftrag ab, andere Menschen zu verbessern. Roland Baader nannte diese Selbstermächtigung der Besserwisser „Gottspielertum“. Voltaires Kritik an den Institutionen seiner Zeit traf oft zu und noch öfter einen Nerv. Doch er beging einen typischen Fehler der kontinentalen Aufklärer: Er lenkt den Blick auf das Unglück, um eine Grundstimmung der Empörung und Schuldzuweisung zu erzeugen. Schicksalsschläge werden zu Indizien des Unrechts. Für Voltaire ist das Erdbeben von Lissabon ein willkommener Hinweis auf die Unvollkommenheit der Welt, welche die Prediger vollkommener Ideale als Heuchler überführe.
Dass das jüngste Erdbeben in der Türkei die Herrschaft Erdoğans erschüttern könnte, mag vielen ein Trost im Unglück sein. Das Erdbeben ist aber kein Akteur und kein Zeichen eines Agierens. Zwei Interpretationen stehen gegeneinander: Der Progressive sieht das Unglück als Zeichen einer Unvollkommenheit der Welt, die zur Weltverbesserung drängt. Der traditionalistische Pessimist sieht das Unglück als Zeichen einer Unvollkommenheit des Menschen, der eine gerechte Strafe erfährt. Der Optimismus in seiner ursprünglichen Bedeutung hingegen nimmt Welt und Mensch, wie sie sind. Eine bessere Welt und einen besseren Menschen hält diese Perspektive für zu unwahrscheinlich, um auf sie im Diesseits ohnmächtig zu warten oder wütend Energie auf dieses Große und Ganze zu verschwenden.
Das schafft Raum für reale Hoffnung und reale Verbesserung. Voltaire war einer der besseren Aufklärer, denn „Candide“ endet mit einer paradoxen Wendung. Das von oben dozierte Gute ist in einer dynamischen Welt nicht aufrichtig und realistisch genug, um den Glauben zu wahren. Doch Candides Gemüt schlägt allen Widrigkeiten der Welt zum Trotz nicht in Wut oder Defätismus um.
Dass in dieser Welt alles, so wie es ist, auch das von Menschen Geschaffene und Verbrochene, seine Ordnung hätte, an der nicht zu rütteln wäre, ist zu viel des Guten. Die Welt ist, wie sie ist, und immerhin eine, die uns Menschen Entscheidung und Einstellung erlaubt und nicht so völlig determiniert, dass wir uns solche Fragen gar nicht stellen müssten. Eine bessere Welt haben wir nicht. So nimmt auch Candide letztlich die Welt und seinen Platz in ihr an. Er schreitet zur einzig sinnvollen Weltverbesserung: der Verbesserung von sich selbst und jenes Teils der Welt, den er aktiv gestalten kann. Jeder soll seinen eigenen Garten kultivieren! Das ist kein Aufruf zur Subsistenzwirtschaft, sondern soll den individuellen Handlungsbereich beschreiben.
Der eigene Handlungsbereich ist nicht immer klein. Die für uns relevante soziale Umwelt, auch wenn bereits globalisiert, ist nicht überirdisch und unangreifbar. Wogegen also richtet sich der ursprüngliche Optimismus? Eric Voegelin lieferte hierzu eine Antwort: Problematisch ist die Ablehnung der Welt, wenn wir unter „Welt“ die nicht von Menschen geschaffenen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten verstehen. Gefährlich wird diese Ablehnung, wenn sie mit Schuldzuweisungen einhergeht. Wenn junge Menschen heute ihr Leid im „Spätkapitalismus“ klagen und empört zur „Weltverbesserung“ schreiten, ohne die Welt noch im Geringsten verstanden zu haben. Meist sind ihnen nur die Trade-offs und Opportunitätskosten der realen Welt verhasst. Es ist ein bequemer Hass, denn der Verweis auf eine „kaputte“ Welt lässt sie selbst besser dastehen und befreit sie von jedem Maßstab. Dagegen ist echter Optimismus geboten!
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.