Die iranische Regierung zeigt sich derzeit kooperativer bei den Atomgesprächen. Zwei Gründe sind dafür erkennbar: Erstens wurden kürzlich Hinweise auf eine Urananreicherung gefunden, die weit über zivilen Bedarf hinausgeht – in genau der Anlage, auf die Barack Obama einst einen Militärschlag angedroht hatte. Zweitens steht die Regierung auch von innen unter Druck, seit eine erneute Protestwelle das Land erfasst hat. In der Atomfrage wie innenpolitisch versucht man sich durch einen Balanceakt im Sattel zu halten. In beiden Fragen geht es um die Souveränität der Regierung, deren letzte Legitimitätsgrundlage die Souveränität des Landes ist.
Die Islamische Republik hat schon länger die Zustimmung der Mehrheit der Iraner verloren. Sanktionen und Währungsverfall machen es immer schwieriger, die Mehrheitszustimmung durch Umverteilung zu kaufen. Eine Umfrage letztes Jahr hat das schwache Fundament gezeigt: 41% wollen den Sturz der Islamischen Republik, 21% bevorzugen strukturelle Veränderungen und einen Übergang von der Islamischen Republik, während 18% die Prinzipien und Werte der Revolution bewahren wollen und nur noch 8% Reformen innerhalb der Islamischen Republik anstreben.
Alle paar Jahre erfasst eine Protestwelle das Land, und die Hoffnung auf eine grundlegendere Veränderung als den Austausch der nur begrenzt mächtigen Regierung erwacht neu. Die reale Macht im Land liegt bei den Revolutionsgarden. Unklar ist, ob sie dem Revolutionsführer Ali Chamenei gehorchen oder ihn nur als Symbolfigur nutzen. Diese paramilitärische Kraft hat sich im Laufe der Zeit zum grössten Wirtschaftskonzern des Landes entwickelt, der durch seine mafiösen Strukturen zu den Hauptprofiteuren der Sanktionen zählt. Die wirtschaftlichen Interessen haben zu einem pragmatischeren Opportunismus geführt, der wohl die wesentliche Erklärung für das lange Überleben des im In- und Ausland wenig geliebten Systems liefert.
Die Republik hat mit zahlreichen Paradoxa zu kämpfen, die auf dem Geburtsfehler der Gründungsideologie von Ali Schariati und Ruhollah Chomeini gründen: einer Mischung von Sozialismus, Antikolonialismus und schiitischem Islamismus. Nicht nur die meisten Kinder der Islamischen Revolution lehnen sie heute ab, auch viele Gründerväter und die meisten hochrangigen Geistlichen hatten sich bald mit Entsetzen abgewandt. Trotz Tugendterror grassieren Drogensucht, Prostitution und vor allem Korruption.
Im ersten Golfkrieg (1980 bis 1988) behauptete sich die junge Republik durch einen Volkssturm, was den Krieg mit 1 Mio. Toten zu einem der blutigsten der Geschichte machte. Dass eine Generation junger Männer als Kanonenfutter endete, schuf ein weiteres Paradoxon: Bildungsstand und gesellschaftliche Bedeutung der Frauen sind im Iran für ein islamistisch regiertes Land überraschend hoch, wohl weil diese eine Lücke zu füllen hatten. Die eher der Vergangenheit zugewandte Scharia konnte dies nicht ausreichend würdigen. So begann ein unbemerkter kalter Bürgerkrieg, der in den jüngsten Protesten nur sichtbar gemacht hat, was schon lange schwelte.
Ob bewusst oder unbewusst – die iranischen Frauen sind in einen Gebärstreik getreten. Innerhalb einer Generation hat sich der Iran vom «übervölkerten» Entwicklungsland, in dem die islamistische Regierung Geburtenkontrolle forcierte, zur demografischen Katastrophe gewandelt. Die jüngste Androhung der Todesstrafe für Abtreibungen zeigt die Verzweiflung. Eine Korrelation zwischen hoher Bildung und geringer Fertilität gilt auch im Iran, was islamistische Schuldzuweisungen auf schlechten westlichen Einfluss verstärkt. Die aktuellen Giftgasattacken auf Mädchenschulen könnten eine weitere Eskalationsstufe in diesem Gesellschaftskonflikt darstellen. Wahrscheinlich stehen dahinter radikale Kreise ausserhalb der offiziellen Regierung, denen die bisherige Reaktion auf die weiblichen Freiheitsforderungen zu sanft scheint. Kurz davor hatte Scharfmacher Ahmad Alamolhoda aufgefordert, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen.
Die derzeitige Bedrängnis der Regierung ist besonders gross. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten liegen primär an der durch die eigene Misswirtschaft zerrütteten Struktur und werden durch die Sanktionen nur verschärft. Der letzte Anlass für Proteste berührt aber mehr als die Misere einer frustrierten Jugend und den demografischen Bürgerkrieg zwischen weiblicher Selbstbestimmung und islamistischer Identitäts- und Bevölkerungspolitik. Nicht nur jung und weiblich, sondern auch kurdisch war Mahsa Amini, das Opfer der Moralpolizei.
Der Iran ist ein Vielvölkerstaat mit dominanter persischer Identität. Dieses Spannungsverhältnis ist im Iran eigentlich verhältnismässig gut aufgelöst, durch die Identitätsgeschichte, die vom Gegensatz zu mehrheitlich sunnitischen Arabern lebt, aber auch im modernen System der Islamischen Republik. Die Betonung des Schiitentums, der relative Erfolg der grössten Minderheit der Aseri, die lange Tradition persischer Schriftsprache und der wachsende Gegensatz zu Teilethnien jenseits der Grenzen hielten den Iran bislang zusammen. Doch das wackeligste Glied sind neben einer sunnitischen Minderheit, um die sich Salafisten bemühen, eben die Kurden, deren neu gewonnene politische Bedeutung im Irak hinüberstrahlt.
Bislang gab es jedoch kaum Bewaffnung oder Finanzierung von aussen. Die einst kampfstärksten inneren Gegner, die Volksmudschahedin, sind heute bedeutungslos. Sie krankten an derselben Vermengung von Islamismus und Sozialismus: Die ideologisch nächsten Gegner sind immer die schärfsten. Der Wandel zu einer prowestlichen säkularen Oppositionskraft ist zu konträr, um glaubwürdig zu sein, auch wenn die Reste dieser sektenartigen Gruppe mit amerikanischer Hilfe aus dem Irak auf ein geschlossenes Gelände in Albanien übersiedelt wurden. Das Ausbleiben von bewaffneter Opposition hat bislang einen offenen Bürgerkrieg verhindert, was sein Gutes hat, aber auch einen Mangel an Alternativen zu den Institutionen der Islamischen Republik aufzeigt.
Entgegen der Revolutionsromantik kommen Umstürze, auch oder gerade in totalitären Regimen, selten aus der Masse. Am plausibelsten ist ein Militärputsch, also der Aufstand regulärer Einheiten gegen irreguläre. Dieses Szenario hat die Republik natürlich im Auge, was die jüngste Zunahme politischer Ämter für Militärs erklärt. Im Einsatz gegen die eigene Bevölkerung ist man auch besonders zurückhaltend bei regulären Einheiten; dafür sind die Paramilitärs der Revolutionsgarden und Basidsch vorgesehen. Letztere ist eine Miliz, die ihren Ursprung im Volkssturm der Kriegszeit hat und «Mobilisierung der Unterdrückten» heisst. Der Iran ist zwar selbst aktive Partei in mehreren Stellvertreterkriegen, hat es bislang aber geschafft, eine Heimatfront zu vermeiden
Umstürze gelingen eher, wenn die zweite Reihe oder Teile eines alten Regimes eine Gelegenheit beim Schopf packen, die erste Reihe loszuwerden. Über die internen Machtkämpfe im Iran kann man nur mutmassen. Jedenfalls hat die Islamische Republik niemals völligen zentralisierten Totalitarismus erreicht, sondern wies stets ein konfliktgeladenes Innenleben auf. Der institutionelle Kern schreckt auch vor Massenmord an internen Gegnern und Anschlägen im Ausland nicht zurück, hat mit der Zeit aber zu einer etwas weniger blutigen Taktik von Ausgleich, Hausarresten, Reformventilen und Auswahlprozessen gefunden. Erst die Nachfolgefrage um den greisen Chamenei könnte den Gegensatz der inneren Kräfte und damit Alternativen zur Islamischen Republik wieder sichtbarer machen.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.