Einige Tage lang schlugen europäische Börsen die amerikanischen – und das kurz nach Trumps Regierungsantritt. Was nach der lange ersehnten Jubelmeldung für Europäer klingt, ist ein weiteres Zeichen für den wirtschaftlichen Niedergang der EU. Der Kursrutsch der amerikanischen Technologie- und Energieaktien reagiert auf eine überraschende Kehrtwende im knappen Wettbewerb gegen China. Bislang galten die großen KI-Sprachmodelle (LLM) als eines der wenigen Gebiete, auf denen amerikanische Unternehmen chinesische noch durch Vorsprünge bei Halbleitertechnik abhängen. Der Achtungserfolg von Deepseek, in so kurzer Zeit nahezu an die kognitiven Fertigkeiten von ChatGPT 01 heranzukommen, dabei aber in Sachen Energie- und Halbleitereffizienz einen deutlichen Vorsprung herauszuholen, löste daher eine Schockwelle aus.
Chinesische Ingenieure haben immer wieder bewiesen, dass sie Weltmeister im raschen Nachahmen von Innovationen sind. Dennoch überrascht die Geschwindigkeit und gute Integration in bestehende chinesische Halbleitertechnik und verweist auf nicht zu unterschätzenden Erfindergeist. Dass die europäischen Börsen von dieser Schockwelle relativ unbeeindruckt blieben, zeigt nur, wie wenig relevant die EU heute für die Zivilisationstreiber Technologie und Energie ist.
Dieser weitere Siegeszug Chinas ist allerdings keine Jubelmeldung für Freiheitsfreunde. Die scharfe Reaktion in Richtung mehr Zentralismus, die in China unter Xi Jinping eingeschlagen wurde, hätte eigentlich den Fortschritt bremsen sollen. Überschätzen wir die Rolle der Freiheit für die Innovation?
In Europa haben wir uns lange eingebildet, gerade die Freiheit für Dissidenten würde Innovationskraft nähren. Sollte in dieser Hinsicht China nicht deutlich abgeschlagen sein? Immerhin zensiert Deepseek offensichtlich das weltbekannte Dissidenten-Mem des Individuums gegen die Panzer am Platz des Himmlischen Friedens.
Wenn wir die Zensur von Deepseek und OpenAI vergleichen, fällt auf, dass Letzteres natürlich nicht zensurfrei ist. Chinesische Zensur hat den Vorteil absoluter Berechenbarkeit, während westliche Zensur einer Mischung aus neopuritanischer Ersatzreligion („woke“) und idealistischem Etatismus folgt. Chinesischer Etatismus ist weit weniger idealistisch und ideologisch. Dennoch zeigen einige Beispielfragen, dass Deepseek ideologisch relativ nahe an westlichen Sprachmodellen antwortet. Das mag ein Hinweis auf das große Ausmaß an Imitation sein, vor allem aber zeigt es die grundlegende Beschränkung von Sprachmodellen: durch die Trainingsdaten, die eine natürliche Neigung in Richtung Zeitgeist aufweisen.
Dissens ist vor allem dann eine Triebkraft der Innovation, wenn er praktisch ist, wenn er im Beschreiten neuer Wege und Andenken neuer Möglichkeiten besteht. In China ist im Bereich, der der Partei genehm ist, der unternehmerische Freiraum noch immer deutlich größer als in der EU. Die Partei macht beim Abstecken dieses genehmen Raums gewiss Fehler, doch solange der chinesische Etatismus den wenig idealistischen Realitätsbezug technischer und damit militärischer Kompetenz behält, bewahrt jener auch vor allzu weiten Fehlgriffen.
In der EU hat sich Dissens hingegen in eine absurde Richtung weg von der Realität entwickelt. Heute halten sich die größten Mitläufer für „kritisch“. Wie Demokratie und Rechtsstaat sind Kritik und Dissens zu leeren Floskeln für Geltungstugend verkommen und in ihr Gegenteil verkehrt worden. „Rechtsstaat“ bedeutet in Deutschland heute, dass Terroristen ein „Recht“ haben, von ihren Opfern mittels Steuern versorgt zu werden, während es „Unrecht“ ist, Politikkriminelle als Schwachköpfe zu bezeichnen. Dissens ist kein mutiger Akt mehr, sondern Geltungssucht: die Gier nach dem Status der Dissidenten. Letzterer wird durch „kritische“ Ablehnung der eigenen Herkunft und Geschichte billig erworben, aber auch durch leichtfertiges Relativieren der Naziverbrechen mittels Etikettenmissbrauchs. Dieser Pseudodissens hat mit Innovation oder Erfindergeist gar nichts zu tun, er wirft nicht neue – verrückte – Ideen auf, sondern schmäht jeden wirklich kritischen Gedanken.
Europäischer Erfindergeist besteht gewiss als kulturelles Erbe weiter, und Mut und Lust zu kritischer Debatte sind noch typisch für die besten Europäer. Doch dieser Geist wirkt immer öfter eher in der Diaspora an dynamischeren Orten, die oft vermeintlich „autoritär“ sind, wie in Dubai und Singapur oder – vor der chinesischen Reaktion – in Hongkong und Shanghai. Dabei zieht nicht das Autoritäre die Innovation an, sondern erlaubt die Reduktion des Politikspektakels, sich auf Wesentlicheres zu konzentrieren und den Erfindergeist nicht für mediale Aufmerksamkeit und Wahlkämpfe zu verschwenden. Dieses Spektakel ist heute vor allem Bühne für die Geltungstugend der Pseudodissidenten, denen Mut, Erfindergeist und Geschick für wirklich neue, für das Leben relevante Ideen fehlen und die daher bloß mit großen Worten „kritisch“ sind. Sie werden geradezu archetypisch durch jene Journalisten charakterisiert, die nach Karl Kraus „keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können“ oder „nachher alles vorher gewusst haben“.
Auch in den USA sind der Erfindergeist und die Innovationskraft der Pioniere gebrochen durch Gedankenviren und Bullshit-Jobs, die viele im Hamsterrad nicht wertschöpfender Berufe halten. So grenzt es an ein Wunder, dass Sprachmodelle im steigenden Wettbewerb solche Sprünge künstlicher Intelligenz bedeutet haben, bis hin zum letzten „deflationären Schock“.
Die ökonomische Begriffsverwirrung lenkt davon ab, dass solche Vergünstigung – trotz manch gefallener Aktienkurse – rasche Wohlstandsmehrung bedeutet. Das Wunder ist die Eigenmächtigkeit der technischen Entwicklung, die heute digital über den Erdball huscht und mehr der Imitationsfähigkeit als der Kreativität der Vielen bedarf, solange es noch irgendwo auf der Welt die Wenigen gibt, die als praktische Dissidenten wirken, ohne dass sie „Kritiker“ und „Faktenchecker“ daran hindern können.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.