Der geschätzte Leser befindet sich hier auf einer vergleichsweise statischen Seite, im Gegensatz zu den vielbesuchten „dynamischen” Seiten. Wer viel „Traffic” möchte, also Aufmerksamkeit, muss diese heute durch hochfrequente „Dynamik” erzielen: Das befeuert die heutige Informationsinflation, die oft nicht einmal das ist – vielmehr finden wir uns inmitten allgegenwärtiger Meinungsinflation. Diesen Umstand kritisch anzumerken, stellt den Kritiker – zu Recht – in den Verdacht, anti-aufklärerische Motive zu hegen. Sowohl die etablierten Massenmedien als auch die alternativen Medien suchen ihre Legitimität und Daseinsberechtigung in der selben Grundidee, die oft mit der Aufklärung verbunden wird. Eine Demokratie bedürfe der Medien als „vierte Gewalt”, die den Staatsbürger durch Information vor seiner Hintergehung, Ausbeutung und Verknechtung zu schützen habe. Das klingt sehr schön und plausibel, hängt aber am konkreten Inhalt der großen Worte: Demokratie, Aufklärung, Information. Wer definiert denn ihre Bedeutung?
Der große Denker Karl Jaspers liefert eine Definition, die Demokratie, Aufklärung und Information so definiert, dass die obige Behauptung wirklich sinnvoll zu werden scheint. Ihm schwebt ein Ideal von Demokratie und Volksbildung vor, dem auch viele liberale Denker anhingen:
Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozeß der Aufklärung.
Diese Definition ist prägnant und stimmig. Sie hat nur den Haken, dass sie die drei großen Begriffe jeweils wechselseitig durch einander definiert – also streng genommen eine Tautologie darstellt. Die Definition ist selbstreferenziell und lässt die Maßstäbe völlig offen, die sie eigentlich liefern sollte. Denn ein Ideal bedarf eines Maßstabs, bzw. entspricht einem Maßstab – sonst kann es nicht der Orientierung dienen. Diese Problematik wird heute offensichtlich, wenn der Streit um die „fake news” eskaliert. Wer definiert, was die falsche Information ist, was anti-aufklärerische „Hetze” ist und was aufklärerische „Hintergrundinformation”? Wer sind die Erziehungsberechtigten, die Selbsterziehung von fremder Verziehung oder eigener Rationalisierung der Unerzogenheit unterscheiden können und dürfen?
Dieses Problem der Jaspers’schen Definition (wiewohl sie einer der klügsten Formulierungen zur Definitionsfrage darstellt) wird noch verstärkt durch einen zweiten Haken. Jaspers’ Grundthese und wesentliche Rationalisierung des Medienbetriebs lautet wie folgt: Man müsse den Menschen nur genug Informationen zur Verfügung stellen, dann würden sie lernen und richtigere Entscheidungen treffen. Diese Grundthese wurde durch den deutschen Psychologen Gerd Gigerenzer überzeugend widerlegt. Er kommt zum konträren Schluss:
Bei Entscheidungen unter Ungewissheit muss man Informationen ignorieren, um gute Voraussagen zu treffen.
Er bezieht sich dabei auf die gängige Unterscheidung Frank Knights zwischen messbarem Risiko und nicht messbarer Ungewissheit. Gigerenzer betont den Wert von Heuristiken (Daumenregeln), die er formal folgendermaßen definiert:
Eine schnelle und sparsame Heuristik ist eine bewusste oder unbewusste Strategie, die nach der minimalen Information sucht und aus Bausteinen besteht, die entwickelte Kapazitäten und Umweltstrukturen ausnutzen.
Diese Art Daumenregeln seien oftmals komplexeren Vorgehensweisen überlegen, sowohl in der Schnelligkeit ihrer Anwendung, im Ressourceneinsatz (z.B. Informationsgewinnung) als auch im Ergebnis selbst. Mehr Information bedeutet vielfach nicht automatisch eine bessere Vorhersage. Gigerenzer zeigt, dass einfachere, intuitivere Einschätzungen oft zu besseren Urteilen führen.
Bezogen auf Jaspers’ aufklärerisches Argument hieße das, dass ein höherer Informationsstand der Bevölkerung nicht zwingend bessere Urteile hervorbringt. Nachrichten müssen also gar nicht „fake” sein, nicht Lügen oder Lücken enthalten, um die Weisheit ihrer Adressaten zu reduzieren und damit eine anti-aufklärerische Wirkung zu entfalten. Die Dynamik des Schlagzeilenregens könnte allein aufgrund der Quantität, nicht bloß aufgrund niedriger Qualität, zu Ohnmacht führen und die Entscheidungskompetenz und damit Verantwortungsfähigkeit der Menschen verringern. Die Folge wäre eben die erwähnte „Meinungsblase”, das wachsende Auseinanderklaffen zwischen quantitativer Frequenz und Menge der Information und ihrem konkreten Nutzen.
Jaspers hatte wohl kaum dieses Szenario vor Augen, als er von mehr Information und Aufklärung schrieb. Aber er wandelt eben auf einem schmalen Grat, von dem man nur allzu leicht in den Abgrund der Propaganda als Selbstzweck kippen kann. Propaganda war ein ursprünglich neutraler Begriff, der die skalierte (d.h. über Massenkanäle laufende) Verbreitung von Information (ebenso wertneutral verstanden) bezeichnete. Dann beansprucht die Verbreitung schlechthin für sich Legitimation und Prestige, ohne weiteren Maßstäben zu entsprechen. So schwingen sich dann die Nachrichtenverbreiter, die Propagandisten im ursprünglichen Wortsinn, zu den Bestimmern, Hütern und Wahrern der Maßstäbe von Information und damit von Demokratie und Aufklärung auf – selbstermächtigte Erziehungsberechtigte nehmen den Menschen im Namen der Demokratie die Selbsterziehung ab.
Dieser Grundspannung kann aber Demokratie, egal in welchem Sinne, kaum auskommen. Sie ist ein Ideal und als solches genügen ihr nur wenige, sie postuliert aber Massen und Mehrheiten. Dieses Problem wird bei Jaspers noch deutlicher, wenn wir seine ergänzende Erklärung berücksichtigen, in deren Kontext die obige Definition steht. Sein Demokratieverständnis ist eigentlich aristokratisch:
Der Wille der echten Demokratie, in der sich die republikanische Verfassung der Freiheit konstituiert, würde sich zuerst an die Besten, die Denkenden, die Urteilsfähigsten, die Sehenden, in der Tat an eine Minorität wenden, aber an eine solche, die die politische Aristokratie im Wortsinn, nicht im Sinne von Geburt und Herkunft, wäre. Demokratie ist ihrem Sinn nach zugleich aristokratisch. Von dieser sich ständig erneuernden Aristokratie geht der Einfluß auf die Umgebung, beginnend in den kleinsten Kreisen, schließlich auf die gesamte Bevölkerung.
Das relativiert zwar das Problem der Tautologie, indem damit das Vorhandensein von Maßstäben angesprochen wird, ohne diese allerdings allzu konkret zu benennen: Gut, denkend, urteilsfähig, sehend – wer möchte diese Adjektive nicht für sich in Anspruch nehmen? Zugleich potenziert dieser Kontext das andere Problem – wer bewacht die Wächter, wer informiert über die Informanten, welche Gewalt schützt vor der vierten? Damit verbunden ist das grundlegende Problem der Wirkmächtigkeit von Information: Schützen vor Schlagzeilen „alternative” Schlagzeilen in immer höherer Schlagzahl? Bräuchte es eine nicht-propagandistische oder gar anti-propagandistische Aufklärung, die zu den Heuristiken des Hausverstands, die den Propagandisten – durchaus oft zu Recht – nicht geheuer sind, durchdringt?
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.