Für Individualisten ist es schwer nachvollziehbar, wenn sich Menschen dafür massakrieren lassen, dass über öffentlichen Gebäuden die richtige Flagge weht. Krieg erscheint dann als schlimmste Folge des Staates und Anarchismus als einzig taugliches Friedensrezept. Diese Perspektive hat ihre Berechtigung, aber sie führt weg vom Verständnis für unsere Mitmenschen und droht, bloß Gegenidentität zu sein.
Tatsächlich ist der Staat eher eine Folge des Krieges als der Krieg eine Folge des Staates. Natürlich wären Kriege ohne die zentralstaatliche Kontrolle gesellschaftlicher Ressourcen, insbesondere des Geldes, klein und beschränkt. Doch auch die Identitäten wären kleiner und beschränkter und damit würden weit mehr fremde Identitäten aufeinanderstoßen und sich in häufigen kleinen Konflikten reiben.
Eine solche Welt male auch ich mir letztlich besser aus, weil die zentral organisierte Menschenzucht und Massenvernichtung so abstoßend sind. Doch muss ich mich der menschlichen Natur zumindest so weit beugen, mit einiger Empathie die Kraft großer und nach Größe drängender Identitäten anzuerkennen. Identitäten sind immerhin Verbindungspunkte zwischen Menschen, auch wenn sie nach außen hin spalten.
Auch „libertär“ ist eine Identität, die unter Gleichgesinnten Verbindung schafft, Freundschaften und Vertrauen stiftet. Ist der Individualist, der dem Tyrannen oder dem Kollektiv die Stirn bietet, heldenhafter, wenn er dies für seine individualistische Identität oder seinen Eigennutzen tut? Max Stirner wies zu Recht auf die Widersprüchlichkeit eines Individualismus als „Sache“, als Gruppenidentität hin. Doch auch diese Negation enthält einen unangenehmen Widerspruch. Der Widerstand nutzt dem Einzelnen nur selten, zumindest äußerliches Mitläufertum ist nützlicher.
Der Nationalstaat ist auch deshalb ein Erfolgsrezept, weil er das Ergebnis künstlicher Identitätsskalierung ist. Nationen sind Vertrauensräume, die durch Sprache, Geld, Geschichte, Lehrpläne und Symbole verbunden sind. All dieser Verbindungskitt ist künstlich und von außen betrachtet abstoßend. Fiat ist der passende Begriff; es handelt sich um politische Konstruktionen, die stets schiefe Strukturen der Begünstigung und Benachteiligung nach sich ziehen. Die Funktionalität ist jedoch anzuerkennen, denn die Verbindung erleichtert Kooperation und schafft damit oft die Grundlage für Wirtschaftsblüten.
Der Preis dieses künstlich erzeugten Vertrauens ist hoch. Das hochskalierte Mitläufertum ermöglicht zerstörerische Zwecke, bis hin zum industrialisierten Krieg, der die Hölle auf Erden schafft. Auch ohne Krieg wütet stille und sanfte Zerstörung: Ein wachsender Teil der durch die Kooperation geschaffenen Produktivität wird abgezweigt für Identitätsnahrung und Identitätsparasiten. Die Fiat-Identitäten verschlingen enorme Mittel und legitimieren diese Mittelverwendung; das schafft institutionalisierte Bürokratien mit viel Spielraum für Nutznießer, die diese Legitimität als eigenen Vorteil konsumieren.
Einige europäische Staaten sind stolz darauf, dass ihre Identitäten möglichst wenig ethnischen, religiösen oder kulturellen Inhalt haben. Ihre Identitäten sind abstrakt und formbarer. Es bleibt als identitäre Essenz solcher Staaten der reine Etatismus übrig. Das ist der Grund, warum Deutschland deutschen Individualisten extrem kollektivistisch erscheint, während es nichtdeutschen kollektivistischen Kulturen als Inbegriff des Individualismus gilt – natürlich in beiden Fällen abwertend gemeint. Die abstrakt-etatistischen Identitäten europäischer Staaten, insbesondere des deutschen, lassen eben relativ viel identitären Spielraum. Doch der klinisch reine Etatismus ist damit auch weniger angreifbar und unbeschränkter, er löst sogar Familienbande auf.
Zugleich ist der Anteil an Deutschen, die ihr Leben für den deutschen Staat riskieren würden, im internationalen Vergleich minimal. Der Staat, der nur materielle Interessen und nicht Identitätsbedürfnisse nährt, kann nur auf wenig Loyalität zählen. Das wird dem Individualisten eher günstig scheinen. Doch bei allem Übel des deutschen Staates mit seiner (Ab-) Gründlichkeit gibt es leider schlechtere Regime. Während auch bei uns die Übergriffigkeit zur Überwachung von Gesundheit, Finanzen und Lebensführung eine neue Dimension erreicht hat, weisen China und Russland zurück in überwunden geglaubten Totalitarismus.
Auch für den risikofreudigen digitalen Nomaden, dessen Individualismus zur Lösung aller Bindungen in höchstmöglicher Mobilität geführt hat, entziehen sich immer größere Teile der Welt dem unbeschwerten Aufenthalt. Ein China-Besuch ist de facto nicht mehr möglich, weil der Null-Covid-Totalitarismus dazu führt, dass Besucher jederzeit wegen falscher Testergebnisse unter schlimmsten Verhältnissen eingesperrt und gefoltert werden können (man lese den dramatischen Erlebnisbericht des bislang erfolgreich in China tätigen Unternehmers Carl Setzer). Die Drangsalierung von Russen, um das Regime zu treffen, wird wohl auch bald Russland für westliche Besucher praktisch unzugänglich machen.
In einer Welt geringerer Mobilität wird Identität an Bedeutung gewinnen. Zugleich gewinnt Mobilität an Bedeutung für die Minderheit, die sich identitärem Gruppendruck entziehen will. Womöglich spaltet sich gerade die Welt, und es endet die Zeit des ungeteilten Internets, der Reisefreiheit sowie der Weltsprache und Weltwährung.
Identitäten sind natürlich und die Spaltungen unvermeidbar, denn das „Wir“ braucht stets den anderen als Kontrast. Das Problem liegt in der territorialen Verankerung von Identitäten, denn Exklusivansprüche sind Nullsummenspiele. Eiserne Vorhänge in den Köpfen werden durch die Welt gezogen und führen zum Säuberungsdruck auf beiden Seiten. Auch wenn die chinesisch-russische Seite mit großer Wahrscheinlichkeit die üblere sein wird, zwingt uns geopolitische Territorialität ein falsches totalitäres Dilemma auf. Der Freiheitsdrang wird uns zur Loslösung von Orten drängen, während die Überlebenserfordernisse uns stärker an Orte binden.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.