Wer die Migrationsströme unserer Tage in den Nahen Osten zurückverfolgt, sieht dort als Ursache einen Scherbenhaufen. Drei ehemals stabile Staaten sind, kurz nacheinander, so instabil geworden, dass ihre Grenzen in Auflösung begriffen sind: Irak, Libyen und Syrien. Weder Stabilität tyrannischer Regime, noch Grenzen sind ein Selbstzweck. Doch von alleine sind sie nicht gefallen, ihrem Fall wurde kräftig nachgeholfen. Die Folgen nun scheinen schlimmer als die Folterkeller von Assad, Gaddafi und Saddam Hussein, und das ist bitter. Der Schluss scheint klar: Der Scherbenhaufen im Nahen Osten ist die Folge der Interventionen seitens der USA und ihren Alliierten. Unklar ist hingegen, ob diese Folge Absicht oder Versehen ist. Von Absicht auszugehen, wäre das, was man heute Verschwörungstheorie nennt. Dabei handelt es sich um die Annahme, dass es geheime Pläne gäbe, die den vorgegebenen Zielen und Prinzipien so diametral widersprechen, dass die vermeintliche Inkompetenz tatsächlich höchste Kompetenz wäre – allerdings eine Kompetenz im Dienste sinistrer Ambitionen.
Im Dilemma Inkompetenz in den Ergebnissen nicht von diabolischer Kompetenz unterscheiden zu können, neige ich eher der Inkompetenz zu, denn diese ist viel häufiger und reichlicher vorhanden. In einem geflügelten Wort, das auf den Science-Fiction-Autor Robert Heinlein zurückgeht, steckt viel Weisheit:
Never attribute to malice that which can be adequately explained by stupidity.
[Schreibe nichts böser Absicht zu, das genauso gut durch Dummheit erklärt werden kann.]
Eine ähnliche Empfehlung stammt von Sir Bernard Ingham, dem Pressesprecher von Margaret Thatcher:
Many journalists have fallen for the conspiracy theory of government. I do assure you that they would produce more accurate work if they adhered to the cock-up theory.
[Viele Journalisten sind zu Anhängern der Theorie geworden, hinter der Politik stünde eine Verschwörung. Ich versichere Ihnen, dass sie näher an der Wahrheit arbeiten würden, wenn sie der Theorie anhingen, hinter der Politik stünde Totalversagen.]
Es fällt in der aktuellen Lage allerdings schwer zu glauben, dass die politischen und militärischen Stäbe so viel Inkompetenz an den Tag legen könnten. Könnten diabolische, zynische Ziele die Kompetenz erhöhen? Gewiss, Naivität und Inkompetenz gehen oft Hand in Hand. Gleichzeitig könnte Rücksichtslosigkeit die Kompetenz erhöhen, wenn wir darunter ganz wertfrei die Fähigkeit verstehen, Ziele zu erreichen – und das Gehen über Leichen als mögliches Mittel. Doch führt die rücksichtslose Kompetenz in aller Regel zur Selbstüberschätzung, die meist direkt in die Inkompetenz ausrutschen lässt.
Aus dem Dilemma zwischen unglaublicher Inkompetenz und noch unglaublicherer Verschwörung führt allerdings eine dritte Möglichkeit, die gemeinhin übersehen wird. Der Universalgelehrte Eric Voegelin, den ich für einen der wichtigsten Politikwissenschaftler des alten Wiens halte, erkannte diese dritte Option in der Politik. Er geht von einer Kompetenz aus, die nicht an der Realität ausgerichtet ist, und dadurch in Inkompetenz umschlägt. Diese In-Kompetenz – um eine Schreibweise für diese dritte Option vorzuschlagen – ist hochintelligent, strebsam, organisiert. Voegelin erklärt die Realitätsentfremdung durch ideologische Scheuklappen, wobei die Ideologien allerdings nicht bloß Denkweisen und Lager darstellen, sondern Ersatzreligionen. Die modernen westlichen Gesellschaften seien nicht so säkular, wie sie glauben, sondern vielmehr tiefgläubig. Die modernen Ersatzreligionen nennt Voegelin gnostisch, um die Kontinuität zu alten christlichen Häresien anzudeuten. Diese Ideologien seien nämlich allesamt auf irdische Erlösung aus.
Auch die klügste, fleißigste, zielstrebigste Unternehmung kann auf der Grundlage falscher Annahmen über die Wirklichkeit nur scheitern. Die mangelnde Qualität der Politik ist also keinesfalls bloß die Folge einer mangelnden Qualität des politischen Personals. Die Interventionsspiralen, die schon Ludwig von Mises erkannte und analysierte, sind nicht bloß auf Dummheit und Versagen zurückzuführen. Es handelt sich um Spiralen der Selbstwidersprüchlichkeit, in die sich realitätsfremdes Handeln immer weiter einschraubt.
Doch ist Realitätsferne nicht ein anderes Wort für Dummheit? Ganz im Gegenteil. Die Abstraktion von der konkreten, sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit setzt Intelligenz voraus. Entsprechend erfordern die wirklich großen Dummheiten hohe Intelligenz, sie sind Fehlkonstruktionen, nicht einfache Patzer. Darum gilt als die höchste Tugend nicht die Intelligenz, sondern prudentia oder sophia, die Klugheit oder Weisheit, die keine Funktion der Intelligenz ist. Menschen mit niedrigerem IQ sind oft weiser als Menschen mit höherem. Klugheit in diesem eigentlichen Sinne hat nichts mit dem zu tun, was das Englische Cleverness nennt (am ehesten als Schlauheit zu übersetzen). Prudentia und sophia bezeichnen beide einen Realitätssinn, der freilich nicht bloß auf die unmittelbar sinnlich erfassbare Realität beschränkt ist.
Die geopolitischen Kalküle sind oft gerissen, gewieft, schlau, selten aber sind sie weise. Das liegt vor allem daran, dass ihre Urheber die langfristigen Kosten nicht in dem Ausmaß persönlich zu tragen haben, wie sie den kurzfristigen Nutzen für sich nützen können. Voegelin hält die ideologisch geblendete Realitätsferne letztlich für selbstzerstörerisch, darum handelt es sich eben trotz aller Schlauheit und Durchsetzungskompetenz doch nur um In-Kompetenz. Eine Folge dieser In-Kompetenz ist das kompetente Erzeugen von Machtvakua, die immer weitere Interventionen nach sich ziehen. So führt eine Politik der Weltbefriedung zu immerwährendem Krieg. Eric Voegelin analysiert die Geopolitik des letzten Jahrhunderts und würde wohl – wenn er noch am Leben wäre – auch die Entwicklungen des aktuellen Jahrhunderts der Realitätsferne „gnostischer Politiker” zuschreiben:
Die Analyse muß sich auf jenes Symptom konzentrieren, das den selbstzerstörerischen Charakter gnostischer Politik am besten veranschaulicht, nämlich auf die Seltsamkeit des dauernden Kriegszustandes zu einer Zeit, in der jede politische Gesellschaft durch ihre Repräsentanten ihren brennenden Wunsch nach Frieden bekundet. In einer Zeit, in der Krieg Frieden und Frieden Krieg ist, dürften einige Definitionen angebracht sein, um die Bedeutung dieser Ausdrücke klarzustellen. Friede soll eine zeitweilige Ordnung sozialer Beziehungen bedeuten, die adäquat ein Gleichgewicht existentieller Kräfte zum Ausdruck bringt. […] Krieg soll bedeuten die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Wiederherstellung eines Gleichgewichts, entweder durch Unterdrückung der störenden Zunahme existentieller Kräfte oder durch eine Neuordnung sozialer Beziehungen, die adäquat das neue Kräfteverhältnis der existentiellen Mächte zum Ausdruck bringt. Politik soll den Versuch bedeuten, das Gleichgewicht der Kräfte herzustellen oder die Ordnung anzupassen durch diplomatische Methoden oder durch den Aufbau abschreckender Gegenkräfte bis an den Rand des Krieges. […] Die gnostische Politik ist insofern selbstzerstörend, als Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, den Frieden herzustellen, die Störungen, die zum Krieg führen, noch steigern. […] Wenn ein Krieg überhaupt einen Zweck hat, so ist es die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts und nicht die Verschlimmerung der Störungen; die Verminderung des störenden Kraftübermaßes, nicht die Zerstörung von Kraft bis zu dem Punkt, der ein neues gleichgewichtstörendes Machtvakuum entstehen läßt. Die gnostischen Politiker haben jedoch die Sowjetarmee an die Elbe gebracht, China den Kommunisten ausgeliefert, zur gleichen Zeit Deutschland und Japan demilitarisiert und obendrein die amerikanische Armee demobilisiert. Das sind abgedroschene Wahrheiten, und doch ist es vielleicht nicht genügend klar, daß nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine Weltmacht ihren Sieg dazu benützt hat, ein Machtvakuum zu ihrem eigenen Nachteil zu schaffen. Wiederum muß wie bei früheren Gelegenheiten darauf hingewiesen werden, daß Phänomene dieser Größenordnung sich nicht durch Ignoranz und Dummheit erklären lassen. Diese Politik wurde als Sache eines Prinzips verfolgt, auf Grund gnostischer Traumannahmen betreffend die menschliche Natur im allgemeinen, betreffend die mysteriöse Entwicklung der Menschheit zu einem Zustand des Friedens und der Weltordnung, betreffend die Möglichkeit der Errichtung einer internationalen Ordnung im luftleeren Raum ohne Beziehung zur Struktur des existentiellen Kraftfeldes, und schließlich betreffend Armeen, die anstelle der Kräfte und Konstellationen, welche die Armeen aufbauen und in Bewegung setzen, als Kriegsursache angesehen werden.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.