Die Schlagzeilen deuten wieder einmal auf einen beschleunigten Untergang des Abendlandes. Der Historiker sieht erschreckende Parallelen zu verflossenen Zivilisationen. Doch, ganz nüchtern betrachtet, muss der Historiker auch die Parallelen der Untergangswahrnehmung anerkennen, die das Abendland schon seit überraschend langer Zeit begleiten. Wahrgenommene Untergänge spielen sich in Jahrhunderten ab und können – was das eigentlich Verblüffende ist – parallel zu zivilisatorischen Aufstiegen verlaufen. Der Untergang ist gewissermaßen das Markenzeichen einer Zivilisation, wie Jerzy Jedlicki zu denken gibt:
Es hat wohl seit dem 16., ganz bestimmt aber seit Ende des 17. Jahrhunderts keine Epoche in der europäischen Geschichte gegeben, die ihre Zeitgenossen – und nicht erst die Historiker – nicht als Epoche der Krise, der fundamentalen Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung und der moralischen Werte gesehen hätten. Man kann sagen, daß die permanente Krise der Aggregatzustand der neuzeitlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist, die niemals einen Zustand des Gleichgewichts oder der Stabilisierung ihrer Institutionen, Theorien und Praktiken erreicht.
Krise muss kein negatives Symptom sein, schließlich ist die Grundbedeutung ja bloß „Scheideweg”. Dennoch ist aktuell eine apokalyptische Verdichtung der Krisenwahrnehmung zu beobachten. Zwar sind Untergänge und ihre Wahrnehmungen langfristige Prozesse, doch sowohl Geschichte als auch Psychologie verlaufen selten gleichmäßig: Mal gehen Entwicklungen schleichend, mal sprunghaft von statten. Und die Zukunftssorge springt uns gerade ziemlich heftig an, sie springt aus unseren digitalen Fenstern und legt sich schwer um unseren Hals. Wütend und ängstlich schnappen wir nach Luft und stoßen beim gehetzten Ausatmen schnell noch ein paar Invektive aus gegen die dunklen Wolken vor dem Fenster. Unabhängig von der politischen Einstellung greift die Erwartungshaltung um sich, dass es unsere Kinder und Enkelkinder einmal schwerer haben werden als wir selbst. Dieser Erwartungsumschwung ist einer der deutlichsten historischen Indikatoren für verdichtete Untergangsstimmung.
Doch was soll man nun tun? Die Psychologie ist bei einer solchen Frage gewichtiger als die Geschichte. Das hat man schon im alten Wien erkannt, und dieses ist besonders prädestiniert dafür, uns eine Anleitung zum richtigen Umgang mit der Apokalypse zu geben. Kaum eine Stadt ist tiefer gefallen, nämlich aus größerer Fallhöhe, als diese. Und in kaum einer Stadt wurde die Höhenangst, die eigentlich eine Tiefenangst ist, die Erwartung des Fallens, tiefer gefühlt und reflektiert als in Wien. Wien hat also reiche apokalyptische Erfahrung, die letztlich sehr befruchtend für Wissenschaft und Kultur war – um wieder auf oben erwähnte verblüffende Paradoxa des Untergangs zurückzukommen.
In der Höhenangst gediehen die Neurosen, aber auch die Psychologie. Diese war, wie jede junge, übermütige Wissenschaft, durch absurde Übertreibungen und Engführungen gekennzeichnet, öffnete aber doch auch neue Fenster der Erkenntnis, insbesondere der Selbsterkenntnis. Wie so oft finden sich die wichtigsten praktischen Erkenntnisse aber nicht in Lehrbüchern, sondern im Handeln der Menschen und ihren Einstellungen und Ideen. In keiner einzelnen Handlung, Einstellung oder Idee liegt dabei aber eine verallgemeinerbare „Lösung”.
Wien ist tatsächlich untergegangen, und doch lebt es sich immer noch ganz gut hier. Allerdings nicht mehr „wieder ganz gut“, nicht mehr „immer besser”, sondern eben „noch ganz gut“. Die Höhenangst kehrt zurück, doch ohne wirklich luftige Höhe. Wie in anderen urbanen Zentren Europas macht die Zukunftsangst den Eindruck von Seiltänzern, die unglaublich stolz sind, ihr Seil fünf Zentimeter über dem Boden aufgespannt zu haben, und schrecklich zu zittern beginnen, wenn sie sich nirgends mehr anhalten können. Der alte Wiener hätte da vulgär ausgerufen „Scheiß’ di net å!”
Das alte Wien war gekennzeichnet durch eine besondere Einstellung, die ich für die reife Seelenerkenntnis fallerprobter Seiltänzer halte: die „fröhliche Apokalypse“. Diese hält die Balance zwischen zwei psychologischen Extremen: die Augen vor der Realität zu verschließen oder sich von ihr gänzlich in Bann ziehen zu lassen. Der eine läuft blind über den Abgrund, was nur im Zeichentrickfilm gut gehen kann. Der andere ist starr vor Schreck und kommt keinen Zentimeter weiter. Der fröhliche Apokalyptiker hingegen sieht den Abgrund, erkennt ihn an, bildet sich nicht ein, diesen wegdenken oder irgendwie „wegmachen” zu können, atmet tief durch und tanzt mit einem Lächeln im Gesicht auf dem Seil. Ob er über das Seil wird tanzen können? Wir wissen es nicht. Viele stürzten in den Tod. Aber das ist kein Grund, sich die Laune verderben zu lassen. Durch Angst, Wut und Griesgram lässt sich der Untergang auch nicht aufhalten, er wird nur noch unerträglicher.
Die psychologische Wahrheit der fröhlichen Apokalypse besteht darin, dass es völlig irrsinnig ist, die Geschichte auf den Schultern tragen zu wollen. Von dieser historischen Last muss man sein Gemüt befreien. Und am einfachsten gelingt das paradoxerweise, indem man der Apokalypse frech in die Augen blickt. Was hätte dem alten Römer sein Jammern gebracht, sein naives Reformieren, sein Protestieren? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Taten einzelner Menschen den Weg der Geschichte ändern. Doch das lässt sich allenfalls im Nachhinein bestimmen. Die vermeintlich heroischen Geschichtsveränderer sind in aller Regel apokalyptische Reiter, die noch mehr Menschen über Abgründe jagen, die sie nicht und nicht anerkennen wollen.
Wer wirklich etwas verändern möchte, muss sein Gemüt von der historischen Last befreien, die ohnmächtig macht. Am Seil hält sich nur der Leichtfüßige. Ein Teil der modernen Wiener, Berliner, Pariser etc. hängt ängstlich am Seil und kann den Blick nicht nach unten wenden. Sie fühlen sich, den Blick gen Himmel gerichtet, in unendlicher zivilisatorischer Höhe, die nun bedroht sei. Ich habe den Eindruck, um die Metapher vielleicht etwas zu überspannen, dass dieses Seil ohnehin schon nahe an den Abgrund durchhängt. Der Blick nach unten wäre dann zwar erschreckend, aber nach dem ersten Schrecken weit weniger angsteinflößend als die vage Vorstellung. Vielleicht hat das bedrohliche Wackeln nichts mehr mit der Höhe, sondern mit der „Situationselastik“, der Differenz zwischen vorgestellter Spannhöhe und realem Durchhängen zu tun. Vielleicht sind unsere zivilisatorischen Seile bereits ausgeleierte „slack-lines”.
Natürlich geht Europa unter. Natürlich sind die Parallelen zum Römischen Reich nicht zu leugnen. Die Wut darüber kommt reichlich spät, zu spät. Zorn ist noch angebracht, aber man kann ja nicht ständig zürnen. Man kann sich dem Untergang stellen. Man kann es mit einem Lächeln tun. Hat man einmal losgelassen von dem gebannten Schielen auf die Abgründe, die man bislang erfolgreich ausgeblendet hatte, verlieren sie zwar nicht ihre Tiefe, aber viel von ihrem Schrecken. Wir sind alle Teil der Geschichte und müssen sie nicht als Bürde tragen. Für hellsichtige Menschen, denen es gelingt, mit ein wenig Fröhlichkeit die apokalyptische Beklemmung abzuschütteln, können beschleunigte Untergangszeiten durchaus auch gute Zeiten sein. Die alten Wiener stifteten der Welt unglaubliche Schätze der Kultur und Wissenschaft, insbesondere der realistischen Wirtschafts- und Politikwissenschaft, die besonders in Krisenzeiten gedeiht. Ein wenig – je nach Perspektive – zu spät oder zu früh Geborene nahmen ihr Wien in die weite Welt mit und stifteten eine fruchtbare Saat auf fernen Feldern.
Im besten Fall werden einige der klügsten modernen Wiener vielleicht gerade noch als Hauslehrer reicher Asiaten oder als Inventar eines Alpen-Disneylands ihr Auskommen finden, wenn die morschen Stützen am Rande der „slack-line” nachgeben. Kein Grund zur Neurose, die macht es nämlich auch nicht besser! Das haben die alten Wiener bitter erfahren müssen. Letztlich schien vielen von ihnen die fröhliche Apokalypse nämlich dann doch zu „unseriös“, sie wollten „Geschichte machen” und den „Untergang aufhalten”. Dabei begingen sie den psychologischen Kardinalfehler: Sie nahmen sich selbst viel zu ernst und brachten erst die Apokalypse hervor, deren Erwartung sie zum blinden Handeln getrieben hatte. Der Wiener Psychologe Viktor Frankl entwickelte wohl aus dieser Erfahrung sein Konzept der paradoxen Intention. Gegen die Neurose hilft nämlich am ehesten der Humor, sich selbst nicht völlig ernst zu nehmen. Das ist im historischen Kontext gewiss ein Galgenhumor.
Wenn sich auf der Couch des Psychotherapeuten die wut- und angstgetriebenen Neurosen unserer Zeit mal für ein ruhiges Stündchen hinlegten, würde die paradoxe Intervention vielleicht so aussehen: Patient: „Ist die Lage wirklich so schlimm?” – Therapeut: „Nein. Sie ist viel schlimmer. Na und?” „Pudeln’s eana net auf“, hätte der alte Wiener gesagt, „es hüft jå nix”. Die Therapie liegt freilich in der Niederlage, dem buchstäblichen Niederlegen auf der Couch. Die Welt geht unter, aber das Leben geht weiter. Und hat man einmal gelernt, den Untergang nicht mehr ernst zu nehmen, ohne ihn dabei auszublenden oder zu verleugnen (dann nämlich nimmt man ihn tatsächlich bitterernst!), ist man frei, ihm zu entgehen. Man übt angstfrei an der „slack-line“, springt ab und landet sanft, und spannt sie ein Stück weiter und höher. Die beste psychologische Basis für die Veränderung zum Positiven, ist die Befreiung vom Glauben, etwas verändern zu können oder gar zu müssen. Man macht dann das Richtige, nicht seiner geplanten Resultate wegen, die man in volatilen Zeiten ohnehin nicht planen kann, sondern in Seelenruhe aus der Freude, das Richtige zu tun, denn „nutzt’s nix, schad’ts nix”. Der alte Wiener nahm die Dinge nicht „bierernst“, weil die Ernstmeiner ohnehin immer alles zunichte machen können (und letztlich auch machten), sondern „weinfröhlich”. Auf die Apokalypse, prost!
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.