Die aktuelle Pandemie-Panik hat einige Entwicklungen beschleunigt, die ohnehin unaufhaltsam sind. Eine davon ist die Verlagerung von Beziehungen, Märkten, Prozessen und Strukturen ins Digitale. Dabei geht natürlich etwas verloren, und dagegen wird sich eine wachsende nostalgische Sehnsucht nach dem Analogen sträuben und wehren. Eine künstliche Beschleunigung ist immer heikel, denn sie gebiert ideologische Reaktionen. Diese bringen die Welt leider nicht ins Lot, sondern vergrößern nur die Schwankungsbreite und bringen Welt und Menschen dadurch noch mehr aus dem Lot – sie nähren neue Reaktionen.
Doch die Entwicklung hat auch positive Seiten: Erstens entzieht sich die digitale Sphäre noch ein wenig dem totalen Zugriff des Staates. Mächtige Staaten wie die USA oder China sind gewiss schon weit fortgeschritten in der Überwachung ihrer Untertanen. Doch relative Unterschiede sind von Bedeutung. Einerseits sind die meisten Staaten dieser Welt weitaus weniger mächtig und können weniger private Kompetenz in ihren Dienst stellen. Andererseits eröffnet das Digitale immer neue Lücken, denen die Regulatoren hinterherhinken. Das letzte Beispiel eines Grenzlandes des Digitalen, das Pionieren einigen Freiraum zum Experimentieren lässt, ist der Kryptowährungssektor.
Zweitens senken digitale Werkzeuge oft die Transaktionskosten für Austausch und Zusammenarbeit. Die globale Verflechtung ist künstlich verstärkt und erfährt daher viel Ablehnung. Doch sie erlaubt auch die Rekombination entfernter Ideen, Güter und Talente und nährt so die Innovation. Zwar befinden wir uns aktuell wahrscheinlich in einer Phase stagnierender bis abnehmender Innovationskraft, doch die Lage wäre weit dramatischer ohne die digitale Kostensenkung, die leider die politische – vor allem geldpolitische – Kostenerhöhung nicht ganz kompensieren kann.
Drittens wird durch jene Werkzeuge auch die Telearbeit immer einfacher. Dieser nun beschleunigte Trend könnte dramatische Folgen haben, denn er stellt zahlreiche Lebensmuster der industriellen Moderne infrage und damit letztlich auch den modernen Steuerstaat, der auf immobilen Arbeitskräften in stabilen Beschäftigungsverhältnissen beruht. Das Aufmischen der Unternehmensstrukturen könnte zudem die Innovationskraft der verbleibenden Unternehmen heben, indem der Fokus von Arbeitsplätzen auf Prozesse geschoben wird. Dem Konzept „Arbeitsplatz“ sieht man das statische Denken direkt an. Vielleicht könnte damit nun endlich der hartnäckige Irrtum der Arbeitswerttheorie aus den Köpfen in die Mottenkiste der Geschichte geräumt werden.
Viertens ist ein Prozess der Digitalisierung stets ein Prozess der Abstraktion. Das hat gewiss Nachteile, vor allem, weil es das evolutionär gewachsene Gerüst der menschlichen Natur ziemlich unter Druck setzt. Doch Abstraktion ist auch ein Weg der Vergeistigung und führt zu höheren Sphären – jene Sphären höchster menschlicher Schaffenskraft, die den Menschen eindeutig von der Rohnatur abheben. Abstraktion befreit von den allzu engen Assoziationen des Physischen und Angreifbaren, die das Denken einsperren können. Viele ökonomische Irrtümer, etwa die Blut- und Bodentheorien von Marxisten, Physiokraten und den noch weniger respektablen „Denkern aus zweiter Hand“ (Ayn Rand), beruhen auf solchen Assoziationen. Sie hängen am Materiellen und übersehen den geistigen und moralischen Wert eines Miteinanders (Katallaxie) autonomer Erwachsener, die sich vom Denken in Nullsummenspielen emanzipieren und an die Stelle von destruktivem Kampf und passiv-lethargischem Frieden der Stagnation den aktiv-produktiven Frieden wechselseitigen Wachstums in sportlichem Wettbewerb setzen.
Es ist sinnlos, sich gegen unaufhaltsame Entwicklungen zu stemmen. Aber man sollte auch nicht einfach hinterherlaufen. Der größte anzunehmende Unsinn in diesem Kontext kommt aus der Politik: EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen will Billionen „in die Digitalisierung investieren“. Ins Deutsche übersetzt: Jemand, der keinen Funken von Investitionskompetenz hat – ohne millionenteure Beratung nicht einmal den eigenen „Job“ machen könnte –, versteckt maßlose Schulden- und Geldproduktion hinter dem Alibi einer Entwicklung, deren technische und ökonomische Grundlagen schon so alt sind, dass wir längst in der Phase der Folgenbewältigung sind, nicht in der Phase der „Zukunftsinvestitionen“.
Diese Folgen könnten im besten Fall eines Tages Karrierepolitiker wie von der Leyen so irrelevant erscheinen lassen, wie sie eigentlich sein sollten. Europa ist zwar altersschwach, sodass Entwicklungen eher verspätet einsetzen, aber das mag auch manch negative Dynamik ersparen. Die USA weisen noch weit mehr positive Dynamik der Innovation auf, aber auch die Spannungen und Reaktionen können stärker ausfallen.
Viele der unternehmerischsten Europäer denken schon länger in Richtung Exodus nach oder haben diesen bereits gewählt. Das führt sie in andere Ecken der Welt, wo das Gras auch nicht immer grüner ist, denn eine globalisierte Welt bedeutet auch eine rasante Ansteckungskurve bis in den hintersten Winkel mit den für den Menschen gefährlichsten Viren: geistigen. Nun spielen immer mehr unternehmerische Amerikaner mit dem Gedanken eines Exodus – und wo soll der hinführen? Er kann nur zu anderen Welten führen, jenseits der Erde, gen Himmel. Das könnten andere Planeten sein, wie es die Giganten des US-(Blasen-)Unternehmertums erträumen. Für realistischer halte ich Visionen wie Seasteading und Free Private Cities, die aktuell vor allem aus den USA wieder Fahrtwind aufnehmen – als Suche nach neuem Grenzland („new frontiers“).
Noch realistischer, aber zu keinen der vorgenannten Visionen im Widerspruch, dürfte jedoch die Prognose des Investors Naval Ravikant sein: „Ich wäre nicht überrascht, wenn das nächste Silicon Valley in der Cloud entsteht.“ Dieser Himmel ist einer der Kooperation, wenn nicht intergalaktisch, so doch immerhin katallaktisch: Der Drang von Ideen, Talenten und Kapital, an den Torwächtern vorbei zu Größerem zusammenzufinden.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei