Mitten in einer grassierenden Vertrauenskrise drängen die Sachzwänge zu Entschlossenheit. Sonst drohen scharfe wirtschaftliche Korrekturen in einer Zeit, in der immer mehr Vermögenswerte auf Vertrauen beruhen.
Der französische Präsident stellt aus dem Elysée-Palast in aller Grandeur den Führungsanspruch, um Vertrauen durch konsequentes Umsetzen der vermeintlich europäischen Vision zu gewinnen.
Seine Ziele sind naheliegende Konsequenzen des Zentralisierungsprozesses, der gerne als Einigungsprozess verkauft wird. Steuervereinheitlichung, grösseres Budget, gemeinsame Armee, Minister, Abgeordnete und Universitäten – allesamt Wegmarken der Staatswerdung.
Gewiss steigert Zentralisierung kurzfristig die Entschlossenheit. Doch das Durchdrücken einer Vereinheitlichung ohne hinreichende Homogenität oder Kompetenz ist langfristig dem Vertrauen abträglich und wohl die eigentliche Ursache der Vertrauenskrise.
Wieso dem rhetorisch brillanten Franzosen und seiner Entourage hochrangiger Ökonomen gleich die Kompetenz absprechen? Ist die Courage des Vorpreschens nicht ein Hinweis auf diese, sollte man dem jungen Politiker nicht eine Chance geben? Erkenntnistheoretische Vorbehalte, nicht Missgunst widerspricht dem.
Selbst die heute von Ökonomen favorisierte empirische Statistik zeigt, dass die Trefferquote von Ökonomenprognosen systematisch schlechter ist als beim Würfeln. Je berühmter der Ökonom, desto geringer die Eintrittswahrscheinlichkeit seiner Prognosen.
Das Problem der Ökonomik ist ihr Subjekt, der Mensch. Der verhält sich nicht so berechenbar, wie er sollte, weshalb weite Teile der modernen Ökonomik damit befasst sind, den Menschen durch berechenbarere Modelle zu ersetzen.
Gerade Frankreich hat eine lange Tradition eines Hofstaats von Ökonomen. Hier zeigt die historische Erfahrung eine negative Selektion, die Hybris befördert: Die Staatsmacht sieht die eigene Kompetenz durch die vermeintliche Wissenschaftlichkeit der Ratgeber gesteigert, während sich die angezogenen Ökonomen durch die Machtnähe ebenfalls höherer Kompetenz wähnen.
Leider ist das Wort der Kompetenz im Französischen wie im Deutschen allzu zweideutig: Das Dürfen wird leicht mit dem Können verwechselt, die Zuständigkeit mit der Fähigkeit.
Die in diesem Hofstaate entstehenden und sich gegenseitig bestärkenden Visionen haben dann wenig mit seherischer Qualität zu tun, sondern mehr mit Selbstüberschätzung. Den heterogensten Erdteil mit einheitlichen Parametern zentral steuern zu wollen, ist Hinweis auf Hybris, auf die sehr europäische Verlockung mit sehr uneuropäischen Konsequenzen, die den Kontinent seit jeher in Spannung hält.
Die mangelnde Homogenität, die Vielfalt von Sprachen und Kulturen, von Mentalitäten und Geschichtsdeutungen, von Identitäten und Ideologien ist das, was Europa ausmacht. Seine historische Rolle war stets, verdichtetes Zukunftslabor ergebnisoffener Wagnisse von Wissenschaftlern, Künstlern, Unternehmern, Ingenieuren und Entdeckern zu sein.
In der Enge und der Härte gedieh die Kompetenz und mit ihr der Machbarkeitswahn, der so lange Positives hervorbrachte, bis er scheitern musste an der gegensätzlichen Hybris der Nachbarn und der Ohnmacht, niemals alle Kräfte des Kontinents einem Zweck unterordnen zu können.
Auch Europa sah den Massenwahn der Aufopferung für falsche und dumme Zwecke, doch im globalen Vergleich überwiegt das Mehr an positiver Energie den Schaden – eben dank der Heterogenität und des letztlichen Scheiterns aller bisherigen Zentralisierungsprojekte.
Ihre Intention ist oft gut und durchaus europäisch. Es sind faustische politische Wagnisse der Kräftemobilisierung. Der Gegensatz des forschen Vorandrängens einer tatkräftigen Union und der Reaktion nationalistischer Identitäten täuscht darüber hinweg, dass Macrons Vision in der Tradition des Nationalismus steht, sie konsequent fortführt, nicht negiert.
Die grossen Einigungsprojekte der europäischen Nationalismen, allen voran das französische, hatten durchaus positive Seiten und Folgen – wenngleich heute ausgerechnet die Zentralisierungsbefürworter einig sind, dass das Negative überwog. Das «souveräne, demokratische, vereinheitlichte Europa», das Macron prophezeit, wäre ein gesamteuropäischer Nationalstaat französischer Prägung.
Ein solcher EU-Nationalismus kann noch Begeisterung wecken bei einer kleinen, kosmopolitischen Elite und könnte damit durchaus Keim positiver kultureller und ökonomischer Schaffenskräfte sein.
Doch der Preis ist zu hoch, das Wagnis riskiert das Ende Europas, nicht durch Spaltung, sondern Vernichten der Spaltungsmöglichkeit, Reduktion des institutionellen Wettbewerbs und Überhandnehmen schlechter Anreize.
Eine Durchsetzung von Mindeststeuern verwandelt ganz Europa in eine Steuerwüste, in der Regionen mit geringerer Produktivität und geringerem institutionellen Vertrauen ökonomisch verdursten. Die vermeintliche Steuerharmonisierung harmonisiert also nicht, sondern trennt und ist Keim neuer Konflikte.
Das ist stets die Folge von Vereinheitlichung aus Hybris, die blind für das unberechenbare Reagieren der Menschen ist: An die Stelle wettbewerblicher, harmonischer Spaltung von Versuch und Irrtum tritt die künstliche, politisch verschärfte Spaltung entlang der Bruchlinien kollektiver Irrtümer.
Schon das Projekt Euro ist dieser Hybris zuzurechnen, der Wahnidee, ein politisches Ziel über Währungsschaffung und -steuerung zu erreichen und damit den Informationsträger eines gewichtigen Teils des globalen Wirtschaftskreislaufs von Kompetenz und Prognosen eines einzigen «Experten»-Hofstaats abhängig zu machen.
Besonders deutlich wird die Hybris in Macrons Vorschlag, eine «europäische Innovationsbehörde» zu schaffen. Ohne Wettbewerb keine Innovation, denn Genie und Wahnsinn lassen sich im Vorhinein nicht unterscheiden. Neue Behörden bedeuten stets neue Stellen für den Hofstaat, für die Nutzniesser der Macht, die Feinde jeder wirklichen, weil unbequemen und ungewissen Innovation.
Dem EU-Nationalismus droht, ausgerüstet mit eigener Armee, das Schicksal jedes Zentralisierungsprojekts, das die inneren Spaltungen und Verschiedenheiten überwindet – es stösst an die äusseren und nährt sich an ihnen, erkauft innere Einheit durch äussere Aggressivität.
Die Forderung nach einem gesamteuropäischen «procureur commercial», einem EU-Staatsanwalt für Handelsfragen, der andere Nationen auf eine fiktive Anklagebank rufen und dann auch gleich Sanktionen verhängen kann für Fehlverhalten «en matière sociale, environnementale ou fiscale», zeichnet den Weg für künftige Handelskriege, die leicht zu blutigeren Einsätzen der geforderten «drones européens» führen können. Die aufgezählten schwammigen Bereiche erlauben dafür Motive der Ideologie oder der politischen Profilierung.
Wenn das die Visionen sind, für die sich europäische Eliten beglückwünschen, ist dringend frischer Wind nötig durch institutionellen Wettbewerb – das bedeutet heilende Spaltung. Die Chancen für europäische Standorte steigen, die sich der Vereinheitlichung und der Steuerhybris entziehen, ohne die positiven Wagnisse und Offenheiten auszuschliessen, die Europa ausmachen.
Leider wird durch die ideengeschichtliche Fehldeutung der Zentralisten der Nationalismus, mit seinen protektionistischen, etatistischen und symbolpolitischen Aspekten, als Gegenentwurf missverstanden. Der tatsächliche Gegenentwurf zur EU-Hybris sind weltoffene Kleinräumigkeit und ergebnisoffener Wettbewerb. Doch mit solchen Visionen wäre eben kein Staat zu machen, der einen wachsenden Hofstaat nähren kann.
Zuerst erschienen bei: Finanz und Wirtschaft