Der Versuch, Russland von der Weltwirtschaft abzutrennen, schneidet russische Konsumenten zwar von Konsumgütern ab, die europäische Industrie aber auch von Produktionsgütern. Ein möglicher Totalausfall von Gaslieferungen wird zu Recht gefürchtet und scheint nahezulegen, dass die angestrebte Energiewende nicht nur ökologisch, sondern auch geopolitisch überfällig sei. Manche sehen in der neuen Dringlichkeit gar das einzig positive Trostpflaster des Kriegs und freuen sich über einen beschleunigten Ersatz von fossilen Energieträgern.
Diese Perspektive ist jedoch zynisch und zeigt ein gefährliches Missverständnis auf. Das akute Dilemma ist weniger eine Folge von zu wenig politischem Fokus auf einer Energiewende, sondern ganz im Gegenteil ein Hinweis auf falsche Prämissen dieser Konzentration von Mitteln und Aufmerksamkeit.
Der letzte vergleichbare Preisschock bei fossilen Energieträgern in den 1970ern legitimierte ähnliche Dringlichkeit. Auch damals ging es eigentlich um Geopolitik, wurde aber als ökologischer Notstand verbrämt. Die Selbstbeschränkung ist stets würdevoller als die Fremdbeschränkung – das ist die zeitlose Weisheit der Fabel vom Fuchs und den verschmähten Trauben.
Damals kam das falsche Argument von «Peak Oil» auf, der Ängstigung vor einem plötzlichen Versiegen der Ölquellen, nach dem alle Maschinen stillstehen würden, wenn wir uns nicht rechtzeitig vom schwarzen Gold lösen. Die Selbstbeschränkung aus Angst liegt vermutlich westlicher Schuldkultur (im Gegensatz zu östlicher Schamkultur) besonders nahe.
Falscher Ansatz verordneter Verarmung
In den 1980er-Jahren richtete sich eine neue Angst ausgerechnet gegen die potenteste Alternative zu fossilen Energieträgern. Eine Analogie zur aktuellen Pandemie drängt sich dabei auf: Totalitäre Verantwortungslosigkeit verschuldete eine Katastrophe, die zu einer völlig überzogenen, totalen Reaktion führte, die wichtigen und finanzkräftigen Interessen sehr gelegen kam.
Die Folgekosten des damals eingeleiteten Rückschritts in der zivilen Nutzung der Atomenergie überwiegen bei Weitem die Kosten aller Unfälle, auch in Menschenleben, denn letztlich sind die grossartigen Entwicklungsfortschritte steigender Lebenserwartung und geringerer Kindersterblichkeit Folgen höheren Wohlstands, der stets mit intensiverer Energienutzung einhergeht.
Die westliche Antiatomkraftbewegung wurde, so ist heute bekannt, auf ihrer ökologischen Seite von der Ölindustrie und auf ihrer geopolitischen Seite – der Abrüstung von Atomwaffen – von der Sowjetunion subventioniert.
In der Politik sollte man sich von vorgeblichen Intentionen niemals in die Irre führen lassen, besonders wenn die Intentionen so zweifellos gut scheinen, dass sie gegen jede Kritik immunisieren. In Sri Lanka wird gegenwärtig ein Exempel statuiert, wie allzu gute Intentionen bei mangelhaftem Realismus Menschenleben kosten können. Die Umstellung von konventioneller auf ökologische Landwirtschaft ging ordentlich schief. Das Problem liegt darin, eine Lösung aus Nischen zahlungskräftiger Gesellschaften auf die breite Masse einer armen Gesellschaft plötzlich hochzuskalieren.
Ökologische Bedenken sind ein Wohlstandsphänomen: im schlechtesten Falle des Geltungskonsums, im besten Falle der freiwilligen Askese. «Hungern für das Ökosystem» ist wie «Frieren für den Frieden» ein grundfalscher Ansatz verordneter Verarmung, der letztlich Umweltzerstörung und Krieg eher nährt als mindert.
In Europa verhinderten ökologische Bedenken eine Schiefergas-Revolution wie in den USA. Diese Bedenken sind keineswegs schlecht, sondern ernst zu nehmen und plausibel. Der Vergleich zeigt aber, dass intuitive Plausibilität ein schlechter Wegweiser in der Energiepolitik ist. Zunächst erscheint Fracking als teurer Weg, noch mehr fossile Energieträger zu fördern, und damit als glattes Gegenteil der europäischen Energiewende. Paradoxerweise hat dieser amerikanische Weg aber nicht nur geopolitisch, sondern auch ökologisch weit mehr gebracht als der europäische Weg: Schiefergas half, die schmutzigere Kohle zu verdrängen.
Das Nimby-Wohlstandsphänomen
Beide Wege kranken an einer Anschubfinanzierung durch staatlich missbrauchte Geldschöpfung. In den USA folgte diese aber eher den Absichten und Wünschen von Unternehmen, während in Europa eher die Unternehmen den Absichten und Wünschen der politischen Geldgeber folgen, die in der Regel weder von Energie noch Wirtschaft viel Ahnung haben.
Beide Wege ähneln sich auch in einer positiven Folge: Förderung von Skaleneffekten und technischer Vergünstigung in den geförderten Bereichen. Auf der hiesigen Seite sinkende Kosten für Fotovoltaik in schon fast Moore’scher Dynamik, auf der amerikanischen Seite sinkende Grenzförderkosten.
Ein gewichtiger Unterschied fällt aber auf: Während die amerikanische Industrie, die sonst wenig konkurrenzfähig ist, die technische Führerschaft und nahe Profitabilität im Fracking fast vollumfänglich für sich verbuchen kann, holte sich in der Fotovoltaik die chinesische Industrie den Löwenanteil. Das führt zum europäischen Dilemma, dass in dem Ausmass, in dem die politische Energiewende tatsächlich die Abhängigkeit von Russland senken kann, die Abhängigkeit von China zunehmen wird. Fotovoltaik ist zudem weit mehr von russischen und chinesischen Rohstoffen abhängig als die Fracking-Technologie.
Europa hätte für die einzigen zwei grossen Alternativen zu russischem Erdgas, Schiefergas und Atomenergie, mindestens so gute Voraussetzungen wie die USA. Beide Alternativen wurden durch Bedenken eingeschränkt, die sich nun als das bekannte Nimby-Wohlstandsphänomen erweisen: Not in by backyard! Das bedeutet Unduldsamkeit gegenüber kleinsten Risiken im eigenen Nahbereich zugunsten von diffus verteilten grösseren Risiken, die pauschal alle zu tragen haben.
Innovation folgt nicht der Verknappung
Aus dem Dilemma mit einem «Green Deal» zu entkommen, ist unwahrscheinlich. Hier will sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Wasser ziehen. Von Bürokraten zugeteilte Schuldenfinanzierung soll Innovation schaffen, während deren reale Bedingungen weiter abgewürgt werden. Über Verbote und Verteuerung verordnete Askese führt nicht zu Innovation und fördert im Gegensatz zu freiwilliger Askese Heuchelei.
Noch nie zog sich eine Gesellschaft auf eine neue Energiebasis, indem sie die alte durch Verbote abdrängte oder ihre Energienutzung drosselte. Ganz im Gegenteil folgt Innovation, gerade im Energiebereich, Zeiten der Fülle, nicht der Verknappung. Letztere führt zu Erstarrung und Schwächung des Experimentiergeistes.
Das Industriezeitalter ist nicht die Errungenschaft einer militanten Tierschutzbewegung, die auch nichts anders hätte machen können, als die freigesetzten Acker- und Reittiere zu verwursten. Ohne die tierische Arbeitskraft hätte die Kohleförderung niemals zur industriellen Nutzung der Dampfmaschine ausgereicht, die dann wiederum nötig war, um die Kohleförderung auszuweiten – und damit die Grundlage für jenes Wohlstandsniveau zu schaffen, das uns den Luxus erlaubt hat, in der Kohle nur noch den Schmutz und nicht mehr die Energiedichte zu sehen.
Die letzte Chance zu einem Absprung aus dem fossilen Zeitalter haben wir vermasselt, als wir in der Atomkraft nur ihre Risiken und nicht mehr ihr immenses Potenzial sahen. Nun können wir nur hoffen, dass uns eine politische Energiewende nicht noch vor das Kohlezeitalter zurückfallen lässt. Dann stecken wir wortwörtlich im Dreck: Ohne fossile Energie bei gleicher Bevölkerungszahl würden die meisten Menschen hauptberuflich Exkremente sammeln und auf Äcker tragen.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.