Explodierende Strompreise drängen zu politischem Interventionismus. Der vermeintlich im Rahmen der EU „liberalisierte“ Energiemarkt versage, so das einhellige Urteil. Insbesondere die Koppelung von Gas- und Strompreis müsse nun durch eine politische Reform dieses Marktes aufgehoben werden, wenn nicht gar direkte Preisregulierung nötig sei. Doch wie viel Marktwirtschaft steckt eigentlich im Strompreis? Haben wir es mit zu viel oder doch eher zu wenig Markt zu tun? Die Antwort ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Der europäische Strommarkt beruht auf dem Merit-Order-Prinzip. Damit wird dynamisch der Strompreis nach dem für die Abdeckung der aktuellen Nachfrage nötigen zuletzt zugeschalteten, weil teuersten Produzenten ermittelt. So bestimmen die Grenzkosten dieses Produzenten den Preis. Das klingt so weit recht marktwirtschaftlich, immerhin wird im Rahmen der EU auch über die nationalen Grenzen hinweg Strom geliefert und verrechnet. Bei aller Kritik an dieser Energiewirtschaft ist auch zugutezuhalten, dass die Stromversorgung in Europa bislang relativ gut funktionierte und die Zahl der Stromausfälle im weltweiten Vergleich niedrig war. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Ist zu wenig oder zu viel Strom im Netz, kommt es schnell zu einer Abweichung von der für die Netzstabilität notwendigen Frequenz von 50 Hertz.
Die beste Analogie für den Energiemarkt ist der Finanzmarkt. Für die meisten Menschen überwiegt der Eindruck eines regel- und grenzenlosen „Turbokapitalismus“. Im Grunde gelten diese Märkte trotz ihrer Komplexität als erstaunlich funktionell, sodass sich die Interessengruppen in ihrer Marktablehnung auf die kurzen Störungen konzentrieren müssen. Doch sowohl Strom- als auch Finanzmarkt sind staatliche Veranstaltungen. Regulatoren produzieren Unmengen an Papier und Anwaltsmandate. Diese Regulatoren erlauben geschützten Kartellen internationalen Marktzugang und damit große Absatzmöglichkeiten. Mit Markt im Sinne der freien und dezentralen Kooperation von Einzelpersonen haben diese „Märkte“ nicht viel zu tun.
Die Besonderheiten dieser verzerrten Märkte liegen allerdings auch in den auf ihnen gehandelten Güter. Geld ist spätestens seit der Monetisierung von Staatsschulden durch Zentralbanken als liquidester Vermögenswert ein zentralisiertes Gut. Strom hat eine andere Besonderheit mit ähnlicher Folge: Er lässt sich bislang in zu geringem Ausmaß speichern und muss in der Regel im Moment seiner Erzeugung transportiert und verbraucht werden. In noch höherem Ausmaß als bei der Eisenbahn unterliegt damit die Grundinfrastruktur des Netzes zentraler Aufsicht und Zuteilung.
Wie beim Finanzmarkt ist die Struktur des Energiemarkts die Folge politischer Absichten und Förderungen. Das „öffentliche Gut“ eines überall verfügbaren Netzes ist wie beim Straßen- und Schienenverkehr in alle Winkel des Staates subventioniert. In seinen Anfängen war das Stromnetz ein urbanes Phänomen, während die ländliche Energiewirtschaft dezentral und damit zunächst gar nicht vorhanden, später lückenhaft war. Die Stabilisierung im ganzen Land verfügbarer Stromanschlüsse war eine Großleistung, zentralisierte aber die Aufgabe der Energieversorgung. Die leistungsstärksten Energieversorger schließlich sind schon aus Regulierungsgründen kaum rein privat denkbar, sondern direkt staatlich oder durch hochregulierte Großkonzerne betrieben.
Eine dezentralere Energiewirtschaft hätte mehr Kostenwahrheit und Innovationsdruck bedeutet, aber auch eine weit weniger gleichmäßige Versorgungslage. Teile des Landes wären ohne Netzanschluss geblieben, hätten damit aber einen Ausbau erneuerbarer Energie begünstigt, ohne durch die starken Schwankungen dieser Produzenten das Netz zu destabilisieren. Die Schwankungen wären von den Nutzern aufgefangen worden, die ihre Nachfrage diesen Formen angepasst hätten, aber gewiss auch die Nachfrage nach innovativeren Speicherformen verstärkt hätten. Die Energieproduktion wäre generell modularer und kleiner dimensioniert. Große Erzeuger mit Skaleneffekten würden eigene Netze mit industriellen Abnehmern betreiben.
Wie in der Finanzwirtschaft hat der veranstaltete Großmarkt für Energie flächendeckende Versorgung, die meist störungsfrei funktioniert, erlaubt. Doch damit wurde auch die Tragweite von Störungen zentralisiert. Das gesamte System erreicht eine Komplexität, bei der staatliche Stützungen „alternativlos“ werden, weil die Folgen eines Versagens politisch nicht mehr zumutbar sind. Eine dezentralere Struktur wäre von laufenden kleinen Fehlern durchzogen, die insgesamt über Wettbewerb, Innovationsdruck und Vorbildwirkung die Gesamtversorgung langsam verbessern würden, ohne den Totalausfall zu riskieren.
Unter den Bedingungen einer flächendeckenden Netzversorgung, die Effizienz durch größere Märkte begünstigen kann, ist das Merit-Order-Prinzip ein Zuteilungsmechanismus, der zumindest eine gewisse Marktdynamik hat und planwirtschaftlicher Zuteilung und Rationierung überlegen ist. Grundsätzlich wirken Märkte als Überbringer schlechter Botschaften. Die hohen Preise haben einen realen Hintergrund. Dennoch sind die langfristigen Folgen marktschädlich: Die ohnmächtig machende Fragilität verzerrter Märkte wird dem „Kapitalismus“ angelastet, und die Interventionsspirale ist kaum aufzuhalten. Zudem ist die Mischform intransparent, was der Kostenwahrheit abträglich ist und Lobbying begünstigt.
Die Betrachtung von Grenzkosten folgt nur auf den ersten Blick der Marktlogik. Vielmehr geht es darum, erneuerbare Energien zu begünstigen, die die geringsten Grenzkosten aufweisen. Dreht sich das Windrad einmal, so ist kein Treibstoff nötig. Bis sich das Windrad dreht, ist aber ein massiver Aufwand fossiler Energie nötig, von Bergwerken über Hochöfen bis hin zum Schwertransport.
Verzerrte Marktwirtschaft ist zwar in der Effizienz der Planwirtschaft weit überlegen. Doch die Essenz der Marktwirtschaft, die Entscheidung darüber, was überhaupt auf wessen Kosten produziert wird, geht den Menschen verloren. So auch am „Energiemarkt“.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.