Eine alte politische Phrase geht aufs Neue um in Europa und steht symptomatisch für die wachsende Polarisierung. Für die einen selbstverständlich, für die anderen «rechtsextrem» – das «Europa der Vaterländer». Sie erklingt als alternative Vision für die Europäische Union aus den Visegrád-Staaten, aber auch aus der FPÖ, der AfD und gar der CSU.
Als Schöpfer der Phrase gilt Charles de Gaulle. Tatsächlich bestritt er heftig, jemals von «l’Europe des patries» gesprochen zu haben. Auf Deutsch ist der Gegensatz Staatenbund statt Bundesstaat etwas deutlicher und unverfänglicher. Tatsächlich favorisierte de Gaulle Ersteres und fürchtete, dass ausgerechnet der Beitritt der Briten die damalige EWG zu einem Bundesstaat nach amerikanischem Muster machen würde. Heute gilt der Brexit paradoxerweise als Rückkehr zum «Europa der Vaterländer».
De Gaulle hatte einst vor einem Regime «vaterlandsloser Technokraten» gewarnt. Sein Argument war pragmatisch: «Es ist nun einmal so, dass das Vaterland ein menschliches, gefühlsmäßiges Element darstellt und dass Europa nur auf Elemente der Handlungsfähigkeit, der Autorität, der Verantwortung aufgebaut werden kann.» Er schloss: «Außer dem Europa der Mythen, der Fantasie und des Scheins ist zurzeit kein anderes möglich als das der Staaten.»
Das französische Staatsverständnis kommt recht kühl und rationalistisch daher, damit kontrastiert es mit der Romantik, die im deutschen Raum so verhängnisvoll wütete und den Begriff des Vaterlands überdehnte. Nach de Gaulle besitzen allein die Nationalstaaten «das Recht und die Macht, sich gehorchen zu lassen».
Doch schon der Rationalismus der französischen Revolutionäre hatte seine mythisch-ersatzreligiöse Seite nur wortreich verhüllt. Korrekter müsste das gaullistische Argument lauten: Frankreich ist handlungsfähiger als die EU, weil sein Mythos an die Größe der Grande Nation gerade noch heranreicht.
Die Macht, sich gehorchen zu lassen, ist nicht allein rational zu konstruieren. Theodor Herzl, einer der Vordenker des modernen Nationalismus, drückte es romantischer aus als der nüchterne Franzose, als er sinngemäß zusammenfasste: Jede Nation sei von Schönheit, weil sie das Beste im Individuum mobilisiere – Loyalität, Enthusiasmus, Opferfreude und die Bereitschaft, für eine Idee zu sterben.
So schön wäre die EU auch gerne, doch ihre papiernen Kleider und ihr aufgetragenes Rouge haben nie ganz wettmachen können, was sie an natürlicher Attraktivität entbehrt. Deshalb bedienen sich ihre deutschen Werber eines Bluffs: Sie stellen den EU-Zentralismus als ideengeschichtliches Gegenteil des älteren Nationalismus dar. Denn dessen Reize sind heute in Deutschland verboten. Die Romanze mit der Nation hatte tragisch geendet, ihre Fratze sich als abgrundtief hässlich erwiesen.
Die wenig geliebte Union ist dabei, ihre letzten Sympathien zu verspielen. Die Reaktion darauf macht aufgrund des nach hinten losgehenden Bluffs nun auf kosmopolitische Beobachter den Eindruck eines plötzlichen Rückfalls in das Zeitalter des virulent aufbrechenden Nationalismus. Es ist jedoch eine Reaktion auf die Überdehnung der EU, die sich symptomatisch in der Schuldenkrise und der Migrationskrise zeigt, und kein Aufblühen des «Rechtsextremismus».
Helmut Kohl hatte einst den Euro als Endpunkt der Vision eines geeinten Europa gesehen. Deutsche haben es in der Hinsicht wohl besonders eilig, weil der EU-Supranationalismus die romantischen Sehnsüchte zu befriedigen versprach, für die das geplatzte Pseudo-Vaterland Großdeutschland nicht mehr herhalten konnte.
Der deutschen Tradition hätte ein ganz anderes Vaterlandsverständnis entsprochen, nämlich die unmittelbare lokale Nachbarschaft, in der die Vorväter begraben liegen. Der Dynamik der Moderne hielt dieser statische Bodenbezug aber nicht mehr stand, darum führte Ungeduld zur Überdehnung in absurde Boden- und Vaterlands-Analogien geopolitischer Dimension.
Es war letztlich der pragmatische Druck französischer Staatlichkeit, betrieben durch François Mitterrand, der ein übereiltes Opfern der D-Mark für die Interessen der Grande Nation erpresste. Seitdem identifiziert sich die französische Elite stärker mit der EU, sodass heute Emmanuel Macron in scheinbarem Gegensatz, aber hinsichtlich französischer Interessen in völliger Kontinuität zu de Gaulle und Mitterrand als Vorreiter der EU-Zentralisierung auftritt.
Es wurde der Endpunkt an den Anfang gesetzt: gemeinsame, politisch gesteuerte Währung ohne gemeinsame politische Steuerung von Wirtschaft und Finanzen. Die Sachzwänge hätten dann die weitere Einigung besorgen sollen. Tatsächlich sehen wir, wie die Sachzwänge heute die Uneinigkeit vergrößern, indem alternativlose Dynamiken zur Zuflucht in handlungsfähigere nationale Souveränität führen. Dasselbe geschieht bei der Massenmigration.
Die notwendige Uneinigkeit in der Schuldenkrise zwischen Schuldner- und Gläubigerstaaten hatte Angela Merkel als Repräsentantin deutscher Interessen in der internationalen Öffentlichkeit zu einer Hassfigur gemacht: Auf griechischen Titelseiten erschien sie in Nazimontur, generell musste sie für den Archetyp des kaltherzigen, überkorrekten Deutschen herhalten. Die Tochter eines sozialistischen Pastors drängte wohl vieles nach Wiedergutmachung dieser Schande, in solchem Geruch zu stehen, sodass der Syrienkrieg für eine Geste totaler Großherzigkeit gelegen kam.
Der moderne deutsche Universalismus muss sich die Kritik gefallen lassen, dass die Kosten kollektiviert werden und er häretisch überdehnt ist und die notwendig übergeordnete Tugend der «prudentia» übersieht. Unklug war es jedenfalls, die Folgen nicht abzusehen: die Sogwirkung an den EU-Außengrenzen und die praktische Unmöglichkeit, beruhend auf den Maßstäben von Formalismus, Ehrlichkeit und Gehorsamkeit deutscher Untertanen, unter afrikanischen und orientalischen Migranten zeitgerecht «Schutzwürdige» von den Millionen zu unterscheiden, die auch lieber in Deutschland versorgt würden, als sich daheim durchzuschlagen.
Die Massenmigration war doppeltes Symptom: für die Handlungsunfähigkeit der EU und für das Versagen der Staatlichkeit in ihrem De-Gaulle’schen Minimum: der Macht, sich gehorchen zu lassen. Nicht nur an den Grenzen kann das vermeintliche Gewaltmonopol nur noch wenig Gehorsam erzielen, auch im Inneren zeigt sich langsam eine Doppelstruktur des Gesetzesstaates: auf der einen Seite die braven Untertanen, die steuerlich geplündert werden und sich mit eingeschriebenen Briefen regieren lassen, auf der anderen Seite diejenigen, die das nicht ganz zu Unrecht für naiv halten und den Gesetzen entgehen oder sie ausnutzen. Die damit einhergehende Polarisierung steht erst ganz am Anfang. Deutschland zeigt wie die EU eine fragile Staatlichkeit: maximaler Etatismus bei minimaler Wehrfähigkeit.
Diese Symptome bieten perfekte Angriffsfläche für das politische Heimspiel. Im kleinen Österreich inszeniert sich die aufgrund der Migrationskrise an die Macht gekommene Regierung anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft als Speerspitze eines «Europa, das schützt». Der polnische Vizepräsident des EU-Parlaments fordert explizit ein «Europa der Vaterländer».
Und der polnische Premier bestärkt, dass der Nationalstaat «ein Fels der Demokratie» sei. Wer diese Reaktion als antieuropäisch und ausländerfeindlich verunglimpft, gießt Wasser auf ihre Mühlen. Polen hat eineinhalb Millionen Migranten aufgenommen – aus der Ukraine. Und es gehört zu den Mythen der polnischen Nation, Europa drei Mal gerettet zu haben. Wie viel weniger Kraft hat da der Mythos, dass die EU nun Polen vor den Polen retten müsse.
Zuerst erschienen bei: Finanz und Wirtschaft