Eigenverantwortung ist einer jener großen Begriffe, die fast universell, unabhängig von der politischen Einstellung, als positiv angesehen werden. Wenn man den Begriff näher betrachtet, fällt allerdings auf, dass die zugeschriebenen Bedeutungen – wie so oft – diametral verschieden sind. Die eigene Verantwortung bezieht sich wohl zunächst auf die moderne Loslösung der individuellen Person von der Sippe. Eigenverantwortung ist damit die Gegenthese zur Sippenverantwortung, die Sippenhaftung und Rachekaskaden bedeutet. Doch die Überwindung der Sippe ist für den Menschen zunächst Verlust und schwere Herausforderung. Wie Friedrich August von Hayek erkannte, sind wir als Menschen evolutionär und instinktiv auf das Leben im engen Sippenverband ausgerichtet, und der Schritt zur modernen, offenen, beziehungsweise – nach Hayek – großen Gesellschaft fällt uns schwer. Daher wurde die reale Sippe nach und nach durch symbolische Sippen ersetzt.
Nach dem großen Glaubensverlust in die Brüderlichkeit und Hoffnung der Religion traten Ideologien die Nachfolge an. Mit ihren meist kollektivistischen Konzepten vermitteln Ideologien symbolische Sippenzugehörigkeiten, die ihre Kraft aus der Abgrenzung von anderen ziehen. Am stärksten legitimiert wurde dabei stets die konkreteste und größte Realisierung eines Sippenersatzes, die der Mensch bislang gefunden hat: der moderne Staat. Als Sippenersatz, der mit einer größeren Gesellschaft kompatibel ist, kann man dem Staat also durchaus eine gewisse Sippenbefreiung zusprechen.
Dieses Argument bemühte einer der verheerendsten Vertreter der insgesamt fast durchgehend schrecklichen deutschen Philosophenzunft: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der Staat sei die Verbindung von Liebe und Freiheit. Das klingt nach pathologischer Staatsvergötzung, doch, etwas anders formuliert, ist das abwegige Argument leider gar nicht so dumm. Das Manko der deutschen Philosophen war gewiss nicht mangelnde Intelligenz. Mit „Liebe" ist die Sippenzuneigung gemeint, die der moderne Mensch vermisst, mit „Freiheit" aber die Befreiung aus der damit stets verbundenen Sippenenge. Der moderne Staatsbürger darf sich als Teil einer Wir-Gemeinschaft fühlen, darf sich sogar von seinem Staat geliebt fühlen und noch mehr darf er diesen, „seinen" Staat abgöttisch lieben. Doch dabei darf er sich in der anonymen Existenz des einen unter vielen austauschbaren Staatsgenossen „frei" fühlen. Die Sippenverantwortung wird so zur Staatsbürgerverantwortung.
Da der Bürger als Steuerzahler, Kanonenfutter und Ausweisnummer ganz individuell geführt wird, fiel es nicht schwer, im Gegensatz zur Sippenverantwortung dann gleich von Eigenverantwortung zu sprechen. Der brave Bürger ist eigenverantwortlich steuerpflichtig, zeichnet eigenverantwortlich Staatsanleihen und lässt sich eigenverantwortlich an der Front erschießen, um seiner Sippe den nötigen Lebensraum zu erringen. Das ist gewiss ein sehr „eigenes" Verständnis von Verantwortung und Freiheit, doch vermutlich ist es unterbewusst das vorrangige. Eigenverantwortung bezeichnet, wenn sie in Politikerreden und Predigten beschworen wird, eigentlich oft nur die leichte Regierbarkeit der Untertanen, die brave und vorauseilende Kooperation des Bürgers mit den Planern des Gemeinwohls. Die damit verbundene Ahnung, dass Eigenverantwortung gar nicht so bequem ist und nicht immer dem unmittelbarsten, kurzfristigsten Eigeninteresse entspricht, ist nicht so falsch. Das hat die Begriffstäuschung begünstigt.
Tatsächlich ist Verantwortung die notwendige und selten angenehme Gegenseite der Freiheit. Wer Freiheit außerhalb der engeren Sippe sucht, muss damit auch persönlichere Verantwortung als Bürde tragen – eben Eigenverantwortung. Mit Untertänigkeit hat dies nichts zu tun, vielmehr mit der Notwendigkeit einer Eigendisziplin, wenn man einer Fremddisziplin nicht folgen möchte. In den Worten Goethes: „Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht." Oder in den Worten Nietzsches: „Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann."
Die Formulierung ist zu hart, die Essenz aber richtig. Individuelle Freiheit setzt die Fähigkeit und Bereitschaft der Eigenverantwortung voraus und ist daher an die Erreichung einer gewissen Reife gebunden. Einst waren wohl 18-Jährige zur Zeit der Reifeprüfung schon in der Regel volle Erwachsene, die volle Vertragsfähigkeit mit voller Haftung schultern konnten, heute sind oft 80-Jährige noch nicht aus dem kindischen Traum der verantwortungslosen Freiheit aufgewacht. Diese Scheinfreiheit nannten die alten Römer „licentia" im Gegensatz zur echten „libertas“. Licentia bedeutet kindisches: „Ich kann tun und lassen, was ich will!” Libertas bedeutet: Ich erfülle meine freiwillig eingegangene Pflicht. Diese Eigenverantwortung gestanden die Römer nur dem „pater familias" zu; die Moderne beruht auf der Hoffnung, dass dieser Verantwortung jeder gewachsen sein könnte, um sich die individuelle Freiheit zu verdienen.
Die Sklaverei besteht nicht mehr, doch die Sklavenmentalität lässt sich nicht so einfach abschaffen. Es war der österreichische Psychologe Viktor Frankl, der vor der Einseitigkeit der falschen Freiheit warnte. Deshalb missfiel ihm, dem Freund der persönlichen Freiheit und Gegner des Totalitarismus, jedes einseitige Preisen der Freiheit als „Grundrecht" und Forderung, die bedingungslos jedem zustünde. Er rief die Vereinigten Staaten dringlich dazu auf, analog zur Freiheitsstatue an der Westküste an der Ostküste doch eine Verantwortungsstatue zu errichten, um eine Schieflage zu vermeiden. Ist einer der Flügel lahm, bleibt der Freiheitstraum am Boden. Eigenverantwortung bedeutet, selbst die Konsequenzen nicht nur der eigenen Verpflichtungen und Versprechen zu tragen, sondern auch der eigenen Fehler und Irrtümer. Sonst verkommt der Menschheitstraum zur Kindheitsphantasie der „sturmfreien" Bude, ohne Aufsicht, aber im Alles-inklusive-Paket elterlicher Ernährungs- und Reinigungskräfte. Eigenverantwortung kann nicht bloß bedeuten, Vater Staat in die Arme zu laufen, nachdem man dem leiblichen entwachsen ist.