Gesetze zur Sicherung des Wettbewerbs sind Lehrbuchbeispiele für die politische Anwendung moderner Volkswirtschaftslehre. Sie gelten als Mindest- und Minimalintervention der Politik, auf die sich auch die marktwirtschaftlichsten Ökonomen einigen können. Beispiele für solche gesetzlichen Interventionen, die rein den Rahmen abstecken und sichern sollen, in dem der freie Wettbewerb dann Wohlstand schaffen könne, sind die Beschränkung und Zerschlagung von Monopolen und der Patentschutz.
Weder für Patente noch für Monopole sind diese Lehrbuchbeispiele aber korrekt. Interessanterweise zeigt insbesondere die US-amerikanische Wirtschaftsgeschichte, dass diese gesetzlichen Entwicklungen zunächst überhaupt nicht von Ökonomen angetrieben wurden. Vielmehr stand in beiden Fällen der Druck von organisierten Interessen dahinter.
Um 1900 hatten viele Ökonomen eine dynamische Marktperspektive, und selbst die schärfsten Kritiker des Wettbewerbs waren keine Befürworter der Antitrust-Gesetze. Vor allem Lobbyisten, etwa der Landwirte und andere Verlierer der Industrialisierung, und mit ihnen verbundene Politiker setzten sich für eine Zerschlagung der erfolgreichen Großunternehmen (trusts) ein. Erst im Nachhinein rationalisierten viele Ökonomen anhand der Theorie perfekten Wettbewerbs diese interventionistischen Gesetze und heimsten so mit politisch opportunen Gerichtsgutachten Prämien ein.
Freilich steht die US-Antitrust-Gesetzgebung mit ihrer offensiven Taktik der Bestrafung oder gar Zerschlagung allzu großer Unternehmen in gewissem Gegensatz zur ordoliberalen Wettbewerbgesetzgebung, die mehr auf den Rahmen und Prozess des Wettbewerbs abzielt als auf seine Ergebnisse. Doch damit ist die Antitrust-Gesetzgebung auch ein klareres Beispiel für den dahinter stehenden politischen Aktionismus. Nachdem in Europa die ordoliberale Tradition praktisch ausgestorben ist, versteht diesen Unterschied eigentlich kaum noch jemand und er ist gänzlich verschwunden. Daher ist die Antitrust-Gesetzgebung heute die Referenz für „Wettbewerbspolitik”, und entsprechend relevant sind ihre Ursprünge. Sie finden sich in der Agitation von Lobbygruppen wie etwa der Farmers’ Alliance.
Was aber bewog Landwirte zu diesem politischen Druck? Die Hintergründe sind spannend und zeichnen beispielhaft die paradoxen Prozesse der Politik nach. Zuerst stehen Interessen und Gefühle, auf die dann erst später die Rationalisierung und Legitimierung durch „Experten” folgt. Das lässt natürlich die Nachfrage nach diesen „Experten” dramatisch in die Höhe gehen. Je mehr Politik, desto mehr sind davon nötig, was die treibenden Kräfte der Akademisierung deutlich macht. So gab es 1880, als die USA noch relativ minimalstaatlich waren, insgesamt nur zehn Vollzeit-Ökonomen in den USA. (A.W. Coats, „The American Political Economy Club,” American Economic Review (Sept. 1961): 621-37). Der Unterschied zu heute ist beeindruckend und beängstigend.
Zum Verständnis der Motivation der Landwirte müssen wir die Geschichte einer außergewöhnlichen Unternehmerfigur betrachten – James J. Hill. Ihm gelang mit der Great Northern in den 1860ern, was vielen anderen Eisenbahnunternehmern vor ihm verwehrt geblieben war: eine transkontinentale Route durch die nördlichen USA, die den Nordwesten ins Schienennetz integrierte. Diesem Ausnahmeunternehmer gelang dies sogar ohne Subventionen und staatliche Landschenkungen, die viele andere Schienenprojekte erst ermöglichten.
Hill war dabei wie viele andere erfolgreiche Unternehmer seiner Zeit kosteneffizienter als seine Konkurrenten. Deren Subventionierung nach gelegter Schienenstrecke hatte zu erwartende negative Folgen: Die Schienen wurden möglichst schnell verlegt ohne Rücksicht auf langfristige Nutzung, um rasch an die Zuschüsse zu kommen. Darüber hinaus waren die Strecken oft unnötig lang und verschnörkselt, um möglichst viele Subventionen zu erhalten. Nicht so bei Hill; dieser war außerdem ziemlich gewieft darin, für langfristige Nachfrage und Auslastung seiner Bahnstrecken zu sorgen. Als sogenannter pump-primer, als Vorreiter, sorgte er nicht nur für die Erschließung des Nordwestens, sondern auch für die Besiedelung.
Der Nordwesten der USA mit seinem vergleichsweise harschen Klima und schwerer zugänglichen Ressourcen war damals das letzte noch nicht richtig erschlossene und integrierte Landstück und macht immerhin etwa ein Sechstel der Fläche der USA aus. Um seiner Bahnlinie laufende Einnahmen zu sichern, bot Hill die Fahrt in den Nordwesten für lediglich zehn Dollar an, wenn die Fahrgäste in der Nähe seiner Strecke als Landwirte tätig werden würden. Eine für beide Parteien vorteilhafte Strategie: die neuen Landwirte bekamen eine billige Anreise, billiges Land und eine gute Infrastruktur. Hill bekam dafür sichere und stetige Einnahmen.
Auf ähnliche Weise schob Hill später – um 1900 – den Export von Baumwoll- und anderen Textilprodukten nach Asien an. Mit „Dumpingpreisen” erschloss er den chinesischen und japanischen Markt für amerikanische Textilproduzenten, um in der Folge mit seinen Eisenbahnen und Dampfschiffen von der regelmäßigen Auslastung zu profitieren. Der Asienhandel Hills kam allerdings zu einem jähen Ende, nachdem in den USA Gesetze zum Tragen kamen, die vorgeblich den Wettbewerb stärken sollten:
Was Hill letztlich mehr noch als Zölle und Subventionen bedauerte, waren die ICC [Interstate Commerce Commission] und der Sherman Antitrust Act. […] Der Hepburn Act, 1906 verabschiedet, stellte es Eisenbahngesellschaften unter Strafe, unterschiedliche Preise für unterschiedliche Kunden zu verlangen. […] Es schadete letztendlich Hill, der jetzt auf Exporte, die auf der Great Northern Richtung Osten transportiert wurden, keine Preisrabatte anbieten konnte. Hill hatte den Japanern und Chinesen Spezialtarife auf amerikanische Baumwolle, Weizen und Eisenbahnschienen gewährt, um sie an amerikanische Exporte zu gewöhnen. (Folsom 1991: S. 35)
Daraufhin sah Hill notgedrungen vom Asienhandel ab und verkaufte schließlich seine Schiffe. Laut Folsom brachen die amerikanischen Exporte nach China und Japan infolge der Gesetzesänderung zwischen 1905 und 1907 um 40 Prozent (41 Millionen USD) ein. Neben dieser Episode, die Burton Folsom in seinem Buch über den Mythos der „Robber Barons” (Raubbarone, eine Schmähbezeichnung für erfolgreiche Unternehmer im 19. und 20. Jahrhundert in den USA) beschreibt, liefert Thomas DiLorenzo in seinem Artikel über die Hintergründe der Antitrust-Gesetzgebung zahlreiche weitere Beispiele für den Druck von Interessensgruppen.
Der Hintergrund des politischen Drucks auf Hill war die Verärgerung der Landwirte. Das ist überraschend, wo es doch ausgerechnet Landwirte waren, die in den Genuss der Rabatte kamen. Doch Lobbygruppen vertreten stets eher die alteingesessenen Branchenvertreter als neue Konkurrenten. Die selektiven Rabatte für Neubauern in einer Zeit, in der Transport und Verkehr noch ein bedeutender Kostenfaktor war, schürten den Neid und die Angst der Alteingesessenen. Sie mussten die vollen Preise bezahlen. Die Rabatte hingegen nahmen sie als „Dumpingpreise” für Konkurrenten war und sahen sich „diskriminiert”. Das ist das Problem jeder Preisdifferenzierung: Sie trifft den Nerv von Fairnessvorstellungen.
Hill galt als Paradebeispiel des „predatory pricing“, einer „bösartigen Preispolitik”. Gemeint ist Preisdifferenzierung, die Rabatte bietet, die teilweise Preise unterhalb der Kosten gewähren. Mit „Politik” im heutigen Sinne hat das freilich gar nichts zu tun. Will ein Unternehmen andere Unternehmen mittels Preissenkungen schwächen, kann eine solche Strategie für ersteres Unternehmen nur so lange gut gehen, wie dieses auch liquide bleibt, um die Verluste, welche über die Preissenkungen entstehen, ausgleichen zu können.
Liquidität beschafft sich dieses Unternehmen vorwiegend über den Kapitalmarkt bei Geschäftsbanken. Ob eine Geschäftsbank einem Unternehmen allerdings Liquidität zur Verfügung stellt, hängt von der Profitabilität des zu belehnenden Unternehmens ab. Eine Bank bemisst die Ertragskraft eines Unternehmens, um deren zukünftige Bonität als Kreditnehmer zu eruieren. Senkt ein Unternehmen nun also seine Preise und generiert damit vorübergehend Verlust, dann muss logischerweise auch dessen Ertragskraft sinken. Sinkt jedoch dessen Profitabilität, sind Banken weniger gewillt, Kredite an dieses Unternehmen zu vergeben. Das Unternehmen hat folglich größere Schwierigkeiten an Liquidität zu gelangen. Diese wäre jedoch eine Voraussetzung dafür, das Verhalten des „predatory pricing” aufrechtzuerhalten.
Im konkreten Fall liegt das doppelte Phänomen des „Dumping” zur Anwerbung von Neukunden vor. Dieses ist Grundlage heute vor allem im Internet bewährter „freemium“-Modelle. Solche Modelle haben überhaupt nichts mit „Marktmacht” oder Wettbewerbsbeschränkung zu tun und werden auch von winzig kleinen Unternehmen eingesetzt. Hill wollte Transportkunden gewinnen durch Förderung von Landwirtschaft und Export. Diese Förderung hat, obwohl sie Hill nutzen sollte, nichts Bösartiges, ganz im Gegenteil ist sie gerade aus US-nationaler Perspektive, die gegen den „bösen” Unternehmer angeführt wurde, günstig.
Ähnlich, aber mit gewichtigem Unterschied, operiert heute der chinesische Staat als Universalunternehmer bei seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße” (siehe Scholien 02/16). Durch künstlich niedrige Wechselkurse wird die Exportindustrie bezuschusst, während die Eisenbahninfraktruktur massiv gefördert wird. Der gewichtige Unterschied liegt darin, dass diese Förderung einerseits zulasten chinesischer Sparer, andererseits zulasten chinesischer Steuerzahler erfolgt. Unternehmer wie Hill müssen ihr „predatory pricing” aus der eigenen Tasche bezahlen – als wirklicher „predator”, als Raubtier, kann also nur derjenige operieren, der sich der Gewalt bedient. Denn unternehmerische Angebote kann man immer ablehnen; auch wenn uns nicht immer behagt, welche Angebote angenommen werden. Aus der Sicht des Konkurrenten sind solche Preismodelle natürlich sehr unangenehm, aus der Sicht des Kunden aber oft ein Segen.
Daran zeigt sich, dass die Wettbewerbspolitik zwar stets mit den Kundeninteressen legitimiert wird, aber selten dem Kundeninteresse folgt. Die immensen Strafzahlungen, welche die EU Microsoft aufgebrummt hat, haben keinem Kunden einen positiven Nutzen beschert – allein den Interessen, die sie durchgesetzt haben. Die Zahlungen gingen direkt an die Obrigkeiten, die sie verordnet haben.