Sowohl Österreich als auch Deutschland gelten als Vorbilder eines Beamtenstaates – eines Staates, in dem das Beamtentum besonderes Prestige genießt, besonders dominant auftritt und große reale Macht innehat. Als Wien das verwaltete Kaiserreich abhanden kam, nahm die Zahl der Beamten nicht ab. Heute gibt es in Österreich mit ca. 600.000 öffentlich Bediensteten mehr als jemals in der Geschichte der k.u.k.-Monarchie – die immerhin ein Weltreich und zweitgrößter Staat Europas war. Das lässt die österreichische Beamtenschaft in geradezu lächerlicher Weise überdimensioniert erscheinen; kombiniert mit dem eigenartigen Titelwahn und der Wiener „Höflichkeit” dürfte Österreich heute in der Wahrnehmung Deutschland den Rang als Beamtenmekka abringen. Die negative Seite der Beamtenmentalität ist die mögliche Verstärkung einer Verhaltensweise, die für den Bürgergeist Gift ist: Nach oben buckeln und nach unten treten.
Zweifellos eignet sich der österreichische Beamte als Paradetyp. Im Vergleich zum k.u.k.-Verwaltungsbeamten war der preußische Beamte aber wesentlich unangenehmer. Die Verbeamtung hatte in Deutschland unter preußischem Einfluss ein gemeingefährliches Ausmaß genommen. Friedrich Sell beschreibt in seinem großartigen Werk „Die Tragödie des deutschen Liberalismus” die zunehmende Verbeamtung Deutschlands:
Seit dreihundert Jahren sind die Deutschen mehr und mehr ein Beamtenvolk geworden, indem sich ein positives Beamtenethos mit einer negativen Beamtenmentalität mischten. Die Bewertung der Menschen nach Rang, Titel und Gehaltsklasse erzeugt einen Geist der Kritik, die Schwächen am anderen sucht, nicht nur um weiter zu kommen, sondern um vor sich selber wenigstens die eigene Überlegenheit zu beweisen. Daher das Bestehen auf der eigenen Meinung, das die deutsche Parteigeschichte so chaotisch machte. Mit dem Mut der opferbereiten Überzeugung hat diese Eigenbrötelei nichts zu tun. Eine solche vorwiegend negative Einstellung zu den anderen ist das Haupthindernis auf dem Wege zur Entwicklung einer liberalen Haltung und eines demokratischen Geistes. Noch immer ist die Hofrangordnung der tödlichste Feind der Demokratie.
Diese Mentalität findet sich in ähnlicher Ausprägung in Österreich, dessen Beamtenschaft – bei allem Ethos – eine fast ebenso bedenkliche Schattenseite aufweist. Letztlich liegen in den Ursprüngen des jeweiligen Beamtencorps jedoch feine Unterschiede begründet – bei relativer Ähnlichkeit im Vergleich zu anderen Staaten. Die preußische Beamtenschaft findet ihren Ursprung in einer Interessensübereinstimmung zwischen lutheranischer Reformation und den Feudalfürsten. Luther stellte seine „Kirche” unter die Aufsicht jener Landesfürsten, die seinen Glauben angenommen hatten. Sell beschreibt die Verbindung von Klerus, Beamtenschaft und Staatskultur:
Nöte und Gefahren der Religionskriege, die das folgende Jahrhundert füllten, gaben ihnen [den Landesfürsten] die Gelegenheit, die Zügel der Regierung straffer anzuziehen und absolutistische Methoden zu entwickeln. […] Die meisten mußten sich auf die Ausbeutung und vorsichtige Ausweitung ihrer Machtmittel beschränken, obwohl niemand etwas gegen einen gelegentlichen kleinen Länderraub hatte. Trotz aller Paraden und Uniformen waren die absolutistischen Kleinstaaten doch auf friedliche Tätigkeit angewiesen. Kultur im weiteren Sinn, nicht Krieg, war ihre Sache. Hier nun profitierten sie von dem engen Anschluß der lutherischen Kirche an den Staat. Die protestantische Kirche benötigte vor allem gebildete Pfarrer, die imstande waren, die Schrift authentisch auszulegen. Der Staat brauchte gebildete Beamte. Luther setzte seine ganze Energie für die Verbesserung des Schulwesens ein, und das protestantische Gymnasium entwickelte sich dank seiner Bemühungen und der Melanchthons, des Praeceptors Germaniae. Hier wurden die künftigen Lehrer, Prediger und Beamten vorbereitet für das Studium auf der Universität. Die einschneidende Neuerung bestand darin, daß ein akademisch gebildetes Beamtentum die höhere Verwaltung einschließlich des Erziehungswesens mehr und mehr in die Hand nahm. Was das bedeutete, macht man sich im modernen Deutschland selten klar, da man seit Jahrhunderten an die Verstaatlichung der Erziehung gewöhnt ist. Der Gedanke einer privaten Universität scheint dem deutschen Akademiker von heute absurd und er bedenkt nicht, daß es in angelsächsischen Ländern die Regel ist. Das Eindringen des Staates in das Gebiet der Kultur wurde befördert durch die wirtschaftlichen Folgen des Dreißigjährigen Krieges, die einen großen Teil des Bürgertums ruinierten. Der unabhängige und freie Künstler verschwand, die ganze Intelligenz kam unter das Patronat der Fürsten. Gelehrte und Künstler waren auf eine „Bedienung” im Staat oder am Hof angewiesen, fürstliches Mäzenatentum wurde die materielle Basis aller Kultur. Der Wille des durchlauchtigen, gnädigen Herrn bestimmte das Leben und Schicksal jedes einzelnen. Das damit unvermeidliche Anwachsen der Servilität ist keine erfreuliche Erscheinung.
Somit bereitete das deutsche Beamtentum den totalitären Staat vor, in dem Nationalkultur kriegstreiberisch nach außen und drückend nach innen überhöht wurde. Die deutschösterreichischen Beamten waren ebenso Erfüllungsgehilfen eines absolutistischen Staates, doch dieser entwickelte sein totalitäres Potential nicht gänzlich aus.
Die k.u.k.-Monarchie war in den oberen Schichten von liberalem Geist durchsetzt, der das „Treten nach unten” und den Militarismus nach außen ein wenig linderte. Schließlich ist die hohe Position des österreichischen Beamtentums auf Joseph II. zurückzuführen. Dieser war ein aufgeklärter Absolutist: sein josephinischer Beamtenstaat sollte im Dienst der Bürger stehen. Seine Reformen, die dem Feudaladel und der Kirche zusetzten, wurden von weiten Teilen des Bürgertums begrüßt. Das war wohl ein ähnlicher Fehler wie die Begeisterung der preußischen Liberalen für den Kulturkampf: Die gewaltsame Modernisierung richtete sich gegen die nichtbürgerliche Bevölkerung und entfachte, insbesondere in den nicht-deutschen Gebieten großen Unmut, der letztlich den Untergang des Reichs beschleunigte – an dessen Stelle nichts Liberaleres oder Bürgerlicheres nachkam.
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