Der Bürgerkrieg wird immer wieder als Motiv bemüht, um Spannungen und Interessengegensätze in einer Gesellschaft zu dramatisieren. Das ist meistens eine fahrlässige Übertreibung. Wenn jedoch bereits bewaffnete Milizen auf den Strassen marschieren und erste Opfer politischer Konfrontationen zu zählen sind, werden viele europäische Beobachter dies als untrügliche Zeichen eines Bürgerkriegs ansehen.
Die Einschätzung vieler Europäer trifft sich mit der eines Teil der amerikanischen Deutungseliten: Privilegierte Amerikaner – die WASPs: weisse angelsächsische Protestanten – würden sich in hinterwäldlerischer Weise gegen den Schmelztiegel USA sträuben und Minderheiten Rechte vorenthalten wollen, so wie einst in den Südstaaten. Diese Deutung enthält einen Kern Wahrheit, ist aber sonst gefährlich irreführend und nährt die Spannungen anstatt sie in multikultureller Harmonie zu beseitigen.
Die Mehrheit der WASPs – immerhin die kulturell prägende Schicht der USA – halten sich selbst für das glatte Gegenteil von privilegiert: für die heute diskriminierten Verlierer. In den wesentlichen Institutionen (z.B. im Supreme Court), an den Universitäten und in der dominanten Pop-Kultur sind WASPs in der Tat unterrepräsentiert.
Während die wohlhabenderen WASPs noch in philanthropischen Zirkeln deutlich präsent sind und sich gewiss nicht unterdrückt fühlen, traf der demografische und politische Wandel weisse Unterschichten hart in ihrem identitären Selbstverständnis. Es ist jene Schicht, die als «white trash» verhöhnt wird. Der Spott folgt auf den Schaden: Es ist auch jene Schicht, deren Wohlstand, Erfolgsaussichten und sogar Lebenserwartung im Sinken begriffen ist. Von den Eliteuniversitäten und damit von den tonangebenden Institutionen sind sie weitgehend ausgeschlossen.
Als Repräsentant suchte sich diese weisse Arbeiterklasse ausgerechnet Donald Trump. Sein Erfolg war die Mobilisierung abgehängter Schichten im ländlichen «flyover country» (vom Küsten-Jet-Set überflogen). Die Verunglimpfung zwischen «white trash» und «white privilege» zeigte ihre rassistische Wirkung: Eine wachsende Zahl sieht sich zugunsten eines «braunen» Amerikas um den amerikanischen Traum gebracht.
Diese Deutung ist so gefährlich wie unsinnig. Die familiären, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen schwarzer Unterschichten entwickeln sich nicht besser, im Gegenteil. Die Zunahme der Menschen mittel- und südamerikanischer Herkunft auf fast 60 Millionen innerhalb weniger Jahrzehnte wird gewiss in Europa unterschätzt, doch an der Bedrängnis der weissen Arbeiter sind Hispano-Amerikaner kaum schuld – nur naheliegende Sündenböcke.
In den USA wächst die Ungleichheit wie in Europa vor allem durch die Geldpolitik. Allerdings ist die Dynamik noch deutlich dramatischer aufgrund des Leitwährungsstatus des Dollars. Die USA kranken an der sogenannten Holländischen Krankheit, jedoch nur in geringem Masse aufgrund der wieder sprudelnden Ölförderung. Der «Ressourcenfluch» der USA ist die Dollarproduktion, welche die Industrieproduktion in den Schatten stellt.
Auch in Europa zeigen ländliche Regionen zunehmend anderes Wahlverhalten als die Städte. Das liegt ebenso wenig wie in den USA an besonderer Rückständigkeit, sondern am Gegensatz zur heute herrschenden Klasse: den Profiteuren der städtisch konzentrierten Geldschöpfung und Geldverteilung durch Staat und Banken. Die Spaltung wächst auch in Europa. In den USA ist sie deutlicher und führt zu schärferen Reaktionen, weil es dort paradoxerweise sowohl mehr Pluralismus als auch mehr Gleichschaltung gibt.
Der Pluralismus liegt an der höheren geistigen Dynamik einer jüngeren Kultur. Das Meinungsspektrum ist deutlich breiter, das intellektuelle Niveau oft tiefer. Moderne europäische Intellektuelle sind meist schaler Abklatsch jener Amerikaner, von denen sie abschreiben. Weil das sehr selektiv passiert, konnten sie auch das Phänomen Trump weder vorhersehen noch verstehen.
Dennoch ist die Gleichschaltung innerhalb der Filterblasen grösser: Das liegt an der Besiedlung der USA durch kleine, homogene, oft puritanische Sekten. Dass der vermeintliche Individualismus in Wirklichkeit nur aus der Vielfalt kollektivistischer Optionen resultiert, innerhalb derer die jeweiligen Mehrheiten strenge Denkverbote exekutieren, hatte schon Alexis de Tocqueville erkannt.
Solange die USA demografisch relativ homogen waren, konnte der Amerikanismus zu einer einenden politischen Religion werden, welche die engen Grenzen der Siedlungskollektive überwand. Schliesslich degenerierte der «Exceptionalism» aber zu einer narzisstischen Kultur, die das ideale Einfallstor für die aktuellen politischen Sekten der Identitätspolitik bot.
Nicht die US-Demokratie scheitert, sondern die US-Republik kippt, wie die Anti-Federalists prophezeit und die Gründerväter befürchtet hatten, in eine Mehrheits-Parteiendemokratie, wie wir sie in Europa gewohnt sind. Prophetisch schien etwa John Adams: «Es gibt nichts, das ich so sehr fürchte, wie die Teilung der Republik in zwei grosse Parteien».
Doch die Parteien sind nicht das Problem, es die Teilung einer Gesellschaft entlang des ethnischen oder religiösen Profils des Medianwählers. Bürgerkrieg droht dann, wenn ein leichter, womöglich zufälliger Mehrheitsüberhang zum Pendel wird, das den Unterlegenen als Existenzbedrohung erscheint. Diese Entartung von «Demokratie» steht hinter vielen ethnischen Säuberungen der Moderne, die Mehrheitsverluste um jeden Preis verhindern sollten. In Europa scheint uns uneingeschränkte Mehrheits-Parteienherrschaft noch harmlos oder gar als Ideal, weil die Homogenität innerhalb der Nationen noch höher ist.
Die rassistische Apartheid in den Südstaaten war eine Folge der Angst vor den politischen Folgen des demografischen Gewichts der nun freien Schwarzen. Das Pendel musste umschlagen. Die politische Korrektheit und Identitätspolitik mit ihren Doppelstandards ist Klassenkampf um einflussreiche Positionen, bei der eine überwiegend weisse Oberschicht jede andere Ethnie und Identität gegen die weisse Unter- und Mittelschicht ins Feld führt.
Der bedrohliche Gegensatz zu Europa liegt im Kampfgeist dieser Schichten, die sich von den Eliten des Landes verraten fühlen, und im noch höheren Dünkel jener Eliten. Letzteren steigt die Weltgeltung schnell zu Kopf. Ihre Eliteuniversitäten bieten zwar dank grosser Finanzmittel und der intellektuellen Selbstzerstörung Europas im letzten Jahrhundert die weltbesten Orte für kostspielige Forschung. Doch ihre Zertifikate verkommen zu teuren Statusgütern.
Erstere, die abgehängten Schichten des «Middle America», halten sich für die eigentlichen Repräsentanten der USA. Sie stehen für den alten Amerikanismus einer Ausnahmenation, in der siedelnde Pioniere auf Selbstregierung pochen. Ihr Auftreten ist martialisch, aber defensiv. Missverständnisse werden zu Toten führen.
Bürgerkrieg wird es deshalb keinen geben, womöglich aber eine dauerhafte Spaltung der USA. Mit dieser werden die Amerikaner allerdings produktiver umgehen können als die Europäer bei den sich in und zwischen ihren Nationen abzeichnenden Spaltungen. Die geringere Dynamik verzögerte diese zwar, doch wird sie auch Auswege lähmen. Wir sollten nicht überheblich auf die USA blicken, sondern lernen.Die USA vor dem Bürgerkrieg