Gerade in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und stagnierender Wirtschaft setzen immer mehr Politiker, Akademiker und Journalisten Hoffnung in Unternehmensgründungen. Start-ups befinden sich in einer Hausse, die an die Hochstimmung der Dotcom-Blase erinnert. Solche jungen, dynamischen und kreativen Gründungen lassen sich am besten definieren als unternehmerische Lernexperimente mit dem Ziel, skalierbare Geschäftsmodelle zu entdecken. Sie sind schwer bewertbar und entziehen sich den meisten herkömmlichen Methoden der Betriebswirtschaftslehre und des Managements. Das Silicon Valley gilt dabei als Vorzeigemodell einer dichten Gründerkultur, die Innovation und Arbeitsplätze verspricht. Ließe sich nach diesem Vorbild auch anderswo eine vergleichbare Gründungskonzentration schaffen, die kreative Ideen mit einem Netzwerk von Investoren zusammenbringt?
Leider dominieren zahlreiche Missverständnisse und Verzerrungen dieses Feld junger Skalierversuche. So ist das grundlegende Versprechen, jungen Menschen, denen in Europa der Eintritt ins Berufsleben zunehmend schwerfällt, durch die Förderung der Gründung von Unternehmen Beschäftigung zu verschaffen, eine verheerende Täuschung. Gut bezahlte Arbeitsplätze, die voll besteuert und versichert sind, entstehen eher durch Erweiterung von Konzernen als durch Neugründungen. Die Empirie zeigt selbst für die gründungsfreundlicheren USA ein erschreckendes Missverhältnis: Durchschnittlich 43 Unternehmensgründungen sind nötig, um letztlich neun Arbeitsplätze zu schaffen, die länger als zehn Jahre Bestand haben. Das liegt vor allem an der hohen Quote des Scheiterns von Neugründungen (je nach Schätzung sechs bis neun gescheiterte von zehn Gründungen).
Skalieren bedeutet immer auch das Hebeln von Risiko. Skalierversuche haben oft den Charakter von binären Wetten, die entweder großen Gewinn oder Totalverlust bedeuten. Andererseits ist Skalierung die Voraussetzung für zusätzliche Arbeitsplätze, da nur hochskalierte Produktivität die hohen Steuern und Lohnnebenkosten erwirtschaften kann. Nichtskalierende Unternehmen von Selbständigen, etwa Handwerkern, Künstlern und Ärzten, bieten nur wenig Beschäftigung – weisen aber auch ein wesentlich geringeres Verlustrisiko auf. Die spezifische Förderung von Start-ups als Beschäftigungspolitik darzustellen, ist also Irrtum oder Irreführung.
Gewiss ist Selbständigkeit die wesentliche Alternative zu einem Arbeitsplatz. Deshalb wird steigende Arbeitslosigkeit durchaus ein wenig durch höhere Selbständigenquoten aufgefangen. Letztere sind aber in der Regel ein Indikator für niedrige Produktivität. Die höchste Selbständigenquote haben unterentwickelte Wirtschaftsräume, in denen Subsistenzwirtschaft und Kleinstunternehmertum vorrangige Tätigkeiten darstellen. Eine niedrige Selbständigenquote ist heute zwar ein Indikator für die höhere Kapitalintensität einer Wirtschaft, dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich führen zahlreiche künstliche Skaleneffekte zu einer Senkung der Selbständigenquote, ohne dass echte Produktivitätsgewinne dahinterstehen. Der stärkste künstliche Skaleneffekt ist die Kreditmengenausweitung in der Hausse, die durch überhöhte Lohnabhängigkeit gekennzeichnet ist, die dann in der Baisse zu schmerzhaften Korrekturen führt. Sobald das Wachstum stagniert, kündigt sich daher eine wachsende Selbständigenquote an, die schnell als Lichtblick unter den sonst negativen Schlagzeilen gilt, was die plötzliche Begeisterung für das Unternehmertum seitens der Politik, der Medien und der Bildungseinrichtungen erklärt.
Ohne die künstlichen Skaleneffekte im Zuge der gegenwärtigen massiven Verzerrung der Wirtschaftsstruktur wäre die durchschnittliche Unternehmensgröße kleiner und daher die Selbständigenquote – auch bei kapitalintensiver Produktion – höher. Eine höhere Selbständigenquote ist in der Tat ein Wert für sich, da sie mehr Menschen erlaubt, etwas Eigenes aufzubauen. Das Aufbauen, Gestalten, Entwickeln und Führen eigener Projekte und das Leben einer Berufung stiften Sinn. Nach Viktor Frankl ist dieses «Schaffen» einer der Königswege zu einer sinnerfüllten Existenz. Die Sehnsucht nach dem Eigenen macht auch den wesentlichen Reiz des Gründens aus. Leider schafft die Start-up-Kultur hier aber ein unüberwindliches Paradoxon: Zwar ist jede Neugründung für den engeren Gründerkreis zunächst tatsächlich identitäts- und sinnstiftend, doch ihr Zweck als Start-up ist die Skalierbarkeit, und das bedeutet eben im Erfolgsfall ein Aufblähen dieses Identitäts- und Sinnbezugs auf immer mehr immer entferntere Menschen. Die logische Folge von Skalierung ist, dass mehr Menschen an Unternehmen mitarbeiten als Unternehmen gründen, gestalten und verantworten.
Start-ups sind zweifellos großartige Lernerfahrungen für die Gründer, zumal sie ja – richtig verstanden – Lernunternehmen sind. Sie sind konkrete Umsetzungs- und Problemlösungsversuche und haben daher viel Potenzial, die Welt zu bereichern und das Leben der Mitmenschen ein wenig zu verbessern. Gefährlich ist bloß die Verzerrung, die jedem Hype innewohnt. Besonders die politische Entdeckung der Start-ups als ideale, medial attraktive Projektionsfläche einer Symbolpolitik in Krisenzeiten schadet dem realen Unternehmertum. Mittlerweile sind Subventionen für die Gründung von Unternehmen schon so sehr die Regel, dass die erste Frage von potenziellen privaten Investoren an ein junges Unternehmen oft ist, ob schon alle Förderungen abgegriffen wurden. Ohne diesen staatlichen Hebel, der wettbewerbsverzerrend wirkt, wollen immer weniger Investoren privates Kapital riskieren.
Jede Förderung entbindet ein Unternehmen allerdings etwas von der Marktdisziplin, wodurch seine Lernfähigkeit gefährdet wird. Es entstehen dann geförderte Parallelwelten, die zwar das Etikett des Unternehmertums führen, damit real aber immer weniger zu tun haben. Solche Parallelwelten, bei denen die schönen Worte, die guten Intentionen und die richtigen Kontakte immer wichtiger werden als der konkrete Dienst an konkreten Kunden, führen die Lernversuche in die Irre. Nach Wegfall der Förderung läuft das Unternehmen dann oft aus, wenn die letzten Mittel ausgegeben sind. Solche Start-up-Förderung ähnelt eher Künstlerstipendien. Es handelt sich um Zuschüsse zur individuellen Selbstverwirklichung, die sich hier eben in der Schaffung einer Corporate Identity als Selbstzweck ausdrückt: Visitenkarten, Büros und Websites.
Die Überbetonung der Kreativität solcher Gründungen ist ein weiteres bedenkliches Symptom. Natürlich ist vieles an der Gründerkreativität real, es handelt sich um ehrliche Gestaltungsversuche von Marken, Prozessen, Auftritten, Arbeitsformen, Orten, Technologien und Kundenerfahrungen, die viel Wertschöpfungspotenzial aufweisen. Doch die Überbetonung der Ideen ist oft ein Hinweis auf einen schwindenden Kapitalstock.
Tatsächlich ist Kapital knapper als Ideen: Ideen sind weniger beschränkt als die realen Mittel und der zur Entscheidung und Umsetzung nötige Mut. Der reale Kapitalmangel trotz der nominalen Liquiditätsexplosion kann durch übertriebene und kurzfristig orientierte Skalierungsversprechen und -erwartungen, die Unternehmensgründungen letztlich zu einer Lotterie machen, eine Weile überdeckt werden. Dann verkommt das Unternehmertum zur Selbstverwirklichung von wohlhabenden oder subventionierten Jugendlichen, die mehr auf Hochgeschwindigkeits-Marketing als auf realen Kundennutzen setzt und nur eine Weile über den erschwerten Eintritt in den Arbeitsmarkt hinwegtröstet.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.