Demokratie ist heute in Europa die deutlichste Scheidemarke zwischen gut und böse. Demokratiefeinde gelten als größte Bedrohung. Schon die Demokratiekritik zählt zu den Anfängen, deren man wehren soll, um zu verhindern, Freiheit und Wohlstand vergangenen Irrwegen zu opfern. Welche Kritik aber ist zulässig?
Demokratie ist ein altes Wort, aber in seiner moralischen Aufladung ein moderner Begriff. Diese Aufladung erfuhr er nach dem Wahnsinn des letzten Jahrhunderts. Die Erleichterung war groß, nach dem Blutbad eine politische Struktur zu finden, die gewaltlose Machtwechsel erlaubt. Die Sorge, mit dem Sterben der letzten Zeitzeugen die Nachkriegsordnung wieder gleichgültig zugunsten einer Vorkriegsunordnung aufzugeben, ist berechtigt.
Eine Bewertung ist aber viel schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Die Nachkriegsordnung ist viel mehr als die politische Struktur, beide korrelieren zwar miteinander, doch so klar ist die Kausalität nicht. Es handelt sich um zwei Ebenen: erstens die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, die überraschend große Parallelen zwischen politisch und kulturell unterschiedlichen Ländern zeigt, zweitens die institutionelle Struktur, bei der insbesondere hinsichtlich der relevanteren Realverfassung deutliche Variationen in Raum und Zeit vorliegen.
Damit endet die Komplexität aber nicht, sondern fängt im Begrifflichen erst an. Die dritte Ebene ist die Frage, in welchem Ausmaß die Institutionenstruktur den Begriff Demokratie verdient: Sind westliche Demokratien perfekte Vorbilder für die Welt, reformbedürftig, eingeschränkt? Kann man zum Schluss gelangen, dass es sich um keine Demokratien oder gar das Gegenteil von Demokratien handelt? Solche Schlussfolgerer werden heute schnell zu den Demokratiefeinden gerechnet, doch das wäre begrifflich absurd. Schließlich sei ergänzt, dass letztere Position die traditionell linke war, meist mit dem Hinweis, dass ohne „Demokratisierung“ der Produktion von Demokratie keine Rede sein könne.
Die vierte Ebene ist zu guter Letzt die moralische: die Frage nach der Bewertung von Demokratie, die heute im medialen und akademischen Diskurs des Westens eben nahezu universell positiv beantwortet wird. Diese vierte Ebene ist weit weniger relevant als die anderen drei Ebenen. Es handelt sich um ein Werturteil zu einem Begriff, der ohne Klärung der anderen Ebenen völlig in der Luft mehrtausendjähriger Ideengeschichte hängt. Das Werturteil sagt vor allem etwas über den Urteilenden aus: Er widersetzt sich dem medial-akademischen Diskurs, ist daher konträr eingestellt. Er hat das Vertrauen in die Diskurseliten verloren und dadurch auch deren Vertrauen nicht mehr verdient. Die vierte Ebene dient also als eine weitere Daumenregel zur Unterscheidung von Staatsbürgern, mit denen noch ein Staat zu machen ist, und Wutbürgern, die mangels Institutionenvertrauen gefährlich werden könnten.
Ohne diese politische Relevanz wäre die Frage nach der Bejahung oder Ablehnung von Demokratie aufgrund der Breite und Unklarheit des Begriffs nicht so einfach zu beantworten. Sie käme anderen irrelevanten Meinungsfragen gleich: Bist du für oder gegen Sicherheit? Für oder gegen Freiheit? Auf die Definition und den Kontext kommt es mehr an als auf den Begriff.
Schließlich kann man die aktuelle Struktur ablehnen, weil man sie für eine Demokratie hält, aber auch, weil man sie für keine Demokratie hält. Man kann sie ablehnen, weil man die aktuelle Ordnung ablehnt, als deren Garant oder Voraussetzung man die Struktur sieht, oder weil man die aktuelle Ordnung bejaht gegenüber der Ordnung, auf welche die Struktur hinwirkt. Schließlich kann sich die Ablehnung allein auf die Realverfassung, die Verfallsform einer Struktur richten, oder man kann die Realverfassung für besser als die formale Struktur halten.
Was ist nun wahr? Eine ideengeschichtliche Deutung der Demokratie, mit alten Griechen als Kronzeugen, wird überraschend deutliche Gegensätze zwischen der Institutionenstruktur, insbesondere in heutiger Realverfassung, und alten demokratischen Idealen konstatieren. Doch Begriffe sind außerhalb der Wissenschaft auch Wörter im öffentlichen Diskurs, und bei Wörtern auf Definitionen zu verharren, die dem Gebrauch widersprechen, hat nur die Folge, sich dem Diskurs zu entziehen.
Das ist zwar oft die bessere Wahl, aber folgen wir hier dem allgemeinen Gebrauch und versuchen wir, das Wort zu fassen. Die aktuell brauchbarste Minimaldefinition wäre wohl: Demokratie bedeutet, Mehrheitsentscheidungen von per Mehrheitsentscheid gewählten Repräsentanten als Entscheidungsregel anzuerkennen für alle Entscheidungen, für die sich die Repräsentanten zuständig halten, außer es geht um bestimmte per Zweidrittelmehrheit der Repräsentanten festgelegte Grundregeln, die auch nur mit Zweidrittelmehrheit zu ändern sind.
Ich halte diese prozedurale Regel für fair wiedergegeben, weil im Geiste der dominanten Rechts- und Staatsphilosophie des Positivismus abstrahiert. Dennoch fällt dabei auf, wie absurd eine moralische Bewertung solcher Regeln scheint. Tatsächlich kann sich die moralische Aufladung und Sorge nur auf die Ordnung oder die Struktur beziehen, und die Regel wird indirekt durch den vermuteten Kausalzusammenhang moralisch bewertet.
Ist die Nachkriegsordnung die beste aller Welten, ein mögliches gutes Ende der Geschichte? Wer gefährdet sie? Entstand sie wegen oder trotz der aktuellen Institutionenstruktur? Oder ist die aktuelle Struktur in ihrer Realverfassung mittlerweile dabei, sich ins Gegenteil jener Struktur zu verkehren, die eigentlich den Nachkriegswohlstand brachte?
Die vermutete Kausalität, die die moralische Bewertung der Entscheidungsregel gut erklärt, läuft wie folgt: Demokratie ermöglicht eine gute Institutionenstruktur, diese ermöglicht eine Nachkriegsordnung in Wohlstand und Freiheit. Was, wenn die Kausalität genau umgekehrt war? Die Nachkriegsordnung nährte eine Institutionenstruktur, die so robust war, dass trotz Mehrheitsregeln wenig Gewalt ausbrach?
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.