Zuwanderung ist das derzeit gewichtigste Thema in den Nachbarländern der Schweiz, es entscheidet über den Ausgang von Wahlen. Allerorts lehnen wachsende Mehrheiten unregulierte Zuwanderung ab, doch die Institutionen scheinen nicht in der Lage, diesen Wünschen zu entsprechen. Teilweise fehlt der Wille, denn die Ablehnung der Zuwanderung wird durch politische, akademische und mediale Eliten als Charakterdefizit und Rückwärtsschritt von einem Europa der offenen Grenzen interpretiert.
Dem Wähler sei nicht zu trauen, da sein Bewusstsein sich allzu leicht durch «Fehlinformation» und kurzsichtige Eigeninteressen vergiften lasse. Die Folge sind ein volkserzieherischer Zugang vieler Leitmedien und eine Moralisierung der Zuwanderung, die zur Spaltung der Bevölkerung beiträgt.
Für die Schweiz steht eigentlich noch viel mehr auf dem Spiel. Daher ist es dringend geboten, zumindest von den Erfahrungen Deutschlands und Österreich zu lernen. Eigenständigkeit und Erfolgsgeschichte der Schweiz könnten durch falsche Weichenstellungen an ein Ende kommen, denn sowohl wachsende Ablehnung der Zuwanderung als auch wachsende Zuwanderung bedrohen die Schweiz. Das Dilemma löst sich auf, wenn Zuwanderung – wie es schon der gesunde Menschenverstand empfiehlt – als verschiedene Phänomene differenziert wird.
Die Schweiz erfährt die meiste Zuwanderung von Arbeitskräften und Unternehmern, während in Deutschland und Österreich die meiste Zuwanderung in die Sozialsysteme geht. Der christliche Universalismus – so wohltuend seine historische Wirkung – erschwert die dringend nötige Differenzierung weiter. Doch reine Gleichbehandlung ist schwerste Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit fordert suum cuique, die angemessene Behandlung. Unterscheidung ist stets nötig, sie darf nur nicht grundlos und unangemessen sein.
In der Schweiz kompliziert sich das Bild, weil durch die finanzkräftigeren Zuwanderer ein Symptom unmittelbarer sichtbar wird: die enorme Preissteigerung des Wohnraums. Das nährt Skepsis und Ablehnung auch gegenüber Zuwanderern, die netto gewiss mehr zu den sozialen Töpfen beitragen. Märkte reagieren eben schneller als Zuteilungssysteme. Die Überlastung der öffentlichen Infrastruktur und der Sozialsysteme in Deutschland und Österreich wird mit viel grösserer Verzögerung sichtbar.
Doch die schneller sichtbare massive Teuerung des Wohnraums ist keineswegs nur den Zuwanderern anzulasten. Immobilien in einer relativ (rechts-)sicheren und wirtschaftlich produktiven Lage sind bei steigender Geldmenge immer auch Anlegerasyl. Die regulatorische und räumliche Begrenzung hält das Angebot knapp relativ zur Geldschöpfung der Banken.
Die mangelnde Differenzierung nicht nur in der Politik, der medialen und der kirchlichen Moralisierung, sondern auch in der öffentlichen Meinung bedroht in der Gegenreaktion das Erfolgsrezept der wirtschaftlich vorteilhaften Zuwanderung. Doch die Schweiz wäre als in der Swissness abgeschlossener Agrarstaat – als grosses Reservat – genauso wenig überlebensfähig wie als Selbstbedienungsladen. Letzteres ist der Weg, der in Deutschland und Österreich beschritten wurde. Die Rechnung wird nun nach und nach präsentiert, und sie ist so erschreckend hoch, dass nur noch die blindesten Ideologen und zynischsten Interessensgruppen die «Willkommenskultur» hochhalten.
Echte Willkommenskultur zeigt auch die Schweiz entgegen allen Unkenrufen. Schweizer waren Gäste aus dem Ausland und sprachliche wie konfessionelle Vielfalt immer schon gewohnt, daher ist die Integration von denjenigen, die die Vorzüge der Schweiz dankbar zu schätzen wissen, problemlos. Jeden unterschiedslos willkommen zu heissen, wäre abstrakte Universalisierung, wie sie nur Menschen mit wenig Berührung zur Realität einfallen kann. Es ist eben ein grosser Unterschied, ob ich die Tür freiwillig für einen Besucher öffne, der meinen Haushalt bereichert, oder die «Bereicherung» als Zuteilung von oben erfahre.
Hier eben läuft die Zuwanderung fehl: als Planwirtschaft von oben. Diese ähnelt in der Konsequenz dem totalitären Sozialismus, der auch Wohnraum requirierte. Zuerst werden willkürlich von der Politik Bedürftige definiert und dann einfach Gemeinden zugeteilt. Ein deutlicherer Verstoss gegen Schweizer Prinzipien ist kaum möglich.
Der abstrakt-formalistische Universalismus, der selektiv und von oben herab Bedürftige moralisch höher stellt, muss mittlerweile als eine der verheerendsten christlichen Häresien der Neuzeit bewertet werden. Diese Häresie hat auch den Begriff des Asyls völlig ausgehöhlt, unter dem nun unterschiedslos und kollektivistisch Bedürftigengruppen pauschal behauptet werden. Dass der Anteil der Nutzniesser und sogar der Verfolger unter den vermeintlich Verfolgten erschreckend hoch ist, muss jedem klar sein, der sich für die betroffenen Kulturen und Individuen wirklich interessiert und nicht nur abstrakten Fantasien folgt.
Den deutschen, den österreichischen und den EU-Institutionen fehlt durch Bürger- und Marktferne das Gespür, den abstrakten Automatismen zu entkommen. In Reaktion auf die Ablehnung der Zuwanderung folgt die Schlechterbehandlung der greifbaren, ehrlicheren, folgsameren Zuwanderer. Die Behandlung bei Aufenthaltsgenehmigungen ist etwa in Österreich weit schikanöser als in der Schweiz. Die unbeabsichtigte Besserbehandlung der risikofreudigsten, unehrlichsten, kriminellsten Zuwanderer hat eine Negativselektion eingeleitet, die auf alle abfärbt und die Wut mehrt.
Fast alle früheren Zuwanderer lehnen die jüngere Negativzuwanderung ab und schütteln den Kopf über diese Kombination von Naivität und bürokratischem Formalismus mit Zuteilungsautomatik. Auch die Integrationsbereitschaft in Gesellschaften, die so ohnmächtig abgedankt haben, sinkt. Neuere Zuwanderer bezeichnen Deutsche und Österreicher folgerichtig als «Opfer». Der Begriff ist mit seinem theologischen Geschmäckle erstaunlich treffend gewählt.
Die moderne Zuwanderungspolitik ist in der Tat ein Opferkult. Durch Definition, Inszenierung und Bewirtschaftung von Bedürftigen mehren Einheimische Status und Einkommen und opfern dafür die Lebensqualität und die Sicherheit der weniger begünstigten Bürger. Nicht die offenen Grenzen sind das Problem, nicht Migration an sich, und schon gar nicht «Rassismus» und «Fremdenfeindlichkeit» in Gesellschaften, die im weltweiten Vergleich zu den fremdenfreundlichsten zählen dürften. Mangelnde Differenzierung und Bedürftigenbewirtschaftung auf fremde Rechnung sind das eigentliche moralische Versagen, das umso frecher ist, als es sich als alternativlose Spitzenmoral geriert. Wenn Politik, Prediger, Journalisten und NGO nicht zum nötigen Realismus zurückfinden, wird sich die Realität eben zu spät und zu schmerzhaft in Erinnerung rufen.
Der einzige Weg, die reale Schweizer Willkommenskultur, die bereichernde Zuwanderung und die Offenheit in schwierigere Zeiten zu retten, ist eine klare Absage an die steuerfinanzierte Inszenierung der Zuteiler als moralische Helden und die Verurteilung bürgerlicher Skepsis als unmoralische Fremdenfeindlichkeit. Sollte in einem Nachbarland wirklich ein Krieg oder eine Katastrophe Menschen ausweglos über die Grenze treiben, wird die Schweizer Hilfsbereitschaft auch ohne politisch-medialen Druck zweifellos hoch sein. Gemindert wird diese Hilfsbereitschaft erst durch den Druck und die Überdehnung des Asylbegriffs.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.