China hat eine biologische Waffe geschaffen und verheimlicht Tote! Sie wurden von den Amerikanern hereingelegt, die von der Schwächung ihres Konkurrenten profitieren! Nun profitiert aber China, hat die Amerikaner also quasi retour hereingelegt! Merkel hat die Bedrohung heruntergespielt und wieder einmal Handlungsunfähigkeit bewiesen! Die gleichgeschalteten Massenmedien schaffen Panik, um die Neue Weltordnung vorzubereiten! Johnson, Trump und Bolsonaro waren schlau genug, nicht darauf hereinzufallen! Alle Staaten der Welt verschwören sich, damit die Globalisierungseliten vom entstehenden Chaos profitieren! Das wahre Ausmaß des Horrors wird verheimlicht, es handelt sich nämlich nur um leichten Schnupfen!
Die Welt ist oft widersprüchlich und paradox. Doch Widersprüche und Paradoxien sind Wegmarken der Erkenntnis, sie sind die Ritzen in den Brettern vor unseren Köpfen. Manche Bretter sind leider so vernagelt, dass kein Licht mehr durchdringt. Dieses Phänomen ist im heutigen Sprachgebrauch mit dem eigentlich völlig unpassenden Begriff „Ideologie“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um Weltbilder, die schematisch sind und über die Welt gelegt werden. Sie decken Widersprüche ab und fokussieren nur auf Fakten und Deutungen, die dem Schema entsprechen.
Ideologie ist ein Minderheitenphänomen. Die meisten Menschen sehen die Welt durch die Brille ihrer Emotionen. Das ist nicht dramatisch, so sind wir konstruiert. Emotionen sind evolutionär entstandene kognitive Hilfsmittel, die uns handlungsfähig machen. Die Vernunft wäre völlig überfordert, wenn sie die Ungewissheit der Welt allein zu schultern hätte, sie würde in Ohnmacht verharren. Je wohlhabender und entwickelter eine Gesellschaft, desto mehr Platz hat die Vernunft, weil das Handeln arbeitsteiliger wird und jeder Einzelne weniger zu wissen und zu entscheiden hat und dennoch überleben kann. Dieses überraschende Paradoxon hatte übrigens Friedrich August von Hayek erkannt.
Emotional fürchten wir das vermeidbar scheinende, aber ungewiss Drohende am meisten. Das war einst eine überlebenswichtige Intuition, heute füttern uns die Medien aber mit so viel irgendwo Drohendem, dass in regelmäßigen Abständen Panikwellen durch die Gesellschaft gehen, die meistens ohne Grundlage sind, wie etwa die nahezu kollektive Angst vor potentiell freigesetzter Radioaktivität von Atomkraftwerken bei gleichzeitigem Ignorieren der ständig präsenten natürlichen Radioaktivität. Manche haben deshalb schon einen Filter gegen diese Panikwellen entwickelt. Wenn bei jedem Pudel „Wolf!“ geschrien wird, bedeutet das aber nicht, dass es keine Wölfe mehr gibt.
Die Mehrheit der Bevölkerung scheint aus Angst vor einer Ansteckung scharfe, bis vor kurzem undenkbare Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Begleitet wird dies von einer anderen Emotion, die für die Menschheitsentwicklung wichtig war, das Zusammengehörigkeitsgefühl. Emotionen lassen sich leicht ausnutzen, so auch diese. Meistens bedeutet sie Mitläufertum und Abweichlerdenunziation.
Beide emotionale Begründungen sind rational falsch. Die Letalität des neuen Virus ist gering, wohl nicht viel höher als die der Grippe. Das Zusammengehörigkeitsgefühl bedeutet meist Staatsgläubigkeit, obwohl westliche Staaten völlig versagt haben. Doch sogar in diesem Fall ist die Emotion der meisten (der Mehrheit) der Ratio der meisten (der Minderheit) überlegen.
Rationalisten hängen nämlich meistens Ideologien an. Ideologen wittern stets Verschwörungen, weil sie die Klarheit ihres Schemas mit eindeutigen und überblickbaren Kausalitäten für ein Muster der Welt halten. Ideologen lassen sich von der Realität nicht verunsichern. Mit Akribie suchen sie Belege für ihr Weltbild. Andersdenkende halten sie für dumm oder bösartig.
Die Ratio hält der Pandemiepanik die geringen Todeszahlen entgegen und die horrenden Kosten der Eindämmungsversuche. Die Mehrheitsgesellschaft, die eher Druck auf die Politik ausübt als durch Politik unterdrückt zu sein, scheint völlig den Verstand verloren zu haben. Leider blendet die Ratio dabei aus, welche realen Erfahrungen in diesem Fall eine Panikwelle ausgelöst haben, die nach und nach fast alle Staaten der Welt erfasst, und welche Schutzfunktion hier die Emotion hat.
Exponentielle Entwicklungen überfordern die Ratio der meisten Menschen. In diesem Fall führt leider die – aufgrund der meist milden Symptome und der symptomlosen Viralität – besonders steile Ansteckungskurve zu einer Überlastung der Krankenhäuser. An der Seuchenfront überwältigt ein plötzlicher, rasant wachsender Schub von Intensivpatienten die Ärzte, die als Erste traumatisierende Erfahrungen machen – denn sie werden plötzlich zu Rampenselektoren. Krankenhausüberlastung führt zu dramatisch steigender Letalität. Es folgt die Traumatisierung der Angehörigen der meist alten Versterbenden: Die Eltern oder Großeltern ersticken bei vollem Bewusstsein, getrennt von der Familie, oft ohne Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Diese Erfahrungen sind zu vergleichen mit der Realität, dass es jenen Gesellschaften, die Epidemiekompetenz aufgebaut hatten, in erstaunlich kurzer Zeit gelungen ist, diese Traumata zu verhindern – aufgrund raschen und konsequenten Handelns mit weit geringeren Einschränkungen von Leben und Wirtschaft.
Wir wissen noch wenig über das Virus. Es kann verschwinden, aber auch mutieren. Eine Ansteckung kann immunisieren oder die Letalität einer zweiten Ansteckung erhöhen. Todeszahlen können sich unter dem Ausmaß der Grippetoten einpendeln oder in die zig Millionen gehen. Wir haben die Wahl zwischen schmerzhaftem Stromschlag und Russischem Roulette. Bei Letzterem ist die Letalität in sechs von sieben Fällen sogar null, und nach dem Stromschlag könnte sich immer noch eine Kugel lösen. Die Ratio tut sich bei so einem Dilemma schwer, neigt zu ohnmächtigem Zögern oder rationalisierter Scheuklappe.
Nicht Angst, sondern Sorge vor dem Weitertragen einer Ansteckung, nicht Untertänigkeit, sondern Eigenverantwortung sollten uns zur Selbstquarantäne und Kontaktvermeidung bewegen. Davon die Ratio aller Rationalen rechtzeitig zu überzeugen, wird aber nicht gelingen.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei