Wir könnten es aktuell mit der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten zu tun haben, denn sie ist eine mehrfache: Erstens, die Pandemie mit ihren katastrophalen direkten Folgen für Tourismus, Dienstleistungssektor und Handel. Zweitens, ein Ölpreisschock mit geopolitischen Hintergründen. Drittens, ein Schock durch Lieferkettenunterbrechung aufgrund großer Abhängigkeit von just-in-time-Produktion und fernen Produzenten. Viertens, eine Vertrauenskrise durch abweichende Gefahreneinschätzung und die Uneinigkeit, ob sich westliche Regierungen Fahrlässigkeit oder Panikmache zur massiven Einschränkung bürgerlicher Freiheit zuschulden kommen lassen. Fünftens, die letztlich unausweichliche Korrektur einer überdehnten Alles-Blase, in der die traditionellen Instrumente der Geldpolitik ausgeschöpft sind.
Kein „Schwarzer Schwan“, sondern Folge abnehmender Lernfähigkeit der Gesellschaft
Wir haben es mit einem Schicksalsschlag zu tun, allerdings nicht mit einem „Schwarzen Schwan“. Keine der Krisen war für sich genommen unvorhersehbar, am wenigsten die Pandemie. Eine Studie im Auftrag des deutschen Bundestages hatte bereits 2012 das Szenario einer Pandemie durch ein SARS-ähnliches Virus ausführlich analysiert und durchgerechnet, mit erschreckendem Ergebnis. Niemand geringerer als Bill Gates warnt seit vielen Jahren eindringlich. Der aktuelle Schock verweist also auf tiefer liegende Probleme – nämlich die Abnahme gesellschaftlicher Lernfähigkeit. Diese könnte nun im Zuge der Krisenintervention noch weiter abnehmen, was die langfristig größte Gefahr darstellt.
Der wesentliche Treiber höherer Lebenserwartung bei höherer Lebensqualität ist steigender Wohlstand, entgegen aller Romantisierung des früheren Lebens „im Einklang mit der Umwelt“
Der Wirtschaftsschock durch Reise- und Ausgangssperren hat natürlich auch gesundheitliche Auswirkung, was viele übersehen. Gesundheit und Wirtschaft sind keine Gegensätze. Der wesentliche Treiber höherer Lebenserwartung bei höherer Lebensqualität ist steigender Wohlstand, entgegen aller Romantisierung des früheren Lebens „im Einklang mit der Umwelt“. Die Folgen der Verarmung aufgrund der gesetzten Maßnahmen sind unsichtbar, und daher leicht zu übersehen. Ökonomen könnten geneigt sein, gegenzurechnen – doch berechnen lässt sich in dem Fall nichts. Man könnte den wirtschaftlichen Schaden und potenzielle Todeszahlen vergleichen – aber das ist ein Vergleich, den wenige für moralisch vertretbar halten würden. Doch so einfach abzuweisen ist die Sache auch nicht: es handelt sich tatsächlich um ein Dilemma.
Einerseits hat der wirtschaftliche Schaden eben wohl unsichtbare, aber doch direkte Auswirkung auf die Lebenserwartung und wird durch komplexe Effekte gewiss manche Leben kosten: z.B. ermordete Ehefrauen und Selbstmorde, erhöhte Gesundheitsbelastung durch Sonnenmangel, Bewegungsmangel, einseitige Ernährung, die nur teilweise und an manchen Orten kompensiert wird durch sinkende Gesundheitsbelastung durch sich verbessernde Luftqualität. Andererseits ist dieser Schaden linearer als die verglichene Gegenseite: die Szenarien der Nichtintervention bei aktuellem, unvollständigem, Wissensstand.
Die exponentielle Zunahme der Intensivpatienten ist das Problem.
Wenn man nur die momentanen Tode im Westen vergleicht, ist der Schaden der Maßnahmen für Leib und Leben mit Gewissheit höher. Doch alle Contrarians, die solche Vergleiche aufstellen, blenden die traumatisierende Erfahrung an der Seuchenfront aus: Nicht die direkte Letalität des Virus ist das Problem, sondern die eindeutig exponentielle Zunahme der Intensivpatienten. Aufgrund der extremen Ansteckungsgeschwindigkeit ohne – vor allem gesellschaftliche, weniger staatliche –Interventionen konsequenter Kontaktvermeidung sind Ärzte an der Seuchenfront plötzlich damit konfrontiert, darüber entscheiden zu müssen, wen sie hilflos sterben lassen. Dieser Tod trifft zunächst nur Risikogruppen, doch das sprunghafte Ansteigen von bei vollem Bewusstsein erstickenden alten Angehörigen, ohne sich von Eltern oder Großeltern noch verabschieden zu können, ist eine so einschneidende Erfahrung, dass der Druck zu Interventionen geht – koste es was es wolle! Das mag unökonomisch erscheinen, ist aber ethisch und erkenntnistheoretisch geboten. Gerade weil wir noch so wenig wissen, ist das Eindämmen exponentieller Dramatik dieser Art das Gebot der Stunde.
Dass es so weit kommen konnte, ist aber geringer gesellschaftlicher Lernfähigkeit und Institutionenversagen geschuldet: Die Vorwarnzeit wäre groß genug gewesen, um den Erfolgsbeispielen Singapur und Taiwan zu folgen, die heute viel geringere Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufweisen und entsprechend geringe direkt auf die Pandemie rückführbare ökonomische Opfer zu bringen haben.
Eingrenzung des wirtschaftlichen Schadens: Politische Fehleinschätzungen?
Wenn die Interventionen aktuell alternativlos sind, was sich mit neuen Erkenntnissen jederzeit ändern könnte, dann stellt sich die Frage der Eingrenzung des wirtschaftlichen Schadens. Da die Interventionen auf Anordnung der Politik erfolgen, denken nun zur Reduzierung des Schadens fast alle an wirtschafts- und geldpolitische Maßnahmen. Doch das ist eine Fehleinschätzung sowohl von Anhängern als auch Gegnern der aktuellen politischen Interventionen. Westliche Politiker sind selten Initiatoren von Neuem, sondern springen verspätet auf gesellschaftliche Trends auf. Hier kommt der Druck eindeutig aus der Gesellschaft. Das ist nicht nur in Europa so, das beweisen die Wuhan-Whistleblower, die Zustände im Iran (ein interessanter Fall, da es sich um einen autoritären Staat handelt), das Agieren der Kommunen im Libanon (in einem dysfunktionalen Zentralstaat). Rein rationalistisch betrachtet mag die Einstellung, sichtbares, plötzlich eskalierendes Leid abzuwenden und dafür unsichtbares, längerfristig verteiltes Leid in Kauf zu nehmen, „irrational“ erscheinen. Aufgrund solcher reinen Rationalität zu handeln, würde aber selbst einem unvernünftigen Fehlschluss entspringen, dem sich der größte Teil der Bevölkerung auch bei besten Argumenten und eifrigster Überzeugungsarbeit niemals anschließen wird.
Die schockartigen Extremmaßnahmen sind, im Vergleich zu asiatischen Vorbildern, klarer Hinweis auf falsche Lageeinschätzung durch die Politik.
Politik kann nur das zuteilen, was aktueller oder künftiger Produktivität entspringt. Schadenswiedergutmachung durch Politik kann daher nur auf der Grundlage von einer der folgenden Prämissen funktionieren: Erstens, Politiker sind besser in der Lage- und Zukunftseinschätzung als private Entscheider. Zweitens, durch Schuldtitel können künftige Steuereinnahmen heute schon erlöst werden und der frühere Einsatz erspart später höhere Kosten oder bedeutet größeren Wohlstand. Die zwei Alternativen bedeuten also: Gegenwärtige Umverteilung von schlechterem Mitteleinsatz durch private Entscheider zu besserem Mitteleinsatz durch politische Entscheider oder zeitliche Umverteilung von später schlechterem privaten oder politischen Mitteleinsatz zu heute besserem politischen Mitteleinsatz.
Dass die erste Prämisse hält, erscheint aktuell nicht sonderlich wahrscheinlich. Die schockartigen Extremmaßnahmen sind, im Vergleich zu asiatischen Vorbildern, klarer Hinweis auf falsche Lageeinschätzung durch die Politik. Gewiss, auch die Gesellschaft war nicht viel weitsichtiger, doch kann Umverteilung natürlich nie von den Kurzsichtigeren zu den Weitsichtigeren innerhalb der Gesellschaft gehen. Die Logik gebietet, dass sie nur von heute noch Wertschöpfenden zu heute nicht mehr Wertschöpfenden gehen kann.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.