China ist nun tatsächlich Mittelpunkt der Welt, leider als Epidemieherd. An der derzeitigen Herausforderung könnten sich Stärken und Probleme des chinesischen Modells zeigen. Bislang erhielt die chinesische Politik eher Lob, vor allem vonseiten der Weltgesundheitsorganisation WHO. Erweist sich der autoritäre Zentralstaat als Erfolgsmodell? Ist die Zukunft überhaupt nicht anders zu bewältigen als auf dem chinesischen Weg, der Wirtschaftsförderung mit Kontrolle und Stabilität verbindet?
Diese Einschätzung ist verfrüht, das Gegenteil ist nach heutigem Wissensstand deutlich wahrscheinlicher. Ein zentralistischer Überwachungsstaat ohne jede innere Exekutivbeschränkung kann gewiss leichter über seine Bevölkerung verfügen. Das erweist sich als Vorteil bei der Verhängung von Quarantänen und der Ansteckungsverfolgung. Doch der Nachteil wird nun ebenso deutlich: das geringere Vertrauen der Bevölkerung.
Vertrauensmängel sind das grösste Hindernis auf dem Weg Chinas aus der Falle des mittleren Einkommens. Misstrauen ermuntert zur Rücksichtslosigkeit, Rücksichtslosigkeit bestätigt das Misstrauen. Dieser Teufelskreis ist gewiss nicht nur der derzeitigen Parteigarde zuzuschreiben, seine Wurzeln sind älter; am stärksten wurde das Misstrauen in den Jahren des maoistischen Totalitarismus geschürt. Doch Intransparenz der Regierung bei erzwungener Transparenz der Bürger verhindert das Entstehen einer Vertrauenskultur.
Hongkong – oder auch Taiwan?
Epidemien erfordern rasche und manchmal harte Massnahmen. Doch wenn diese nicht transparent sind, können sie ins Leere greifen, weil sie die Bürger dazu animieren, sich den Massnahmen aus Angst und Misstrauen zu entziehen. Die panische Flucht grosser Menschenmassen aus Wuhan, bevor die Reisebeschränkung griff, die absichtliche Virenverbreitung durch Infizierte aus Rache, der gewaltsame Widerstand gegen Quarantäneanordnungen und die Wut in sozialen Medien sind teilweise Folgen dieses Misstrauens. Es wird genährt durch die Befürchtung, dass der Partei die totale Kontrolle und damit der Machterhalt wichtiger sein könnten als das Wohl der Bürger.
Es scheint sich zu bestätigen, dass die Epidemie vor allem deshalb so rasch um sich greifen konnte, weil in den ersten Wochen nach Ausbruch Informationskontrolle und Vertuschung Priorität hatten. Diese Priorität ist nachvollziehbar, in diesem Fall aber ein Fehler – und dieser wiederum eine direkte Folge des Zentralismus. Die Lokalbehörden trauten sich nicht, eine angemessenere Entscheidung zu treffen, bis Anweisung aus Peking kam.
Dieses Modell ist aber nur eines der vier chinesischen Modelle. Die gegenwärtige Krise wird einen unmittelbaren Modellvergleich bieten. Das grösste Augenmerk gilt der nächstliegenden Alternative: Hongkong. Dort ist auch die Kritik an Festlandchina am stärksten. Gewiss hält die Devise «ein Land, zwei Systeme» nur noch bedingt. Der gewichtigste Unterschied besteht in einer stärkeren Zivilgesellschaft, freieren Medien und kritischerem Diskurs. Doch der Vergleich geht nicht mehr so deutlich zugunsten Hongkongs aus, was das dominante chinesische Modell bestärkt und auch die falsche Prioritätensetzung erklären mag.
In Hongkong ist in der freieren medialen Echokammer eine diffuse Wut gewachsen, die grosse Ähnlichkeiten mit dem digitalen Aufbegehren der Millennials im Westen hat. Die wegen der Geldpolitik steigende Ungleichheit führt zu Reaktionen, die sich als Umverteilungsforderung, Antikapitalismus und nihilistische Systemablehnung äussern. Da der digitale Diskursraum aber zunehmend von realen Gemeinschaften, bürgerlicher Verantwortung und lokalen Wirkungsmöglichkeiten losgelöst ist, nährt er Extremismus oder Ohnmacht. So ist paradoxerweise das Misstrauen, bis zu übertriebenen Panikkäufen, in Hongkong derzeit ausgeprägter als in Festlandchina, und Hongkong wirkt geradezu wie ein Failed State.
Die Insellage und die sich bietende kleinräumigere Autonomie Taiwans zeigen im Gegensatz dazu eine noch intakte Vertrauenskultur. Ein hohes Behördenethos, exemplifiziert durch einen heroisierten Gesundheitsminister, trifft auf eine disziplinierte Bevölkerung und erleichtert die Eingrenzung der Epidemie deutlich. Wie in Westeuropa führte die Vertrauenskultur aber zur Nabelschau und zum Abbremsen der Innovation zugunsten stabilisierender Umverteilung und bremsender Regulierung.
Ein viertes chinesisches Modell könnte sich als das zukunftsfähigste erweisen. Singapur wird im Westen meist mit einem autoritären Regime assoziiert. Staatsgründer Lee Kuan Yew lehnte diese Kategorisierung stets mit dem Verweis ab, dass die dominante Partei in einem Masse durch allgemeine Zustimmung demokratisch legitimiert ist, von dem westliche Parteien nur träumen können. Zweifellos war Lee Paternalist, die Kleinheit Singapurs verunmöglichte aber totalitären Utopismus. Die Besonderheit des singapurischen Paternalismus zeigt sich im derzeitigen Umgang mit der Epidemie: Der Premierminister erscheint im Fernsehen nicht in heldenhafter Pose neben Rettungskräften, sondern wendet sich direkt an die Bevölkerung. Seine Auftritte sind von authentischer Ehrlichkeit und nüchterner Offenheit geprägt. Es wird nichts beschönigt oder verschwiegen. Das allgemeine Vertrauen in die Kompetenz der Behörden ist hoch.
Wie unterscheidet sich Singapur von den anderen chinesischen Modellen? Es entstammt einer Synthese zwischen West und Ost: weder medial orchestrierte Empörungs-«Demokratie», die vor allem in den grösseren, zentralistischen Staaten eher Interessengruppen dient, noch asiatischer Zentralismus ohne bürgerliche Freiheiten. Der Gegensatz zu Hongkong liegt vor allem in der bewahrten Autonomie. Kleinräumige Autonomie begünstigt die Identifikation mit der politischen Struktur und damit ein verantwortungsfähiges Bürgertum.
Konfuzianisches Erbe verbindet
Hongkong zeigte hingegen schon bei der «Regenschirmrevolution» von 2014 ein Überwiegen ideologischer Motive und Anspruchshaltungen, die weniger Ausdruck bürgerlicher Verantwortung, sondern wie im Westen teils des Geltungskonsums eines akademischen Proletariats sind. Gewiss war ein gewichtiger Strang der jüngsten Proteste der engagierte Kampf von Hongkonger Bürgern gegen ein Überstülpen des dominanten chinesischen Modells. Dieser Kampf verdient Hochachtung, ist aber letztlich aussichtslos. Die Briten hatten es versäumt, den Stadtstaat in die Autonomie zu überführen. Singapurs Lage und das politische Geschick von Lee waren Hongkong nicht vergönnt. Als Modell wird es keine Strahlkraft mehr haben, auch wenn einer im Zuge der Epidemiereaktion womöglich geschwächten Kommunistischen Partei mehr Zugeständnisse abgerungen werden könnten.
Singapur hingegen könnte China wieder als Vorbild dienen. Seine Vorbildwirkung war schon einst eine wesentliche und unterschätzte Triebkraft des chinesischen Wunders. In einer Massengesellschaft, in der Spaltungskräfte katastrophale Rücksichtslosigkeit und allgemeines Misstrauen bedeuten können, ist die Angst vor westlichem Atomismus gross. Das Beschwören des konfuzianischen Erbes, die beschränkte und transparente Väterlichkeit, der nüchterne zwischenethnische Ausgleich anstelle politisch korrekter «Multikulturalität» waren und sind für Festlandchina viel annehmbarer als die Polarisierung einer Gesellschaft in dissonanten Filterblasen. Doch Singapurs Sonderweg liegt nicht in Lees persönlich gefärbtem Paternalismus, den sogar er selbst in der Grössenordnung Chinas für gefährliche Hybris gehalten hätte. Er liegt in einer pragmatischen Kultur der Verantwortung und des Vertrauens, wie sie nur kleinräumige Autonomie hervorzubringen vermag.
Zuerst erschienen bei Finanz & Wirtschaft