Der österreichische Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer gehört einer Burschenschaft an. Das lässt einige Alarmglocken läuten, die jene extreme Radikalisierung des völkischen Denkens zum virulenten Rassismus und Antisemitismus des letzten Jahrhunderts den universitären Burschenschaften zuschreiben. Handelt es sich um eine ansteckende Ideologie, die auch heute gefährlich werden könnte? Warum entwickelte sie sich an den Universitäten im deutschen Sprachraum?
Mögliche Antworten bietet die epochale Universitätsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter Herausgeber Walter Rüegg (dritter Band von vieren der europäischen Universitätsgeschichte), die sich auch mit der Geschichte der Burschenschaften befasst. Zwei Paradoxien treten bei der historischen Rückschau besonders deutlich zutage. Einerseits entstammen die Burschenschaften dem Klima der Humboldtschen Universität, deren Mythos im Wesentlichen auf der Freiheit der Lehre und der Wissenschaftlichkeit der Methode aufbaut. Andererseits gedieh die extreme Form des völkischen Denkens besonders gut an den deutsch-österreichischen Universitäten:
Die Aversion gegenüber dem Einfluss der „Jüdischen Internationalen” war unter den deutschsprachigen österreichischen Studenten wesentlich stärker als in Deutschland selbst. […] An der Universität Graz waren um 1930 etwa 550-700 der ca. 2.000 Studenten politisch aktiv: 300-400 in einem deutschnational-völkischen Sinne, ungefähr 200 in katholischen Vereinigungen und nur 25-50 auf der Linken. […] Nazi-Studentenverbindungen wurden bereits 1919 in Wien, 1923 in Graz und 1929 in Innsbruck gebildet. Ab 1931 gewannen sie rapide an Boden. In Wien gewannen sie 1931/32 37 Prozent der Stimmen an der Universität und an der Technischen Hochschule 49,5 Prozent. 1930 wurde die Technische Hochschule Graz die erste Institution im deutschsprachigen Raum, an der die Nazis alle Sitze gewonnen hatten.
Gekommen war das völkische Denken jedoch von den Universitäten Deutschlands, wo es im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schärfer wurde. Nach der Reichseinigung 1870 waren Nationalismus und Antiliberalismus die tragenden Säulen der Studentenbewegung geworden. Die wesentlichen Gründe sind wohl außerhalb der Universitäten zu suchen, die selbst immer auch nur Mikrokosmos der sie umgebenden Gesellschaften waren. Zwei unbeabsichtigte Folgen des Humboldtschen Universitätenprojektes scheinen aber die besondere Dynamik etwas befeuert zu haben.
1895 hatte der Philosoph und Bildungshistoriker Friedrich Paulsen die Beobachtung festgehalten:
Es folgte in Deutschland auf das Zeitalter der absoluten Philosophie ein Zeitalter der absoluten Unphilosophie.
Die Humboldtsche Forschungsuniversität wirkte, entgegen der Intention ihres Begründers, in Richtung der Spezialisierung und Dominanz induktiv erforschbarer Fächer. Unter dem Druck der immer präziseren „Naturphilosophie” trat die „Menschenphilosophie” etwas in den Hintergrund, wie Walter Rüegg andeutet:
Mit der zunehmend wissenschaftlichen Natur der philosophischen Lehrstühle wuchs auch der Grad an Spezialisierung. Gleichzeitig schwand die Bedeutung der Philosophie für das intellektuelle Leben im Allgemeinen. In Frankreich und Großbritannien war die intellektuelle Welt hinreichend philosophisch gebildet, dass fundamental neue Denkrichtungen außerhalb der Universität entstehen konnten, während die „absolute Unphilosophie” unter den deutschen Eliten, die Paulsen beklagte, unfähig war, die notwendigen intellektuellen Antikörper zu entwickeln, um den pseudowissenschaftlichen Ideologien entgegenzuwirken, die sich für die Geisteswissenschaften, die Wissenschaften vom Menschen und letztlich die Menschheit so schädlich erweisen sollten.
Theologie und Philosophie, einst primäre Fakultäten der Universität, bieten allerdings nur sehr indirekte „Antikörper”. Der größte Teil der universitären Philosophie war stets Philodoxie, wie Eric Voegelin bemerkte, also das Wiedergeben von Glaubenssätzen, die das eigene Interesse nach Anerkennung, Anpassung und Apanagen maskieren, rationalisieren und legitimieren. Im Schnitt allerdings wirken diese Fakultäten wohl doch ein wenig in Richtung einer Hemmnis menschlicher Hybris: die Theologie durch Betonung einer überirdischen und übermenschlichen Ordnung, die Philosophie durch Erweckung und Ernährung des Zweifels.
Der Szientismus, die Orientierung an den Naturwissenschaften, und der Historismus, das Überwiegen philologischer und empirischer Sozialwissenschaft anstatt Philosophie und Theorie, machten die Bahn frei für eine ungehemmtere Entfaltung des Akademikerstolzes, des Selbstverständnisses einer vermeintlichen Elite, gestaltend und führend in die Gesellschaft zu wirken. Genährt wurde dieser Stolz wohl durch die Innovation der Forschungsuniversität, in der diese zum Labor kollektiver, aufgeteilter und spezialisierter Forschungstätigkeit wurde. Die Resultate dieses systematischen Forschungsbemühens waren und sind beeindruckend. Humboldts Modell hat die Welt um viel Wissen bereichert.
Doch der Preis dafür war eben wachsender Kollektivstolz der Akademiker. Diese empfanden die Früchte der institutionalisierten Wissensarbeit immer mehr als Ergebnis gemeinsamer, kollektiver Anstrengung einer bestimmten Klasse und als deutsche Besonderheit. In kurzer Zeit forschten sich die deutschen akademischen Eliten an die Weltspitze. So wurde die Berliner Universität zum Symbol der deutschnationalen Renaissance nach den Niederlagen durch Napoleon. Das Zugehörigkeitsgefühl der Studenten zu dieser nationalen Elite führte zu Enthusiasmus, der nationalistische Korporationen mit Elan beflügelte. Der Staatsapparat müsste nur noch vom Forschungsapparat lernen, von der akademischen Elite durchflutet und systematisch durch kollektives Bemühen an die Weltspitze geführt werden.
An dieser Stelle schien der studentische Enthusiasmus dann unmittelbar lohnend zu werden, und eine seltene Übereinstimmung von ideellen Wunschbildern und materiellen Interessen trat auf. Der sich einende deutsche Zentralstaat bot Aussicht auf hinreichende Beamtenjobs für akademisch qualifizierte Nationalverwalter und -entwickler. Doch nicht immer verliefen Enthusiasmus und Arbeitsmöglichkeiten, Angebot und Nachfrage, parallel. Wie alle „Hypes” verlief auch der universitäre in Zyklen. Der Zentralisierungs- und Ausdehnungsprozess des Staatsapparats hinkte dem explodierenden Andrang zur akademischen Elite hinterher. Für die euphorischen Studenten verlief die Zentralisierung und Modernisierung der deutschen Nation zu langsam. Der Rückstau an Anwärtern aus der höheren Bildung auf die höheren Ebenen der deutschen Nation führte zu einer explosiven Stimmung. Jungakademiker mit großen Idealen und wenig Geduld rebellierten:
Die Expansion der Universitäten nach Humboldt verlor in den 1830ern an Schwung, was zu einem Überangebot an Akademikern – und damit direkt zur Revolution von 1848 führte. Stagnierende Inskriptionszahlen schufen schließlich in den 1860ern neue Nachfrage nach Akademikern, die eine neue Expansion nährte, die wiederum zu erneuertem Massenandrang in den 1880ern führte, der berühmten Qualifikationskrise, die Studenten zu illiberalen Ideen führte. Die Inskriptionsexplosion, die im letzten Jahrzehnt vor dem Krieg fortgesetzt wurde, erreichte ihren Gipfel in den 1920ern und schuf ein weiteres, politisch noch verheerenderes Überangebot an Akademikern, zumal diese als Wasser auf die Mühlen der Nazis strömten.
In Österreich war die Lage noch verschärft. Der Arbeitsmarkt für Akademiker, der großteils aus höheren Posten der Staatsverwaltung bestand, war durch das Sprachenproblem gekennzeichnet. In der k.u.k.-Verwaltung schienen nach dem Ausgleich und im Zuge von weiteren Begehrlichkeiten nationaler Behauptung die Tage mehrheitlicher Deutschsprachigkeit im Staatsdienst gezählt. Damit verschlechterten sich die Jobaussichten für deutschsprachige Akademiker in der Monarchie. Hier liegt wohl der wesentliche Grund für den an österreichischen Universitäten besonders virulenten Deutschnationalismus. Diese Verstärkung deutscher Euphorie im Zuge der Wissenschafts- und Kulturblüte im 19. Jahrhundert durch materielle Interessen führte zu extremistischer Übertreibung. In Anlehnung an Paulsen lässt sich für die Universitäten sagen: Es folgte in Österreich auf das Zeitalter des absoluten Deutschtums ein Zeitalter des absoluten Antideutschtums. Die deutschnationale Überholung deutscher Studenten durch österreichische Studenten ist heute zu Recht peinlich, und zweifellos sind die damaligen Studenten Österreichs nicht unschuldig am Gift des Hasses, der das letzte Jahrhundert in Blut tauchte.
Der Vergleich dieser Entwicklung zu heute und die mögliche Einordnung der politischen Verhältnisse führt zu paradoxen Schlüssen, die ich nur mit jenen teilen kann, die sich im scholarium abseits des tagespolitischen Wahnsinns zur unbequemen Erkenntnis ohne Denkverbote entschlossen haben.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.