In Westeuropa verstört viele der Gedanke einer Bewaffnung von Bürgern. Da bisher die staatlichen Organe in der Lage schienen, Sicherheit und Ordnung zu garantieren, scheint breitere Bewaffnung unnötig – und daher gefährlich. Denn das Waffentragen ohne Not gilt als verdächtige Präferenz, die man nur den Schlechtesten zutraut. All diese Annahmen sind falsch, haben aber gute Gründe.
Der Gedanke einer Miliz, also von Bürgerverbänden zur Abwehr äußerer Bedrohungen, ist allenfalls noch in eine „Wehrpflicht“ umgeformt. Dabei handelt es sich um einen Dienstzwang, der dem ursprünglichen Milizprinzip widerspricht. Im alten Griechenland war der gemeinsame Entscheid der Bürger über Krieg und Frieden Grundlage ihrer „Demokratie“, wer hingegen auf Anweisung von oben Dienst zu leisten hatte, galt als Staatssklave – das glatte Gegenteil eines Bürgers.
Durch die Entwicklung moderner Waffen, die im Gegensatz zu Trireme und Phalanx vermeintlich nicht mehr durch freiwillige Beiträge zu produzieren und durch gleiches Zutun zu steuern seien, sondern militärisch-industrielle Konzentration erfordern, ersetzte die Berufsarmee das Milizprinzip. Ist diese Berufsgruppe unter Aufsicht eines Staatsapparats, dem die Bürger vertrauen und von dem für sie keinerlei Gefahr ausgeht, so wird hier ein vernünftiger Spezialisierungsschritt angenommen.
Das hohe Vertrauen in die Institutionen ist gewiss Symptom oft günstiger Charakterzüge und kultureller Errungenschaften. Gerade in Deutschland allein dem Staat zu vertrauen, überrascht jedoch aus historischer Perspektive. Die Entwaffnung der Juden in Nazi-Deutschland wurde immerhin systematisch vor ihrer Vernichtung betrieben. Der Staat, der sich innerhalb kurzer Zeit vom Beschützer zum Todfeind gewandelt hatte, nutzte dabei das in der Weimarer Republik aufgebaute Waffenregister.
Hier zeigt sich, dass das „Nie wieder“ in Teilen auch immer Verdrängen ist. Die große Ablehnung gegenüber Waffen in Bürgerhand ist auch ein Nichtwahrhabenwollen. Bürgerbewaffnung bei Waffenkonzentration in Behördenhänden ist immerhin Symptom einer Hochvertrauenskultur, die eine weitere Verbreitung bürgerlicher Zweifel an den Institutionen kaum überleben würde. Damit ist die Bürgerentwaffnung leider Teil der kulturellen Identität. Eine umgekehrte Identität, die amerikanische Waffenkultur, verstört da natürlich. Die US-Begeisterung für Waffenmessen ist eine Subkultur, die von kommerziellen Interessen angetrieben wird. Doch das Bild des souveränen Pioniers ist ursprünglich europäisch. Es handelt sich um eine bürgerliche Ritterlichkeit, die weit „demokratischer“ ist als die bis heute feudale Limitierung der Jagd in Europa. Im amerikanischen Süden ist das Misstrauen gegenüber dem Zentralstaat noch stärker ausgeprägt, was die Herausbildung höheren Institutionenvertrauens hemmt.
Die kulturelle Dürftigkeit mitsamt sozialer Entwurzelung mag erklären, warum sich Amokläufe zuerst in Amerika häuften. Höhere Bewaffnung könnte dabei teilweise ein Symptom derselben Probleme sein. Kurzfristiger Materialismus im Zuge der Schieflagen der Dollarproduktion nährt Narzissmus, der wiederum Zuflucht in Statusgütern suchen lässt. Die klaffende Lücke zwischen Aufmerksamkeitsgier und geringer Anerkennung könnte ihre Kompensation durchaus gelegentlich im Aufmunitionieren finden. Doch Waffen sind hier eben weniger Ursache als Symptom.
Regulierung bietet manche Schwelle für den Waffenerwerb – aber nur für die Dümmeren und die Affekttäter. Diese würden ihre Taten auch mit Küchenmessern durchführen. Die größte Gefahr geht stets von den Plantätern aus, denen ihr Leben wenig gilt. Verbote können sie, auch bei schärfster Sanktion, kaum abhalten. Wer zu einem Vorsatzmord fähig ist, wird das auch zu fast jedem anderen Verbrechen sein – etwa Waffenerwerb durch Diebstahl oder Täuschung.
Das ist eine der Massentäuschungen, die typisch für Hochvertrauenskulturen sind: die utopische Vorstellung der allmächtigen Regulierung, die davon ausgeht, dass alle Bürger gleich regulierbar seien wie man selbst. In Wirklichkeit ist jede Regulierung bloß Hemmung der regulierbaren Bürger. Das ist einer der Gründe für die Tendenz von Hochvertrauenskulturen zur Verknöcherung.
Die Entwaffnung der regulierbaren Bürger bedeutet eine wachsende Schieflage zu ihren Ungunsten, wenn die Zahl der unregulierbaren Bürger wächst. Dann kann innerhalb der bislang sichersten Räume ein plötzliches Sicherheitsvakuum entstehen. Erleben mussten die entstehende Hilflosigkeit eben erst die israelischen Siedler, die im Vertrauen auf die vermeintlich wehrfähigste westliche Armee unbewaffnet in fußläufiger Distanz zu Hundertausenden Menschen leben, die ihren Tod wünschen oder begrüßen. Damit ist immerhin jede Diskussion um weitere Bürgerentwaffnung in Israel beendet.
In Europa zwingt die neue Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus und andere Terrorarten, die sich in Reaktion auf den Vertrauensverlust zusammenbrauen, zu einer Neueinschätzung der Lage. Der Gedanke, beim Besuch eines Weihnachtsmarkts eine Waffe mitzuführen, kommt bislang eher potenziellen Terroristen als braven Staatsbürgern. Empirisch ist aber relativ eindeutig, dass Waffen in Bürgerhand durchaus der Verbrechensabwehr dienen. Amokläufe und Anschläge finden fast immer in waffenfreien Zonen statt.
Schon das Einbruchsverhalten ändert sich in Abhängigkeit von der Bürgerbewaffnung: Bei höherer Waffendichte finden Einbrüche fast immer bei Abwesenheit der Eigentümer statt, sonst ist den Einbrechern die Anwesenheit der Eigentümer eher egal – bei potenzieller Gewalt gegen Letztere.
Noch ist die Selbstbewaffnung der Bürger ein bizarrer Gedanke für Außenseiter und damit zu Recht verdächtig. Bei kollabierendem Institutionenvertrauen wird aber Verdrängung alleine kein goldenes Zeitalter der Sicherheit durch totale Harmlosigkeit zurückbringen. Gerade die Harmlosigkeit der Bürger führt letztlich zu Schusswaffen: In der Ohnmacht vermögen nur diese wieder ein Kräftegleichgewicht herzustellen. Sie waren und sind eben Werkzeuge für die Schwächsten.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.