Für den Freiheitsfreund ist der öffentliche Diskurs so eingeengt, dass Gleichschaltung eine naheliegende Vermutung ist. Ein aktives „Schalten“ zu vermuten, gilt heute aber als verpönte Verschwörungstheorie, an der man den äußersten Rand der Gesellschaft erkennen könne. Das ist verblüffend, denn ganz in der Mitte der Twitteria, jener deutungshohen Meinungsführer, die sich für die Mitte der Gesellschaft halten, sind Verschwörungstheorien gerade wieder sehr im Kommen. Insbesondere seit sich ein unberechenbarer „Reicher“ ihrer Plattform bemächtigt.
Elon Musk, der reichste Mensch der Welt, könnte ein gefährlicher Extremist sein, der nun im Namen der Meinungsfreiheit Fake News verbreitet. Immerhin gehörte er derselben „Mafia“ an wie Peter Thiel. Dessen Gefährlichkeit gilt als erwiesen. Beide eint ein gewisser Bezug zu Bitcoins, die – wie ein Sozialwissenschaftler zweifelsfrei im Buch „Die Politik von Bitcoin“ nachgewiesen hat – einen extremistischen Hintergrund haben. Dieser Hintergrund wird oft als „Alt-Right“ bezeichnet. Billionen-Vermögen und Billionen-Marktkapitalisierung zeigen die Machtverhältnisse an.
Da diese „gefährliche Neue Rechte, die vor der Welteroberung steht, in libertären Dunstkreisen entstand, gilt es, den Anfängen zu wehren – und so werden Nischenmedien wie eigentümlich frei mit Argusaugen beobachtet. Bald könnten über diese Seiten sinistre Milliardenvermögen Einfluss auf die Bundesrepublik nehmen und die Demokratie abschaffen.
Eine solche Perspektive mag übertrieben erscheinen, aber ich habe nicht überzeichnet. Die Angst, von einer mächtigen Verschwörung hinweggefegt zu werden, ist bei heute noch tonangebenden Kreisen real. Verschwörungen, also nicht öffentliche Pläne strategischer Einflussausweitung und -ausübung, gibt es mit Gewissheit. Sie werden nur auf allen Seiten überschätzt.
Wir sehen eine bestimmte Veränderung, sehen ihre Proponenten und schließen daraus, dass diese Proponenten auch die Urheber und Triebkräfte dieser Veränderung sind. Doch die meisten Veränderungen haben eine Fülle verschiedener ermöglichender Bedingungen, nicht bloß eine Ursache.
Der letztliche Auslöser ist oft die zufällig zuletzt eintretende Bedingung oder zuletzt fallende Hemmschwelle.
Soziale Veränderungen sind zudem selbstverstärkend, das heißt, sie folgen S-Kurven: Ihr Beginn ist unter der Wahrnehmbarkeitsschwelle, und sie sind dann am sichtbarsten, weil extremsten, wenn ihre Dynamik bereits im Schwinden ist.
Der Aufstieg von Bitcoin, vom Nischenexperiment bis zur neuen Anlageklasse, war eine der stärksten Veränderungen des letzten Jahrzehnts. Viele der frühen Nutzer und Sympathisanten waren US-Libertarians. Diese freuen sich über den Siegeszug, doch Freund wie Feind unterliegen einer Fehleinschätzung. Als ich 2009 das erste Mal auf Bitcoin stieß, war ich skeptisch – eben aufgrund der großen Überlappung mit Libertären, obwohl ich ihnen nahestehe. Der paradoxe Grund: Je größer die ideologische Homogenität der Nutzer, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer Monetisierung. Letzteres bezeichnet die graduelle Zunahme indirekter Nachfrage – Absatzfähigkeit – in einem selbstverstärkenden Netzwerkeffekt. Die Absatzfähigkeit eines Gutes ist umso höher, je neutraler, das heißt, je weniger es auf eine enge Nutzerbasis zugeschnitten ist.
Bitcoin ist also kein „libertärer“ Siegeszug im Sinne einer Übernahme finanzieller Machtbastionen durch wachsende Massen von Libertären. Es bleibt hoffentlich eine Erfolgsgeschichte der Freiheit. Mit der Verschwörung ideologisch Gleichgesinnter hat dieser Erfolg aber nichts zu tun. Bitcoin wurde technisch durch Programmierer geschaffen – eher Handwerker als Theoretiker. Den meisten Theoretikern und Ideologen entging die Innovation völlig.
Der noch wichtigere Schöpfungsakt war aber nicht technisch, sondern wirtschaftlich, und es war weder ein Akt noch schöpferisch. Praxeologisch wurde Bitcoin geschaffen durch die Akte von Abermillionen von Menschen, von denen die meisten nie eine Ahnung hatten, was „libertär“ überhaupt zu bedeuten habe. Sie entdeckten und imitierten vermeintlich taugliche Mittel für präferierte Ziele. In der Tendenz bot sich bislang mehr Tauglichkeit als Untauglichkeit, und als wichtigstes Ziel erwies sich ein langweiliges: Kaufkrafterhalt im thesaurierenden Horten. Als Thesaurierung bezeichnete Carl Menger die weniger anerkannte und bewusste Geldfunktion – der Versuch, einer vergänglichen Existenz bleibende Werte abzuringen. Leider eine Sisyphos-Aufgabe, die im Bitcoin-Kult als gemeinsames Staffel-Rollen erträglicher werden soll.
Die ersten Nutzer, die es nicht als Ausdruck ihrer Gesinnungsgemeinschaft nutzten – wie noch Libertäre oder Cypherpunks – waren Teilnehmer am amerikanischen Drogenmarkt, insbesondere auf „Silk Road“. Mit diesen sympathisierten die meisten Libertären immerhin noch, und es gab eine gewisse Überlappung, auch wenn es sich beim typischen Händler und Käufer eben nicht um typische politische Aktivisten handelte. Die weit wichtigere nächste Nutzergruppe hatte schließlich aber so wenig Überlappung mit US-Libertarians, dass sie von diesen weitgehend unbemerkt und unverstanden blieb: Chinesen beim Versuch, Kapitalverkehrskontrollen zu umgehen.
Bei der weltgrößten Bitcoin-Konferenz mit 25.000 Teilnehmern in Miami waren Libertarians überhaupt nicht präsent – aber gewiss zahlreich im Publikum vertreten. Es gab nicht einen einzigen Aussteller oder Sponsor mit politischem Bezug. Das Publikum war relativ „mainstream“, wie man auf Neudeutsch sagt, so auch die Party und das Ambiente. Das ist das paradoxe Symptom des Siegeszugs von Bitcoin, der eben niemals bewusster Plan eines sinistren Zirkels von „Extremisten“ hätte sein können.
Genauso wenig ist Wikipedia eine neoliberale Verschwörung zur Wissenskontrolle, obwohl Friedrich A. von Hayek explizit von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales als Inspiration angeführt wurde. Bei ihrem Siegeszug wurde Wikipedia so „mainstream“, dass es heutige Libertäre oft sogar in paradoxer Umdrehung für eine Verschwörung zugunsten von Mainstream-Propaganda halten.
Mainstream ist der Hauptstrom, der Fluss der Zeit. Jene, die gegen den Strom paddeln, werden ihn genauso wenig aufhalten wie ihn jene antreiben, die bequem im Strom dahingleiten.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.