Bei Ungewissheit halten sich viele instinktiv an Autoritäten. Das begünstigt die Politik. Aktuell zeigt sich, wie wenig Gewicht im heutigen Westen die alten geistlichen Autoritäten noch haben. Vielleicht werden sie von vielen deshalb so bekämpft und geschmäht, denn der Widerstand gegen schwache Mächte ist besonders einfach. Am einfachsten ist er gegen nicht existente Mächte, wie der um hundert Jahre verspätete Kampf der Deutschen gegen die Nazis zeigt.
In vergangenen Zeiten reagierte man gegen ungewisse Bedrohungen wie Seuchen mit massenreligiösem Eifer. Heute ordnet sich die Kirche ganz selbstverständlich unter und lässt per Dekret die Türen geschlossen. Doch nicht nur staatliche Gewalt stellt die religiösen Institutionen in den Schatten.
Eine neue Kirche hat die alte weitgehend ersetzt. An den Lippen ihrer Prediger hängen die medialen Massenverkünder, sie verleiht den Machthabern die heute wichtigste Legitimität. Kurz könnte man diese neue Kirche „die Wissenschaft“ nennen. Das ist so irreführend, als hätte man die alte Kirche schlicht „die Religion“ genannt. Relevant ist die konkrete Institution.
Heute könnte man von einem „akademisch-medialen Komplex“ sprechen. Institutionalisierung ist ein Prozess, bei dem Regeln, Tabus, Rituale, Geldflüsse und Beziehungen eine Struktur erhalten – das heißt, unabhängig von einzelnen Personen dauerhafter, gewohnter, berechenbarer werden. Institutionen entlasten Einzelmenschen und erleichtern Kooperation. Kooperation ist allerdings kein Selbstzweck, und nicht alle Zwecke der Kooperation sind gute.
Sowohl Wissenschaft als auch Religion sind wichtige Bestandteile des menschlichen Potenzials und Daseins. Die Definition dieser Bereiche ist schwierig, sie sind eher „thymologische Motivationsfelder“ als „praxeologische Kategorien“ – um die Begriffe von Ludwig von Mises zu verwenden. Die meisten modernen Menschen werden den größten Unterschied darin sehen, dass Wissenschaft eine Herrschaft über die Materie erlaube, Religion nur eine über die Gemüter.
Das greift aber zu kurz. Technik und Wissenschaft hängen weit weniger zusammen, als die meisten glauben. Technik entsteht weitgehend in einem Prozess von Versuch und Irrtum. Wissenschaft im Sinne der konkreten akademischen Institutionen (und ihrer institutionalisierten Legitimität) folgt in der Regel auf technische Durchbrüche und geht diesen nicht voraus. Damit verleibt sie sich die Kraft der Technik ein, ähnlich wie die Politik.
Der akademische Bereich ist genauso wenig wie der mediale ein Ort ausschließlich der Lüge und Täuschung. Akademiker sind in der Regel überdurchschnittlich intelligent und wohl nicht unterdurchschnittlich anständig. Viele bemühen sich um Erkenntnis, Verstehen und Verständigung. Das Problem von Institutionen liegt in ihrem Vorteil: Sie entlasten Individuen. Diese Entlastung ist notwendig und hilfreich, doch ist sie eben auch eine Entlastung von individueller Verantwortung. Das schafft schlechte Anreize. Ist man sich ihrer bewusst, sprechen sie nicht gegen Institutionen. Verbinden sie sich jedoch mit Gewalt oder auf Gewalt gestützten Strukturen, so werden sie noch gehebelt.
Die aktuelle Pandemie zeigt nicht nur das Gewicht der neuen Kirche, sondern auch ihre Anreizprobleme. Bei Ungewissheit ist es sinnvoll, sich auf das Wissen derjenigen zu verlassen, die spezialisierte Erfahrung haben. Leider spiegelt akademische Expertise nur Erfahrung in den jeweiligen Methoden und Prozessen der Institution wider. Epidemiologen haben in der Regel nicht viel Erfahrung mit der Durchbrechung von Ansteckungsketten und anderen Trade-offs von konkreten Entscheidungen. Ihre Entscheidungen sind der Art: In welchem Journal reiche ich ein Paper ein, welche Formulare fülle ich für Fördermittel aus, welche Aufhänger suche ich für meine Studien?
Zum Glück gibt es Epidemiologen, also Menschen, die für ein so wichtiges Gebiet Leidenschaft haben. Ein konkretes Beispiel zeigt aber die politisch verheerenden Folgen der selektiven Legitimierung akademischer Wissensversuche zu politischem Entscheidungswissen: das Pandemie-Modell des britischen Wissenschaftlers Neil Ferguson. Es prognostizierte ungebremst exponentielle Todeszahlen weit über jedes tragbare Niveau hinaus. Bestätigt schien das Modell durch die exponentiell wachsende Zahl schwerer Fälle in den Krankenhäusern und Notlazaretten in Wuhan, im Iran und in Italien. Das „wissenschaftliches Modell“, vermeintlich bestätigt durch die Fakten, trug dazu bei, in kurzer Zeit Politik und Gesellschaft von Sorglosigkeit zu Panik zu führen. Fergusons Modell steht dabei nur stellvertretend für alle anderen Modelle. Mit der heutigen Faktenlage scheint kein einziges epidemiologisches Modell zusammenzupassen – alle lagen falsch. Ferguson lag spektakulär falsch.
Das darf nicht gegen ihn sprechen. Ohne Irrtum keine Erkenntnis. Spricht es gegen seine Methode? Nein. Seine Methode bestand darin, das Verhalten von Menschen algorithmisch zu simulieren. Er hat zunächst fast im Alleingang eine Art „Sim City“ der Epidemiologie gebaut. Das zeugt von Intelligenz, Leidenschaft, Frustrationstoleranz und Neugier. Die Komplexität des Unterfangens mag man für Selbstüberschätzung halten. Sein Code ist typisch für Programmierer, die ohne Druck durch Kunden oder Kollegen einem interessanten Problem, dessen Komplexität sie unterschätzen, alles unterordnen: Er ist unlesbar, voller Fehler, ohne Tests und letztlich unbrauchbar.
Diese Selbstüberschätzung ist im Individuellen günstig: Sie spornt Innovation an. Problematisch ist das Hebeln dieser Selbstüberschätzung zur Institutionenüberschätzung, der politischen Hybris. Ein Code, der sich bei jeder konkreten unternehmerischen Verwendung als unbrauchbar erwiesen hätte, wurde zum Entscheidungsmodell – komplex genug, um als „wissenschaftlich“ zu beeindrucken, simpel genug, um überhaupt in Algorithmen gepackt zu werden. Als Erkenntnisweg eines einzelnen Freaks wäre die Sache großartig gewesen – denn solche Spinner bringen die Welt weiter.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei