Wir sind es gewohnt, unter großen Massen von Fremden zu leben. Dieses Nebeneinander ist von Vertrauen und friedlicher Kooperation geprägt. Das ist allerdings keineswegs selbstverständlich, vielmehr ein modernes Wunder. Das besonders dicht besiedelte Westeuropa war Vorläufer dieser freien Kooperation in großem Stil. Etwas weniger frei, dafür umso dichter wurde schon früher in Fernost kooperiert. In der Geschichte hatte es davor nur Zwangskooperation im großen Verband oder eben das Miteinander in der kleinen Sippe oder Horde gegeben. Mit der Verdichtung in den urbanen Kooperationszentren ging eine Verbürgerlichung der Menschen einher. Während der Adel noch länger Waffen trug, Duelle focht und Fehdehandschuhe um sich warf, trug der Bürger Werkzeug, flocht Verträge und mehrte Wohlstand. Dafür wurde er vielgeschmäht.
Mit dieser bürgerlichen Friedlichkeit änderten sich die Formen. Einst bezeichnete „Besteck" das Lederfutteral, in dem ein scharfes Messer hing, mit dem man nicht nur Fleischstücke bei Tisch zerteilen konnte. Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Besteck, wie auch seine Träger, immer harmloser: Die Gabel ersetzte die Spitze, und das Messer wurde runder und unschärfer. In Fernost ging man noch einen Schritt weiter: Das Messer bleibt gänzlich der Küche vorbehalten, bei Tisch begnügt man sich mit völlig harmlosen Holzstäbchen, um das vorgeschnittene Essen zum Mund führen. Die noch größere Dichte des Zusammenlebens hat die Menschen in Fernost wohl noch stärker domestiziert als die Europäer.
Das Unbehagen über Waffen ist ein Erbe der bürgerlichen Domestikation. In der Tat ist es ein positives Zeichen, wenn sich Menschen auch nachts und in den dichtesten und schäbigsten Vierteln waffenfrei bewegen. Doch das liegt nicht an den Waffen, diese sind nicht Träger von Dämonen, die friedliche Menschen zur Gewalt bewegen. Es handelt sich um eine kulturelle Entwicklung, die weder selbstverständlich, noch unumkehrbar ist.
Massaker gibt es, solange es Menschen gibt. Archäologen haben mittlerweile das Cliché vom noblen Wilden völlig widerlegt. Neu ist der Schock, dass abseits des Krieges, an den Zentren friedlicher Kooperation, inmitten der größten Vertrauenskulturen, plötzlich das Massaker hereinbrechen kann. Die erste Intuition sieht hier den Fremden am Werk und vermutet einen feigen Guerillakrieg. Leider ist es komplizierter. Die Bandbreite an Amokläufern wird immer größer. Die modernen Massaker, die Amokfahrten, das wahllose Abstechen, die Schulschießereien, treffen die bürgerliche Kultur ins Herz. Sie sind sowohl Symptom als auch Beschleuniger des gesellschaftlichen Vertrauensverlustes. Wer dem Nächsten nicht mehr trauen kann, wird zur friedlichen Kooperation unfähig. Die Alternative zur Kooperation ist allerdings noch mehr Gewalt – das Überwachen, Beschränken, Ausschalten des Nächsten, der nur mehr im furchteinflößenden Sinne nah ist, nämlich zu nah.
Durch die wachsende Bandbreite des Amokbürgers führt sich die Standardantwort des Angstbürgers gerade ad absurdum: Waffenverbote! In Großbritannien wird tatsächlich ein Küchenmesserverbot diskutiert. Dieses ist zwar verständlicher als die fast schon universelle Einschränkung des privaten Schusswaffenbesitzes. Schließlich erfolgen 45 Prozent der Morde durch Messer, davon wiederum 85 Prozent durch Küchenmesser. Die Reduktion auf die Kleinstfamilie, die Zunahme von Küchen und der steigende Wohlstand, der auch der kaum genutzten Singleküche ein „Profi"-Messerset beschert, hat tatsächlich die bürgerliche Besteckabrundung kompensiert. Doch dem Messerverbot müsste dann konsequent ein Autoverbot, ein Hundeverbot, ein Werkzeugverbot u.a. folgen. Da kann man den Bürger gleich präventiv in eine Zwangsjacke und Gummizelle packen. Für ein Autoverbot wäre immerhin noch die Öko-Fraktion zu gewinnen, bei Hunden und Werkzeugen kennen aber insbesondere Deutsche keinen Spaß. 290.000 haben eben eine Petition unterzeichnet, um den Kampfhund Chico zu schützen, der zwei Menschen totbiss.
Doch Sarkasmus löst das grundlegende Problem nicht. Großbritannien war bereits nach dem Dunblane-Massaker von 1996 Vorreiter in Sachen Schusswaffenverbot geworden. Das ist nachvollziehbar. Ein autochthoner, kreuzbraver Krämer und Pfadfindergruppenleiter hatte damals aus Wut über Pädophiliegerüchte 16 Kinder mit seinen legalen Waffen exekutiert. Doch nicht Entwaffnung schafft Bürger; die Kausalität ist umgekehrt.
Wo der Bürger kooperiert, benötigt er im Inneren keine Gewalt und kann auch ohne Waffe aus dem Haus. Doch diese bürgerliche Kooperation entwickelte sich hinter Stadtmauern. Vorbild der bürgerlichen Selbstverwaltung ist die waffentragende Miliz. Letztere ist auch der Ursprung der Demokratie im diesem meist positiven, aber sehr beschränkten Sinne. Die modernen Illusionen der totalen Demokratie, der totalen Gleichheit und der voraussetzungslosen „Rechte" untergraben die Bürgerdisziplin und erweisen sich als völlig unfähig und ohnmächtig angesichts des Vertrauensverlustes und der blutigen Entbürgerlichung. Bürger kommen ohne Herrscher, ohne Zwangsjacken, ohne innere Gewalt aus, weil sie zur Verantwortung fähig sind, für ihre Freiheit gemeinsam Opfer bringen, die Form wahren und die Grenze respektieren. Die totalitäre Gleichheitsdoktrin kann nur allen oder niemandem Freiheit gewähren. Da sich – wie heute leider zweifelsfrei offenbart – nicht jeder der Disziplin der Freiheit würdig erweist, die auch bedeutet, den Nächsten nicht kaltblütig abzuschlachten, bleibt nur der Weg, allen die Freiheit zu nehmen. Der Bürger wird aber nicht dadurch sicherer, dass man ihm das Küchenmesser abnimmt. Er wird zum Kind.
Vielleicht müssen wir im urbanen Raum wirklich auf diese Stufe zurück. Erträglich wäre das aber nur mit einem individuellen Weg, sich des Bürgertums wieder würdig erweisen zu können. Dürfte man sich das Recht auf spitze Messer, schnelle Autos, eigene Risiken und all die anderen Zeichen der Erwachsenenreife, zumindest verdienen? Das würde allerdings der infantilen Gleichheit, die Ungleiches gleichbehandelt, allzu stark widerstreben.