Zwei der bekanntesten Juristen und Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts und ihre das politische Denken maßgeblich prägenden, meist widersprüchlichen Ansichten.
HANS KELSEN (geb. 1881 in Prag, gest. 1973 in Orinda bei Berkeley)
vs.
CARL SCHMITT (geb. 1888 in Plettenberg, gest. 1985 ebenda)
Ausgewählte Werke:
- Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot, 1979 [1932]
- Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie. In: Matthias Jestaedt & Oliver Lepius (Hrsg.). Verteidigung der Demokratie. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, 228-237 [Erstveröffentlichung in: Blätter der Staatspartei, 2. Jg., 1932, 90-98]
Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen
Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. Staat ist nach dem heutigen Sprachgebrauch der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes. […] Staat ist seinem Wortsinn und seiner geschichtlichen Erscheinung nach ein besonders gearteter Zustand eines Volkes, und zwar der im entscheidenden Fall maßgebende Zustand und deshalb, gegenüber den vielen denkbaren individuellen und kollektiven Status, der Status schlechthin. […] Im allgemeinen wird „politisch“ in irgendeiner Weise mit „staatlich“ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen. Der Staat erscheint dann als etwas Politisches, das Politische aber als etwas Staatliches – offenbar ein unbefriedigender Zirkel. 20f
Die allgemeinen Begriffsbestimmungen des Politischen, die nichts als eine Weiter- oder Rückverweisung an den „Staat“ enthalten, sind verständlich und insofern auch wissenschaftlich berechtigt, solange der Staat wirklich eine klare, eindeutig bestimmte Größe ist und den nicht-staatlichen, eben deshalb „unpolitischen“ Gruppen und Angelegenheiten gegenübersteht, solange also der Staat das Monopol des Politischen hat. Das war dort der Fall, wo der Staat entweder (wie im 18. Jahrhundert) keine „Gesellschaft“ als Gegenspieler anerkannte oder wenigstens (wie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. Jahrhundert hinein) als stabile und unterscheidbare Macht über der „Gesellschaft“ stand.
Dagegen wird die Gleichung staatlich = politisch in demselben Maße unrichtig und irreführend, in welchem Staat und Gesellschaft sich gegenseitig durchdringen, alle bisher staatlichen Angelegenheiten gesellschaftlich und umgekehrt alle bisher „nur“ gesellschaftlichen Angelegenheiten staatlich werden, wie das in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen notwendigerweise eintritt. Dann hören die bisher „neutralen“ Gebiete – Religion, Kultur, Bildung, Wirtschaft – auf, „neutral“ im Sinne von nicht-staatlich und nicht-politisch zu sein. Als polemischer Gegenbegriff gegen solche Neutralisierungen und Entpolitisierungen wichtiger Sachgebiete erscheint der gegenüber keinem Sachgebiet desinteressierte, potentiell jedes Gebiet ergreifende totale Staat der Identität von Staat und Gesellschaft. In ihm ist infolgedessen alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch, und die Bezugnahme auf den Staat ist nicht mehr imstande, ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des „Politischen“ zu begründen. 23f
In Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen (etwa aus der Zeit um 1870) finden sich folgende Sätze über die „Demokratie, d.h. eine aus tausend verschiedenen Quellen zusammengeströmte, nach Schichten ihrer Bekenner höchst verschiedene Weltanschauung, welche aber in einem konsequent ist: insofern ihr nämlich die Macht des Staates über den Einzelnen nie groß genug sein kann, so daß sie die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft verwischt, dem Staat alles das zumutet, was die Gesellschaft voraussichtlich nicht tun wird, aber alles beständig diskutabel und beweglich erhalten will und zuletzt einzelnen Kasten ein spezielles Recht auf Arbeit und Subsistenz vindiziert“. 24f
Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht.
Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Häßlich im Ästhetischen usw. […] Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne daß gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder andern Unterscheidungen zur Anwendung kommen müßten. Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines „unbeteiligten“ und daher „unparteiischen“ Dritten entschieden werden können. […] Infolgedessen gilt auch umgekehrt: was moralisch böse, ästhetisch häßlich oder ökonomisch schädlich ist, braucht deshalb noch nicht Feind zu sein; was moralisch gut, ästhetisch schön und ökonomisch nützlich ist, wird noch nicht zum Freund in dem spezifischen d.h. politischen Sinn des Wortes. Die seinsmäßige Sachlichkeit und Selbständigkeit des Politischen zeigt sich schon in dieser Möglichkeit, einen derartig spezifischen Gegensatz wie Freund-Feind von anderen Unterscheidungen zu trennen und als etwas Selbständiges zu begreifen. 26ff
Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen. Sie sind keine normativen und keine „rein geistigen“ Gegensätze. Der Liberalismus hat in einem für ihn typischen Dilemma von Geist und Ökonomik den Feind von der Geschäftsseite her in einen Konkurrenten, von der Geistseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen versucht. Im Bereich des ökonomischen gibt es allerdings keine Feinde, sondern nur Konkurrenten, in einer restlos moralisierten und ethisierten Welt vielleicht nur noch Diskussionsgegner. Ob man es aber für verwerflich hält oder nicht und vielleicht einen atavistischen Rest barbarischer Zeiten darin findet, daß die Völker sich immer noch wirklich nach Freund und Feind gruppieren, oder hofft, die Unterscheidung werde eines Tages von der Erde verschwinden, ob es vielleicht gut und richtig ist, aus erzieherischen Gründen zu fingieren, daß es überhaupt keine Feinde mehr gibt, alles das kommt hier nicht in Betracht. Hier handelt es sich nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung. Man kann jene Hoffnungen und erzieherischen Bestrebungen teilen oder nicht; daß die Völker sich nach dem Gegensatz von Freund und Feind gruppieren, daß dieser Gegensatz auch heute noch wirklich und für jedes politisch existierende Volk als reale Möglichkeit gegeben ist, kann man vernünftigerweise nicht leugnen.
Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen haßt. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne (griech. polemios, nicht echthros). Die deutsche Sprache, wie auch andere Sprachen, unterscheidet nicht zwischen dem privaten und dem politischen „Feind“, so daß hier viele Mißverständnisse und Fälschungen möglich sind. Die viel zitierte Stelle „Liebet eure Feinde“ (Matth. 5,44 Luk. 6,27) heißt „diligite inimicos vestros“, (griech.: agapate tous echtrous hymon, und nicht: diligite hostes vestros; vom politischen Feind ist nicht die Rede). Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen „Feind“, d.h. seinen Gegner, zu lieben. Jene Bibelstelle berührt den politischen Gegensatz noch viel weniger, als sie etwa die Gegensätze von Gut und Böse oder Schön und Häßlich aufheben will. Sie besagt vor allem nicht, daß man die Feinde seines Volkes lieben und gegen sein eigenes Volk unterstützen soll. 28ff
In der Ausdrucksweise der innerstaatlichen Tagespolemik wird „politisch“ heute oft gleichbedeutend mit „parteipolitisch“ gebraucht […]. Die Gleichung: politisch = parteipolitisch ist möglich, wenn der Gedanke einer umfassenden, alle innerpolitischen Parteien und ihre Gegensätzlichkeiten relativierenden politischen Einheit (des „Staates“) seine Kraft verliert und infolgedessen die innerstaatlichen Gegensätze eine stärkere Intensität erhalten als der gemeinsame außenpolitische Gegensatz gegen einen anderen Staat. Wenn innerhalb eines Staates die parteipolitischen Gegensätze restlos „die“ politischen Gegensätze geworden sind, so ist der äußerste Grad der „innerpolitischen“ Reihe erreicht, d.h. die innerstaatlichen, nicht die außenpolitischen Freund- und Feindgruppierungen sind für die bewaffnete Auseinandersetzung maßgebend. Die reale Möglichkeit des Kampfes, die immer vorhanden sein muß, damit von Politik gesprochen werden kann, bezieht sich bei einem derartigen „Primat der Innenpolitik“ konsequenterweise nicht mehr auf den Krieg zwischen organisierten Völkereinheiten (Staaten oder Imperien), sondern auf den Bürgerkrieg. 32f
Zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes. […] Das Wesentliche an dem Begriff der Waffe ist, daß es sich um ein Mittel physischer Tötung von Menschen handelt. Ebenso wie das Wort Feind, ist hier das Wort Kampf im Sinne einer seinsmäßigen Ursprünglichkeit zu verstehen. Es bedeutet nicht Konkurrenz, nicht den „rein geistigen“ Kampf der Diskussion, nicht das symbolische „Ringen“, das schließlich jeder Mensch irgendwie immer vollführt, weil nun einmal das ganze menschliche Leben ein „Kampf“ und jeder Mensch ein „Kämpfer“ ist. Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft. Er braucht nichts Alltägliches, nichts Normales zu sein, auch nicht als etwas Ideales oder Wünschenswertes empfunden zu werden, wohl aber muß er als reale Möglichkeit vorhanden bleiben, solange der Begriff des Feindes seinen Sinn hat. […] Der Krieg ist durchaus nicht Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik, wohl aber ist er die als reale Möglichkeit immer vorhandene Voraussetzung, die das menschliche Handeln und Denken in eigenartiger Weise bestimmt und dadurch ein spezifisch politisches Verhalten bewirkt. 33ff
Auch heute noch ist der Kriegsfall der „Ernstfall“. Man kann sagen, daß hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende und den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung hat. Denn erst im wirklichen Kampf zeigt sich die äußerste Konsequenz der politischen Gruppierung von Freund und Feind. Von dieser extremsten Möglichkeit her gewinnt das Leben der Menschen seine spezifisch politische Spannung. 35
Nichts kann dieser Konsequenz des Politischen entgehen. Würde die pazifistische Gegnerschaft gegen den Krieg so stark, daß sie die Pazifisten gegen die Nicht-Pazifisten in den Krieg treiben könnte, in einen „Krieg gegen den Krieg“, so wäre damit bewiesen, daß sie wirklich politische Kraft hat, weil sie stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren. Ist der Wille, den Krieg zu verhindern, so stark, daß er den Krieg selbst nicht mehr scheut, so ist er eben ein politisches Motiv geworden, d.h. er bejaht, wenn auch nur als extreme Eventualität, den Krieg und sogar den Sinn des Krieges. Gegenwärtig scheint das eine besonders aussichtsreiche Art der Rechtfertigung von Kriegen zu sein. Der Krieg spielt sich dann in der Form des jeweils „endgültig letzten Krieges der Menschheit“ ab. Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. An der Möglichkeit solcher Kriege zeigt sich aber besonders deutlich, daß der Krieg als reale Möglichkeit heute noch vorhanden ist, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind und für die Erkenntnis des Politischen allein ankommt. 36f
Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. […] Eine religiöse Gemeinschaft, die als solche Kriege führt, sei es gegen die Angehörigen anderer religiöser Gemeinschaften, sei es sonstige Kriege, ist über die religiöse Gemeinschaft hinaus eine politische Einheit. 37
Das Politische […] bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken. Die reale Freund-Feindgruppierung ist seinsmäßig so stark und ausschlaggebend, daß der nichtpolitische Gegensatz in demselben Augenblick, in dem er diese Gruppierung bewirkt, seine bisherigen „rein“ religiösen, „rein“ wirtschaftlichen, „rein“ kulturellen Kriterien und Motive zurückstellt […]. Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb immer die maßgebende menschliche Gruppierung, die politische Einheit infolgedessen immer, wenn sie überhaupt vorhanden ist, die maßgebende Einheit und „souverän“ in dem Sinne, daß die Entscheidung über den maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist, begriffsnotwendig immer bei ihr stehen muß. 38f
Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter. 44
Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das jus belli, d.h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen. 45
Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen. Denn das jus belli enthält eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit: von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten. Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann.
Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den „innern Feind“ bestimmt. 46f
Durch diese Macht über das physische Leben der Menschen erhebt sich die politische Gemeinschaft über jede andere Art von Gemeinschaft oder Gesellschaft. 48
Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen. 49f
Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es aber selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. Läßt es sich von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr und einem andern politischen System ein- oder untergeordnet. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen einen wirklichen Feind geführt wird. […] Es steht einem politisch existierenden Volk keineswegs frei, durch beschwörende Proklamationen dieser schicksalvollen Unterscheidung zu entgehen. Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und hilft ihnen, aber die Unterscheidung von Freund und Feind ist damit nicht aufgehoben. Behaupten die Bürger eines Staates von sich, daß sie persönlich keine Feinde haben, so hat das mit dieser Frage nichts zu tun, denn ein Privatmann hat keine politischen Feinde; er kann mit solchen Erklärungen höchstens sagen wollen, daß er sich aus der politischen Gesamtheit, zu welcher er seinem Dasein nach gehört, herausstellen und nur noch als Privatmann leben möchte. Es wäre ferner ein Irrtum zu glauben, ein einzelnes Volk könnte durch eine Freundschaftserklärung an alle Welt oder dadurch, daß es sich freiwillig entwaffnet, die Unterscheidung von Freund und Feind beseitigen. Auf diese Weise wird die Welt nicht entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner Moralität, reiner Rechtlichkeit oder reiner Wirtschaftlichkeit versetzt. Wenn ein Volk die Mühen und das Risiko der politischen Existenz fürchtet, so wird sich eben ein anderes Volk finden, das ihm diese Mühen abnimmt, indem es seinen „Schutz gegen äußere Feinde“ und damit die politische Herrschaft übernimmt; der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam. 50ff
Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk. 53f
Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt. Daß Kriege im Namen der Menschheit geführt werden, ist keine Widerlegung dieser einfachen Wahrheit, sondern hat nur einen besonders intensiven politischen Sinn. Wenn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren, ähnlich wie man Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation mißbrauchen kann, um sie für sich zu vindizieren und dem Feinde abzusprechen. „Menschheit“ ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt mit einer naheliegenden Modifikation, ein von Proudhon geprägtes Wort: Wer Menschheit sagt, will betrügen.1 Die Führung des Namens „Menschheit“, die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, daß dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen, daß er hors-la-loi [für illegal, gesetzlos, vogelfrei] und hors l’humanité [für außerhalb der Menschheit/Menschlichkeit stehend] erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden soll. Aber abgesehen von dieser hochpolitischen Verwertbarkeit des unpolitischen Namens der Menschheit gibt es keine Kriege der Menschheit als solcher. Menschheit ist kein politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische Einheit oder Gemeinschaft und kein Status. Der humanitäre Menschheitsbegriff des 18. Jahrhunderts war eine polemische Verneinung der damals bestehenden aristokratisch-feudalen oder ständischen Ordnung und ihrer Privilegien. Die Menschheit der naturrechtlichen und liberal-individualistischen Doktrinen ist eine universale, d.h. alle Menschen der Erde umfassende soziale Idealkonstruktion, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, das erst dann wirklich vorhanden ist, wenn die reale Möglichkeit des Kampfes ausgeschlossen und jede Freund- und Feindgruppierung unmöglich geworden ist. In dieser universalen Gesellschaft wird es dann keine Völker als politische Einheiten, aber auch keine kämpfenden Klassen und keine feindlichen Gruppen mehr geben. 55f
Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird. […] [Ü]berall in der politischen Geschichte, außenpolitisch wie innerpolitisch, erscheint die Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu dieser Unterscheidung als Symptom des politischen Endes. In Rußland haben die untergehenden Klassen vor der Revolution den russischen Bauern zum guten, braven und christlichen Mushik romantisiert. In einem verwirrten Europa suchte eine relativistische Bourgeoisie alle denkbaren exotischen Kulturen zum Gegenstand ihres ästhetischen Konsums zu machen. Vor der Revolution von 1789 hat die aristokratische Gesellschaft in Frankreich von dem „von Natur guten Menschen“ und dem rührend tugendhaften Volk geschwärmt. 67f
Durch den Liberalismus des letzten Jahrhunderts sind alle politischen Vorstellungen in einer eigenartigen und systematischen Weise verändert und denaturiert worden. Als geschichtliche Wirklichkeit ist der Liberalismus dem Politischen so wenig entgangen wie irgendeine bedeutende menschliche Bewegung, und auch seine Neutralisierungen und Entpolitisierungen (der Bildung, der Wirtschaft usw.) haben einen politischen Sinn. Die Liberalen aller Länder haben Politik getrieben wie andere Menschen auch und sich in verschiedenster Weise mit nicht-liberalen Elementen und Ideen koaliert, als National-Liberale, Sozial-Liberale, Freikonservative, liberale Katholiken usw. Insbesondere haben sie sich mit den ganz unliberalen, weil wesentlich politischen und sogar zum totalen Staat führenden Kräften der Demokratie verbunden. Die Frage ist aber, ob aus dem reinen und konsequenten Begriff des individualistischen Liberalismus eine spezifisch politische Idee gewonnen werden kann. Das ist zu verneinen. Denn die Negation des Politischen, die in jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Mißtrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik. Es gibt infolgedessen eine liberale Politik als polemischen Gegensatz gegen staatliche, kirchliche oder andere Beschränkungen der individuellen Freiheit, als Handelspolitik, Kirchen- und Schulpolitik, Kulturpolitik, aber keine liberale Politik schlechthin, sondern immer nur eine liberale Kritik der Politik. Die systematische Theorie des Liberalismus betrifft fast nur den innerpolitischen Kampf gegen die Staatsgewalt und liefert eine Reihe von Methoden, um diese Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums zu hemmen und zu kontrollieren […]. 68f
In einer überaus systematischen Weise umgeht oder ignoriert das liberale Denken den Staat und die Politik und bewegt sich statt dessen in einer typischen, immer wiederkehrenden Polarität von zwei heterogenen Sphären, nämlich von Ethik und Wirtschaft, Geist und Geschäft, Bildung und Besitz. Das kritische Mißtrauen gegen Staat und Politik erklärt sich leicht aus den Prinzipien eines Systems, für welches der Einzelne terminus a quo und terminus ad quem2bleiben muß. Die politische Einheit muß gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen. Für den Individualismus des liberalen Denkens ist dieser Anspruch auf keine Weise zu erreichen und zu begründen. Ein Individualismus, der einem andern als dem Individuum selbst die Verfügung über das physische Leben dieses Individuums gibt, wäre ebenso eine leere Phrase wie eine liberale Freiheit, bei der ein Anderer als der Freie selbst über ihren Inhalt und ihr Maß entscheidet. Für den Einzelnen als solchen gibt es keinen Feind, mit dem er auf Leben und Tod kämpfen müßte, wenn er persönlich nicht will; ihn gegen seinen Willen zum Kampf zu zwingen ist auf jeden Fall, vom privaten Individuum aus gesehen, Unfreiheit und Gewalt. Alles liberale Pathos wendet sich gegen Gewalt und Unfreiheit. Jede Beeinträchtigung, jede Gefährdung der individuellen, prinzipiell unbegrenzten Freiheit, des Privateigentums und der freien Konkurrenz heißt „Gewalt“ und ist eo ipso etwas Böses. Was dieser Liberalismus von Staat und Politik noch gelten läßt, beschränkt sich darauf, die Bedingungen der Freiheit zu sichern und Störungen der Freiheit zu beseitigen.
So kommt es zu einem ganzen System entmilitarisierter und entpolitisierter Begriffe, von denen hier einige aufgezählt sein mögen, um die erstaunlich konsequente und, trotz aller Rückschläge, heute in Europa noch durch kein anderes System ersetzte Systematik liberalen Denkens zu zeigen. Immer ist dabei zu beachten, daß diese liberalen Begriffe sich in einer typischen Weise zwischen Ethik („Geistigkeit“) und Ökonomik (Geschäft) bewegen und von diesen polaren Seiten her das Politische als eine Sphäre der „erobernden Gewalt“ zu annihilieren suchen, wobei der Begriff des „Recht“-, d.h. „Privatrecht“-Staates als Hebel dient und der Begriff des Privateigentums das Zentrum des Globus bildet, dessen Pole – Ethik und Ökonomik – nur die gegensätzlichen Ausstrahlungen dieses Mittelpunktes sind. Ethisches Pathos und materialistisch-ökonomische Sachlichkeit verbinden sich in jeder typisch liberalen Äußerung und geben jedem politischen Begriff ein verändertes Gesicht. So wird der politische Begriff des Kampfes im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der andern, „geistigen“ Seite zur Diskussion; an die Stelle einer klaren Unterscheidung der beiden verschiedenen Status „Krieg“ und „Frieden“ tritt die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion. Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf der einen, der ethisch-geistigen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der Menschheit auf der andern zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems. Aus dem in der Situation des Kampfes gegebenen, völlig selbstverständlichen Willen, den Feind abzuwehren, wird ein rational-konstruiertes soziales Ideal oder Programm, eine Tendenz oder eine wirtschaftliche Kalkulation. Aus dem politisch geeinten Volk wird auf der einen Seite ein kulturell interessiertes Publikum, auf der andern teils ein Betriebs- und Arbeitspersonal, teils eine Masse von Konsumenten. Aus Herrschaft und Macht wird an dem geistigen Pol Propaganda und Massensuggestion, an dem wirtschaftlichen Pol Kontrolle. 69ff
Mit Hilfe solcher Definitionen und Konstruktionen, die schließlich alle nur die Polarität von Ethik und Ökonomik umkreisen, kann man Staat und Politik nicht ausrotten und wird man die Welt nicht entpolitisieren. Daß die wirtschaftlichen Gegensätze politisch geworden sind und der Begriff der „wirtschaftlichen Machtstellung“ entstehen konnte, zeigt nur, daß von der Wirtschaft wie von jedem Sachgebiet aus der Punkt des Politischen erreicht werden kann. Unter diesem Eindruck ist das vielzitierte Wort Walther Rathenaus3entstanden, daß heute nicht die Politik, sondern die Wirtschaft das Schicksal sei.
Richtiger wäre zu sagen, daß nach wie vor die Politik das Schicksal bleibt und nur das eingetreten ist, daß die Wirtschaft ein Politikum und dadurch zum „Schicksal“ wurde. Es war deshalb auch irrig zu glauben, eine mit Hilfe ökonomischer Überlegenheit errungene politische Position sei (wie Josef Schumpeter in seiner Soziologie des Imperialismus 1919 sagte) „essentiell unkriegerisch“. Essentiell unkriegerisch, und zwar aus der Essenz der liberalen Ideologie heraus, ist nur die Terminologie. Ein ökonomisch fundierter Imperialismus wird natürlich einen Zustand der Erde herbeizuführen suchen, in welchem er seine wirtschaftlichen Machtmittel, wie Kreditsperre, Rohstoffsperre, Zerstörung der fremden Währung usw., ungehindert anwenden kann und mit ihnen auskommt. Er wird es als „außerökonomische Gewalt“ betrachten, wenn ein Volk oder eine andere Menschengruppe sich der Wirkung dieser „friedlichen“ Methoden zu entziehen sucht. Er wird auch schärfere, aber immer noch „wirtschaftliche“ und daher (nach dieser Terminologie) unpolitische, essentiell friedliche Zwangsmittel gebrauchen, wie sie z.B. der Genfer Völkerbund in den „Richtlinien“ zur Ausführung des Art.16 der Völkerbundsatzung (Ziffer 14 des Beschlusses der 2. Völkerbundversammlung 1921) aufgezählt hat: Unterbindung der Nahrungsmittelzufuhr an die Zivilbevölkerung und Hungerblockade. Schließlich verfügt er noch über technische Mittel gewaltsamer physischer Tötung, über technisch vollkommene moderne Waffen, die mit einem Aufgebot von Kapital und Intelligenz so unerhört brauchbar gemacht worden sind, damit sie nötigenfalls auch wirklich gebraucht werden. Für die Anwendung solcher Mittel bildet sich allerdings ein neues, essentiell pazifistisches Vokabularium heraus, das den Krieg nicht mehr kennt, sondern nur noch Exekutionen, Sanktionen, Strafexpeditionen, Pazifizierungen, Schutz der Verträge, internationale Polizei, Maßnahmen zur Sicherung des Friedens. Der Gegner heißt nicht mehr Feind, aber dafür wird er als Friedensbrecher und Friedensstörer hors-la-loi und hors l’humanité gesetzt, und ein zur Wahrung oder Erweiterung ökonomischer Machtpositionen geführter Krieg muß mit einem Aufgebot von Propaganda zum „Kreuzzug“ und zum „letzten Krieg der Menschheit“ gemacht werden. So verlangt es die Polarität von Ethik und Ökonomie. In ihr zeigt sich allerdings eine erstaunliche Systematik und Konsequenz, aber auch dieses angeblich unpolitische und scheinbar sogar antipolitische System dient entweder bestehenden oder führt zu neuen Freund- und Feindgruppierungen und vermag der Konsequenz des Politischen nicht zu entrinnen. 76ff
Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie
I.
Wenn sich in den schwersten Tagen des großen Krieges die Gedanken, um die furchtbare Gegenwart zu ertragen, der Zukunft zuwendeten, wenn man sich die politische Zukunft als eine bessere vorzustellen versuchte, dann konnte man sie nicht anders denken denn als Verwirklichung der Demokratie. Und als der große Krieg sein trauriges Ende fand, da war die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes dahin einig, daß die Form seines politischen Lebens keine andere sein könne, als die demokratische Republik. Das Denkmal dieser Überzeugung ist die Verfassung von Weimar.
Man hat sie die freieste Verfassung genannt, die sich je ein Volk gegeben hat. Und das ist wahr. Denn sie ist in der Tat die demokratischste Verfassung der Welt. Keine gibt dem Volke soviel Recht wie sie, keine entspricht, ihrem ganzen Inhalt nach, so wie sie dem Grundsatz, der an ihre Spitze steht, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht. Wenn irgendwo, so ist hier keine Lüge, was Nietzsche den ,,Neuen Götzen“, das ,,kälteste aller Ungeheuer“, sprechen läßt: ,,Ich, der Staat, bin das Volk.“ Denn der deutsche Staat ist wirklich das deutsche Volk!
Und doch gibt es heute, kaum mehr als ein Jahrzehnt nach der historischen Tat von Weimar4, keine Verfassung der Welt, die ihrem Volk so fremd wäre wie diese, keine, der ein so großer Teil des Volkes so kalt und gleichgültig und ein noch größerer mit so viel Haß und Verachtung gegenübersteht. Es scheint, als ob der Deutsche die Freiheit nicht mehr mag, die er sich selbst gegeben.
Aber auch bei anderen Völkern will das Licht verlöschen, das einst so gewaltig von der Idee der Freiheit ausgestrahlt. Das Ideal der Demokratie verblaßt, und an dem dunklen Horizont unserer Zeit steigt ein neues Gestirn auf, dem sich die Hoffnung der Massen um so gläuber zuwendet, je blutiger sein Glanz über ihr leuchtet: die Diktatur. In ihrem Zeichen steht der Kampf, der zugleich von zwei Fronten gegen die Demokratie geführt wird. Von der äußersten Linken, der immer stärker anschwellenden, immer weitere Kreise der Arbeiterschaft erfassenden bolschewistischen Bewegung; von der äußeren Rechten, dem Faszismus oder, wie er in Deutschland heißt, dem Nationalsozialismus, dessen Partei stürmischer gewachsen ist als je eine politische Organisation in Deutschland; und der heute schon den größten Teil des Bürgertums in sich vereinigt. Ist als das Ziel der einen dieser beiden antidemokratischen Bewegungen klar und deutlich zu erkennen: die Diktatur des Proletariats mit all den wirtschafts- und kulturpolitischen Konsequenzen, die solche Diktatur im Gefolge hat, so ist von der anderen Seite — soweit es sich um den deutschen Faszismus handelt — nur die Ideologie sichtbar: eine seltsam widerspruchsvolle Vermengung von Nationalismus und Sozialismus. Die reale Diktatur, die hinter ihr errichtet werden soll, ist einstweilen nur als Form zu sehen, von deren Inhalt nicht einmal ihre Führer eine feste Vorstellung zu haben scheinen. Je grausamer die Formen dieser Diktatur zu werden versprechen, desto unklarer bleibt, im Dienste welcher Interessen sie schließlich ausgeübt werden wird. Wer in diesem Kampfe den Sieg davontragen wird, zunächst einmal oder auf die Dauer — wir wissen es nicht. Nur das eine wissen wir: ob dieser Sieg der Rechten oder der Linken zufällt, seine Fahne wird aufgerichtet werden auf dem Grabe der Demokratie.
Diesem Kampf der politischen Gruppen als der realen sozialen Kräfte, entspricht auch der Kampf der Geister. Im Reich der sozialen Theorie, das ja zum größten Teil nur ein Bereich der politischen Ideologie ist, hat sich das Urteil über den Wert der Demokratie während des letzten Dezeniums ganz erstaunlich rasch geändert. Immer geringer ist die Zahl jener Theoretiker geworden, die an dieser Staatsform irgendwelche Vorzüge zu finden vermögen, ja sogar immer geringer die Zahl jener, die ihr Wesen in objektiver Erkenntnis zu erfassen bemüht sind. In den Kreisen der Staatsrechtslehrer und Soziologen versteht es sich heute beinahe von selbst, von Demokratie nur mit verächtlichen Worten zu sprechen, gilt als modern, die Diktatur — direkt oder indirekt — als das Morgenrot einer neuen Zeit zu begrüßen. Und diese Wendung der ,,wissenschaftlichen“ Haltung geht Hand in Hand mit einem Wechsel der philosophischen Front: Fort von der jetzt als Flachheit verschrieenen Klarheit des empirisch-kritischen Rationalismus, diesem geistigen Lebensraum der Demokratie, zurück zu der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik, zum Kultus eines nebulösen Irrationalen, dieser spezifischen Atmosphäre, in der seit je die verschiedenen Formen der Autokratie am besten gediehen sind. Das ist die Parole von heute.
Und darum tut es gerade heute doppelt not, und darum drängt es gerade heute mehr als je die wenigen, die ihre Köpfe freigehalten haben von der Vernebelung der politischen Ideologien, sich zu besinnen über das wahre Wesen und den wahren Wert dieser heute so geschmähten Demokratie, öffentlich einzutreten für ein Gut, bevor noch sein Verlust auch die anderen belehrt hat, was sie verloren. Nicht als ob die Hoffnung sehr groß wäre, den Verlust dadurch zu vermeiden. — Ein Freund der Demokratie gleicht heute nur zu sehr einem Arzt am Bett eines Schwerkranken: man setzt die Behandlung noch fort, auch wenn die Aussicht, den Patienten am Leben zu erhalten, beinahe schon geschwunden ist. — Aber das Bekenntnis zur Demokratie wäre heute auch dann Pflicht jedes Demokraten, wenn jeder Versuch, sie zu retten, völlig aussichtslos geworden wäre. Denn es gibt auch eine Treue zur Idee, die unabhängig ist von der Chance, diese Idee zu realisieren; und es gibt auch Dankbarkeit für eine Idee, die über das Grab ihrer Verwirklichung hinausgeht.
Solche Treue und Dankbarkeit bezeugt man am besten dadurch, daß man die Demokratie gegen die ungerechten Vorwürfe verteidigt, die ihr von Links und Rechts gemacht werden.
II.
Der schwerste Einwand, der von sozialistischer Seite gegen die Demokratie erhoben wird — und das scheint mir der schwerste Einwand überhaupt zu sein — besteht darin, daß die Demokratie, die den Grundsatz der Gleichheit vertritt, in Wirklichkeit nur eine formale, nur die politische, keine materiale, keine soziale Gleichheit gebracht hat, und daß sie eben nur eine politische, keine soziale Demokratie und daher nur der Staat der Bourgeoisie, nicht der des Proletariats, die politische Form der Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie ist. Gegen diesen Einwand soll gar nicht darauf hingewiesen werden, daß die richtig verstandene Demokratie nicht so sehr das Prinzip der Gleichheit, als vielmehr das der Freiheit, der politischen Selbstbestimmung, verwirklichen will und daß die reale Demokratie speziell in Deutschland diese politische Selbstbestimmung restlos verwirklicht, also nichts versprochen, was nicht auch geleistet hat. Auch darauf soll nicht eingegangen werden, daß in demselben Maße, als die staatliche Organisation demokratisiert wurde, sozialpolitische Grundsitze in der Gesetzgebung und Verwaltung Eingang fanden und den Staatsapparat in zunehmendem Maße auch in den Dienst der Interessen der besitzlosen Klassen zwangen. Es soll vielmehr zugegeben werden, daß die Demokratie trotzdem im wesentlichen eine bürgerliche Demokratie geblieben, und daß in dieser politischen Form das kapitalistische System aufrechterhalten wurde, der Sozialismus sich bisher nicht durchzusetzen vermochte. Aber warum ist das so? Ist das Schuld oder — wie die anderen sagen werden — Verdienst der Demokratie? Durchaus nicht! Als Einwand gegen die Demokratie ist das Argument des noch nicht realisierten Sozialismus nicht minder kurzsichtig und oberflächlich wie jenes, das die Republik für die wirtschaftliche Not verantwortlich macht statt den verlorenen Krieg. Wenn die Demokratie eine bürgerlich-kapitalistische geblieben ist, so darum, weil das sozialistisch orientierte Proletariat — aus Gründen, die jenseits aller politischen Form liegen — bisher eben nicht die Mehrheit des Volkes zu werden vermochte. Aber das, was das Proletariat tatsächlich geworden ist, seine politische Machtstellung als Klasse, der gewaltige Einfluß, den es — obgleich als politische Organisation nur eine Minorität und in Deutschland noch dazu in zwei Parteien gespalten — auf die Bildung des Staatswillens gewonnen: all das wäre unmöglich gewesen ohne Demokratie, ohne die im wesentlichen von der Bourgeoisie geschaffene Demokratie. Der Kommunismus, der es für seine Aufgabe hält, die Demokratie zu verunglimpfen, sie in den Augen des Proletariats zu diskreditieren, um dieses seelisch für eine Diktatur reif zu machen, er vergiftet oder verleugnet, daß die Demokratie die Staatsform des politischen Aufstiegs des Proletariats ist; eines Aufstieges, der unvergleichlich rascher vor sich ging, als der, den das Bürgertum im Feudal- und Polizeistaat auf Kosten des Adels vollzogen. Indem das Bürgertum die Demokratie erkämpft, schafft es eben nicht nur für sich, sondern auch für den sogenannten vierten Stand, die Möglichkeit politischer Entwicklung und damit die wichtigste Voraussetzung für die Verwirklichung des dem bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftssystem feindlichen Sozialismus. Nicht aber — so scheint es wenigstens bis jetzt — ist die Demokratie die Form einer endgültigen Eroberung der Macht durch ein sozialistisch gerichtetes Proletariat. Das ist ja der Grund für die Spaltung in der Partei des marxistischen Sozialismus. Was die Kommunisten von den Sozialdemokraten trennt, ist im wesentlichen, daß diese an der Demokratie festhalten, jene aber sie fallen lassen, weil sie ihnen nicht mehr als die geeignete Form erscheint, den Sozialismus zu verwirklichen. Wenn Marx und Engels, trotz gewisser Schwankungen und Zweideutigkeiten, schließlich doch das Proletariat auf den Kampf für die Demokratie festgelegt und sich den Uebergangsstaat, die Herrschaft des Proletariats, als Demokratie vorgestellt haben, so darum, weil sie — gestützt auf die sogenannte Verelendungstheorie — der Ueberzeugung waren, das Proletariat, und zwar das klassenbewußte und darum sozialistisch gesinnte Proletariat müsse notwendigerweise die überwiegende Mehrheit des Volkes bilden. In dieser Annahme haben sie sich, scheint es, getäuscht. Nicht nur hinsichtlich der ökonomischen Struktur dieses Proletariats, in dem die breite Schichte zwischen den völlig Besitzlosen und den reichlich Besitzenden vernachlässigt ist; sondern auch hinsichtlich der psychologischen Situation, in die das proletarisierte oder halbproletarisierte Bürgertum gerät. Dieses sucht nämlich seinen Halt nicht in dem Stolz eines neuen Klassenbewußtseins, es greift zu seiner Stütze nicht nach einer sozialistischen, sondern nach einer nationalsozialistischen Ideologie. Es versucht die ökonomisch unausweichliche Proletarisierung seelisch durch eine heroisch-romantische Geisteshaltung zu kompensieren. Und dieses neue Proletariat wendet sich ab von der Demokratie, nicht weil es — wie die Kommunisten — den Sozialismus will, sondern weil es ihn nicht will, und verstärkt so die politischen Bestrebungen des noch erhaltenen Bürgertums, der Großbourgeoisie, die gleichfalls das Lager der Demokratie verläßt, weil diese ihr angesichts der, trotz allem, dennoch steigenden Flut des Sozialismus keinen sicheren Schutz mehr für das kapitalistische System zu bieten scheint.
Diese Flucht aus der Demokratie ist nur ein Beweis dafür, daß die politische Form der Demokratie sich nicht für einen Klassenkampf eignet, der mit dem entscheidenden Sieg der einen und der vernichtenden Niederlage der anderen Partei enden soll. Denn die Demokratie ist die politische Form des sozialen Friedens, des Ausgleichs der Gegensätze, der gegenseitigen Verständigung auf einer mittleren Linie. Und wenn es überhaupt einen Weg gibt, auf dem der furchtbare Gegensatz der Klassen, der die Einheit des deutschen Volkes in so verhängnisvoller Weise zerreißt, nicht zu einer blutig-revolutionären Katastrophe treiben, sondern auf friedlichem Wege gelöst werden soll, so ist es der Weg der Demokratie, den eben alle diejenigen nicht wollen, die den Frieden und den Preis des Friedens nicht wollen: das Kompromiß.
III.
Was aber hat man von der rechten Seite der Demokratie vorzuwerfen? Hört man nach dieser Richtung, so tönt einem eine verwirrende Fülle der verschiedensten und oft widersprechendsten Argumente entgegen. Zu den landläufigsten gehört, daß Demokratie der spezifische Nährboden der Korruption sei. Allein in Wahrheit ist dieser Mißstand in der Autokratie nicht geringer; nur daß er hier unsichtbar bleibt, weil hier der Grundsatz herrscht, im Interesse der staatlichen Autorität alle Schäden zu verhüllen, während das für die Demokratie charakteristische Prinzip der Publizität die entgegengesetzte Tendenz hat. Gerade darin, daß hier alle Schäden ans Licht gezerrt werden, liegt eine wirksame Garantie für ihre Heilung. Nicht weniger häufig als den Vorwurf der Korruptionsbegünstigung kann man den Mangel der Disziplin und insbesondere den Einwand ungenügender militärischer Schlagkraft und schwächlicher Außenpolitik zu hören bekommen. Allein so sehr gerade dieses Argument gegen die Demokratie an deren innersten Nerv zu rühren scheint, so wenig wird es durch die Erfahrung der Geschichte bestätigt. So haben sich im Weltkrieg gerade die großen demokratischen Staaten außenpolitisch wie militärisch bewährt.
Das theoretische Hauptargument aber, das immer wieder von den Vorkämpfern der Diktatur gegen die Demokratie vorgebracht wird, ist dies: daß deren Grundprinzip, der Grundsatz der Majorität, völlig ungeeignet sei, eine sachlich richtige Bildung des Gemeinschaftswillens zu gewährleisten. Nicht die Mehrheit soll entscheiden, die keinerlei Garantie für die Güte der so erzeugten Ordnung bietet, da das Mehrheitsprinzip nur eine Methode der Willensbildung, keine Bestimmung des Willensinhalts liefert. Vielmehr soll der Beste regieren. Das ist — seit Platon — immer wieder die Formel gewesen, mit der man gegen die Demokratie gekämpft hat, ohne etwas Besseres an ihre Stelle setzen zu können; eine Formel, die in ihrer negativen Funktion ebenso bestechend, wie in ihrer positiven nichtssagend ist. Denn daß der Beste herrschen solle, versteht sich von selbst. Die Herrschaft des Besten bedeutet ja nur, daß die soziale Ordnung den besten, den richtigen Inhalt haben soll. Darin sind sich aber alle völlig einig. Worauf es ankommt, das ist die Antwort auf die Frage: Was ist das Richtige, worin besteht es; und: Wer ist der Beste, welches ist die Methode, die mit absoluter Sicherheit dazu führt, daß der Beste und nur der Beste zur Herrschaft kommt und die Herrschaft — gegen den Ansturm der Schlechten — behauptet? Auf diese vom Standpunkt der sozialen Theorie und Praxis entscheidende Frage erhält man von antidemokratischer Seite keine Antwort. Sie erwartet alles Heil vom Führer, aber die Kreation des Führers, die in der Demokratie im hellen Lichte eines öffentlich kontrollierbaren Verfahrens, nämlich durch die Wahl vor sich geht, sie bleibt in der Autokratie in mystisches Dunkel gehüllt. Hier wird die rationale Methode durch den Glauben an das soziale Wunder ersetzt. Der gottbegnadete Führer, der das Gute weiß und will, dessen Existenz wird einfach vorausgesetzt und damit das sozialtechnische Problem der Organisation nicht gelöst, sondern hinausgeschoben, ideologisch verhüllt. Die Wirklichkeit der Diktatur aber zeigt, daß die Macht entscheidet, daß als Bester gilt, wer es versteht, sich die anderen zu unterwerfen. Hinter der These von dem ausschließlichen Herrschaftsrecht der Besten verbirgt sich zumeist nur eine höchst unkritische und wundergläubige Anbetung der Macht.
Gestützt auf die Lehre, daß der Beste herrschen solle, wird in der Regel die Forderung erhoben, daß man in allen oder doch in allen sachlichen Fragen den Fachmann entscheiden lassen solle; und im Zusammenhange damit stellt man der demokratischen die berufsständische Organisation entgegen. So richtig es ist, daß technische Probleme im weitesten Sinne des Wortes nicht allein durch Mehrheitsbeschlüsse gelöst werden können, so unrichtig ist es, zwischen dem demokratischen und dem fachmännisch berufsständischen Prinzip einen wesentlichen Gegensatz zu sehen. Zunächst ist zu beachten, was leider zumeist übersehen wird, daß in einem politischen System die Rolle des Fachmanns immer nur eine sekundäre sein kann. Das, worauf es hier in erster Linie ankommt: die sozialen Ziele zu bestimmen, ist er völlig außerstande. Erst wenn über das Ziel entschieden ist, kann — zur Bestimmung des tauglichen Mittels, den gesetzten Zweck zu erreichen — die Tätigkeit des Fachmanns einsetzen. Nichts ist kurzsichtiger als gerade die in Deutschland übliche Ueberschätzung des Fachmanns, nichts führt sicherer zum Verlust des Selbstbestimmungsrechtes, als die Abdankung der politischen Vernunft zugunsten eines Sachlichkeits-Ideals, das zu allen Zeiten eine der wirksamsten Ideologien der Autokratie war. Die immer wieder den Fachmann auf den Schild heben, sie vergessen, wie häufig ein Streit zwischen Fachleuten ist; schon auf rein technisch-naturwissenschaftlichem Gebiete und erst recht im Bereiche der sozialen Technik. Wer anders aber kann diesen Streit entscheiden als der Nichtfachmann, d.h. der Politiker. Da die Bestimmung des Zweckes selbst, die Setzung des Zieles, und insbesondere die Aufrichtung des letzten sozialen Ziels jenseits des Bereichs fachmännischer Erwägungen liegt, kann auch berufsständische Organisation aus sich selbst heraus nicht die notwendigen Entscheidungen liefern. Interessenkonflikte, Machtfragen: sie können nur auf demokratischem oder autokratischem Wege durch Kompromiß oder Diktat gelöst werden. Die berufsständische Organisation, der Fachmann, ist nur als beratendes, nicht als entscheidendes Organ möglich, und kann als beratendes Organ ebenso einem Parlament wie einem Diktator zur Seite stehen.
Gewiß, wenn die Frage nach dem, was sozial richtig, was das Gute, das Beste ist, in einer absoluten, objektiv gültigen, für alle unmittelbar verbindlichen, weil allen unmittelbar einleuchtenden Weise beantwortet werden könnte: dann wäre die Demokratie schlechthin unmöglich. Denn was könnte es für einen Sinn haben, über eine Maßnahme, deren Richtigkeit über allem Zweifel erhaben feststeht, abstimmen und die Mehrheit entscheiden lassen? Was könnte es gegenüber der Autorität des absolut Guten anderes geben als den dankbaren und bedingungslosen Gehorsam aller derer, denen es zum Heil gereichen soll. Aber läßt sich die Frage nach dem besten Inhalt der gesellschaftlichen Ordnung in dieser Weise beantworten? Ist menschlicher Erkenntnis überhaupt absoluter Wert erreichbar? Seit Tausenden von Jahren quält sich der menschliche Geist mit diesem Problem, seit Tausenden von Jahren vergeblich. Nur wer an die Existenz eines absoluten Wertes glaubt, wer sich selbst oder einen anderen im Besitz dieses Wertes weiß, hat das Recht, die Demokratie zu verurteilen, hat das Recht, seinen Willen gegen den aller anderen durchzusetzen, seine Ueberzeugung, und sei es auch mit Gewalt, allen anderen aufzuzwingen. Wer aber weiß, daß menschlicher Erkenntnis nur relative Werte zugänglich sind, der kann den zu ihrer Verwirklichung notwendigen Zwang nur dadurch rechtfertigen, daß er die Zustimmung wenn nicht schon aller (das wäre ja unmöglich, bedeutete Anarchie), so doch wenigstens der Mehrheit jener hat, für welche die Zwangsordnung Geltung beansprucht. Das ist der Grundsatz der Demokratie. Es ist das Prinzip größtmöglicher Freiheit als des relativ geringsten Gegensatzes zwischen der volonté générale, dem Inhalt der staatlichen Ordnung, und der volonté de tous, dem Wollen der Einzelnen dieser Ordnung unterworfenen Subjekten.
Diese Freiheit ist in jeder anderen als der demokratischen Staatsform unrettbar verloren. Vor allem in der Diktatur, mag das nun eine sozialistische oder nationalistische sein. Mit der politischen Freiheit der Selbstbestimmung muß aber zwangsläufig — das lehrt jedes Blatt der Geschichte — die geistige Freiheit verschwinden. Die geistige Freiheit: das bedeutet die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit der sittlichen, künstlerischen und religiösen Ueberzeugung. Die Intellektuellen, die heute gegen die Demokratie kämpfen und damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen, sie werden die Diktatur, die sie rufen, wenn sie erst unter ihr leben müssen, verfluchen, und nichts mehr ersehnen als die Rückkehr zu der von ihnen so verlästerten Demokratie.
IV.
Schließlich muß noch eines Einwandes gedacht werden, den man nicht als Bolschewist und nicht als Faszist, den man als Demokrat gegen die Demokratie machen kann. Sie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, daß sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muß. Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden, muß sie ihr wie jeder anderen politischen Ueberzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeit gewähren. Und so sehen wir das seltsame Schauspiel, daß Demokratie in ihren ureigensten Formen aufgehoben werden soll, daß ein Volk die Forderung erhebt, ihm die Rechte wieder zu nehmen, die es sich selbst gegeben, weil man verstanden hat, dieses Volk glauben zu machen, daß sein größtes Uebel sein eigenes Recht sei. Angesichts solcher Situation mochte man an das pessimistische Wort Rousseaus glauben: Eine so vollkommene Staatsformel sei zu gut für die Menschen, nur ein Volk von Göttern könnte sich auf die Dauer demokratisch regieren.
Aber angesichts dieser Situation erhebt sich auch die Frage, ob man es dabei sein Bewenden lassen solle, die Demokratie theoretisch zu verteidigen. Ob die Demokratie sich nicht selbst verteidigen soll, auch gegen das Volk, das sie nicht mehr will, auch gegen eine Majorität, die in nichts anderem einig ist, als in dem Willen, die Demokratie zu zerstören. Diese Frage stellen, heißt schon, sie verneinen. Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, d.h. wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten. Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann in die Tiefe nur die Hoffnung mitnehmen, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und daß es, je tiefer es gesunken, um so leidenschaftlicher wieder aufleben wird.
1 Anmerkung IWW: Schmitt bezieht sich hier auf Proudhons Aussage „Wer Gott sagt, will betrügen“. Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) war Ökonom, Soziologe und Vertreter eines solidarischen Anarchismus.
2 Anmerkung IWW: Die spätlateinischen Phrasen terminus a quo und terminus ad quem bedeuten soviel wie „der Zeitpunkt, von dem an etwas gilt oder ausgeführt wird“ und „der Zeitpunkt, bis zu dem etwas gilt oder ausgeführt wird“ oder einfach gesagt: Anfangs- und Endpunkt.
3 Anmerkung IWW: Walther Rathenau (1867-1922) war ein deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler Politiker. Er wurde als Reichsaußenminister Opfer eines politisch motivierten Attentats.
4 Anmerkung IWW: Die Weimarer Verfassung (offiziell: Verfassung des Deutschen Reichs, auch Weimarer Reichsverfassung genannt) war die erste praktizierte demokratische Verfassung Deutschlands und wurde 1919 verkündet. Es wird bis heute vermutet, dass einzelne Teile dieser Verfassung bzw. Versäumnisse im Verfassungstext maßgeblich zum Untergang der Republik beigetragen haben.