Der berüchtigste Universalgelehrte der Wiener Schule und Mises-Schüler, mit besonderer Berücksichtigung seiner Beiträge zur Rechtsphilosophie.
FRIEDRICH A. VON HAYEK (geb. 1899 in Wien, gest. 1992 in Freiburg)
Ausgewählte Werke:
- Die Verfassung der Freiheit, 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 1991 [1960]
- Der Weg zur Knechtschaft. München: Olzog Verlag, 1994 [1944/1947]
- Die Irrtümer des Konstruktivismus. München: Wilhelm Fink Verlag, 1970 [Antrittsvorlesung an der Paris-Lodron Universität Salzburg am 27. Januar 1970]
- Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik. In: Alfred Bosch et. al. (Hrsg.). Gesammelte Schriften in deutscher Sprache. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2004 [1979]
- Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit. In: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2002 [1969]
- Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. In: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2002 [1969]
- Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politschen Ökonomie. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2003 [1979]
Die Verfassung der Freiheit
Nicht alle Ergebnisse der historischen Entwicklung des Westens können oder sollten auf anderen kulturellen Boden verpflanzt werden […]. […] [O]hne jenen Geist [der persönlichen Initiative kann] eine lebensfähige Zivilisation nirgends entstehen […]. 3[Über Freiheit:] Dieser Zustand, in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist. 14
In dieser Bedeutung beschreibt ‚Freiheit’ immer eine Beziehung von Menschen zu Menschen, und der einzige Eingriff in diese Freiheit ist Zwang durch andere Menschen. 16
Ob er [der Mensch] frei ist oder nicht, hängt nicht vom Bereich der Wahl ab, sondern davon, ob er erwarten kann, den Lauf seiner Handlungen nach seinen gegenwärtigen Absichten zu gestalten, oder ob jemand anderer die Macht hat, die Umstände so zu modifizieren, daß er nach dem Willen des anderen und nicht nach seinem eigenen Willen handeln wird. Freiheit setzt daher voraus, daß dem Einzelnen ein privater Bereich gesichert ist, daß es in seiner Umgebung einen Bereich von Umständen gibt, in die andere nicht eingreifen können. 17
Gegen unseren Begriff der Freiheit wird oft eingewendet, daß er bloß negativ sei. Das ist in demselben Sinn richtig, als auch “Friede” oder “Sicherheit”, “Ruhe” oder die Abwesenheit bestimmter Behinderungen oder Übel negative Begriffe sind. “Freiheit” gehört zu derselben Klasse von Begriffen: Er bezeichnet die Abwesenheit eines bestimmten Hindernisses für unser Handeln, nämlich die Abwesenheit des Zwanges von seiten anderer Menschen. Die Freiheit wird etwas Positives nur durch den Gebrauch, den wir von ihr machen. Sie sichert uns keinerlei bestimmte Möglichkeiten, sondern überläßt es uns, zu entscheiden, was wir aus den Umständen machen, in denen wir uns befinden. 25f
Unter “Zwang” wollen wir eine solche Veränderung der Umgebung oder der Umstände eines Menschen durch jemand anderen verstehen, daß dieser, um größere Übel zu vermeiden, nicht nach seinem eigenen zusammenhängenden Plan, sondern im Dienste der Zwecke des anderen handeln muß. Außer in dem Sinn, daß er in der von dem anderen geschaffenen Situation das geringste Übel wählt, kann er weder seinen Verstand oder sein Wissen verwenden noch seinen eigenen Zielen oder Überzeugungen folgen. 27f
Man könnte sagen, daß die Zivilisation beginnt, wenn der Einzelne in der Verfolgung seiner Ziele mehr Wissen verwerten kann, als er selbst erworben hat, und wenn er die Grenzen seines Wissens überschreiten kann, indem er aus Wissen Nutzen zieht, das er nicht selbst besitzt. 30
Es gehen alle politischen Theorien davon aus, daß die meisten Menschen unwissend sind. Die Vertreter der Freiheit unterscheiden sich […] dadurch, daß sie zu den Unwissenden auch sich selbst […] zählen. 39
Gerade weil wir nicht wissen, wie die Einzelnen ihre Freiheit nützen werden, ist sie so wichtig. […] Mehrheitsentscheidungen sind aber notwendig auf das schon Erprobte und Gesicherte beschränkt, nämlich auf die Dinge, über die jener Prozeß der Diskussion, dem die verschiedenen Erfahrungen und Handlungen verschiedener Menschen vorangegangen sein müssen, schon Übereinstimmung gebracht hat. 41
In gewissem Sinn ist Zivilisation Fortschritt und Fortschritt Zivilisation. Die Erhaltung der Zivilisation, die wir kennen, hängt vom Wirken von Kräften ab, die unter günstigen Umständen Fortschritt hervorbringen. 50
Es ist eine Tatsache, die all die großen Vorkämpfer der Freiheit, außerhalb der rationalistischen Schule, nicht müde wurden zu betonen, daß Freiheit ohne tief eingewurzelte moralische Überzeugungen niemals Bestand gehabt hat und das Zwang nur dort auf ein Mindestmaß herabgesetzt werden kann, wo zu erwarten ist, daß die Individuen sich in der Regel freiwillig nach gewissen Grundsätzen richten. 79
Ein Politiker, der ein geistiger Führer ist, wäre beinahe eine contradictio in adjecto. Seine Aufgabe in der Demokratie ist es, herauszufinden, was die Ansichten der großen Mehrheit sind, nicht, neue Ideen in Umlauf zu setzen, die in ferner Zukunft die Ansicht der Majorität werden könnten. 136
Die Überzeugung, daß auf lange Zeit gesehen Ideen und daher die Männer, die neue Ideen in die Welt setzen, die Entwicklung bestimmen […], haben seit langem einen wesentlichen Bestandteil der liberalen Anschauung gebildet. 137[…] daß die Moral von Handlungen innerhalb des privaten Bereichs nicht Gegenstand staatlicher Zwangsmaßnahmen sein soll. 175
Was ich suche, ist ein Wort, das die Partei des Lebendigen bezeichnet, die Partei, die für freies Wachstum und spontane Entwicklung eintritt. 493
Der Weg zur Knechtschaft
Nicht nur den Liberalismus des 18. und des 19. Jahrhunderts geben wir Schritt für Schritt auf, sondern auch die Grundlagen der individualistischen Philosophie, die wir als Vermächtnis von Erasmus und Montaigne, von Cicero und Tacitus, von Perikles und Thukydides empfangen haben. […] Dieser Individualismus, der auf der Grundlage des Christentums und der Philosophie des klassischen Altertums sich zuerst während der Renaissance voll entwickelte und sich seitdem immer mehr als abendländische Kultur entfaltet hat, ist in der Hauptsache durch die Achtung vor dem Individuum als Menschen gekennzeichnet. Das ist gleichbedeutend mit der Anerkennung seiner Ansichten und seines Geschmackes als der letzten Instanz in seiner eigenen, wenn auch noch so begrenzten Sphäre und mit dem Glauben, daß die Entwicklung der individuellen Begabungen und Neigungen des Menschen wünschenswert ist. 32f
Man könnte sogar behaupten, daß gerade der Erfolg des Liberalismus zur Ursache seines Niederganges wurde. Auf Grund des bereits Erreichten wurden die Menschen zusehends weniger geneigt, sich mit den noch bestehenden Mißständen, die ihnen jetzt unerträglich und unnötig erschienen, abzufinden. 38f
Infolge der wachsenden Unzufriedenheit mit den langsamen Fortschritten der liberalen Politik, infolge der berechtigten Erbitterung gegen jene, die die liberale Phraseologie zur Verteidigung unsozialer Privilegien mißbrauchten, und infolge der uferlosen Ansprüche, die durch die bereits erreichte Besserung der materiellen Lage gerechtfertigt schienen, kam es dahin, daß man um die Jahrhundertwende sich immer mehr von dem Glauben an die Grundgedanken des Liberalismus abkehrte. 39
Das Erstaunliche ist, daß dieser selbe Sozialismus, in dem man nicht nur frühzeitig die ernsteste Bedrohung der Freiheit erkannt hatte, sondern der ganz offen als Gegenschlag gegen den Liberalismus der Französischen Revolution begonnen hatte, gerade unter der Flagge der Freiheit allgemeine Anerkennung fand. […] In der Freiheit sahen sie [Sozialisten] das Grundübel der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, und der erste moderne Planwirtschaftler, Saint-Simon, sagte sogar voraus, daß man diejenigen, die seinen projektierten Planwirtschaftsstellen den Gehorsam verweigerten, „wie Vieh behandeln“ würde. 44
Unsere Generation hat eben vergessen, daß das System des Privateigentums die wichtigste Garantie für die Freiheit ist, und zwar nicht nur für diejenigen, die Eigentum besitzen, sondern auch fast ebensosehr für die, die keines haben. […] Befänden sich sämtliche Produktionsmittel in einer einzigen Hand – mag dies nun dem Namen nach die „Gesellschaft“ als Ganzes oder mag dies ein Diktator sein –, dann hätte derjenige, der gerade diese Herrschaft ausübt, uns vollständig in seiner Gewalt. 138
Nicht die Faschisten, sondern die Sozialisten haben den Anfang damit gemacht, Kinder vom zartesten Alter an in politischen Organisationen zu vereinigen, um sicher zu gehen, daß sie als gute Proletarier aufwuchsen. Nicht die Faschisten, sondern die Sozialisten hatten als erste den Gedanken, Sport und Spiele, Fußball und Wandern in Parteiklubs zu organisieren, in denen die Mitglieder nicht durch abweichende Anschauungen infiziert werden konnten. 150
Es gibt drei Hauptgründe dafür, daß eine solche zahlreiche und starke Gruppe mit einigermaßen gleichgerichteten Ansichten mit aller Wahrscheinlichkeit nicht von den besten, sondern eher von den schlechtesten Elementen einer Gesellschaft gebildet werden wird. […] Zunächst dürfen wir annehmen, daß im allgemeinen mit höherer Bildung und Intelligenz der Individuen auch ihre Ansichten und Geschmacksrichtungen differenzierter werden und es damit für sie immer schwerer wird, sich auf eine bestimmte Rangordnung der Werte zu einigen. Umgekehrt müssen wir, wenn wir einen hohen Grad von Gleichförmigkeit oder nur Ähnlichkeit der Anschauungen finden wollen, in die niederen geistig-moralischen Regionen hinabsteigen, […] Braucht man eine zahlreiche Gruppe, die stark genug ist, um ihre Ansichten über die Lebenswerte allen übrigen aufzuzwingen, […] nur von solchen gebildet werden, die die Masse in dem abschätzigen Sinn dieses Begriffs bilden, […] ein angehender Diktator […] müßte also ihre Zahl dadurch vermehren, daß er noch mehr Menschen zu derselben simplen Weltanschauung bekehrt. Damit kommen wir zum zweiten negativen Selektionsprinzip. Jener Diktator nämlich wird alle Gefügigen und Leichtgläubigen für sich gewinnen, die keine starken eigenen Überzeugungen haben, aber bereit sind, ein konfektioniertes System von Werten anzunehmen, wenn es ihnen laut und häufig genug eingehämmert wird. So werden sich die Reihen der totalitären Einheitspartei mit Menschen füllen, deren verschwommene und unentwickelte Vorstellungen leicht gelenkt und deren Leidenschaften und Gefühle mühelos aufgepeitscht werden können. […] [Dies] führt uns zum dritten und vielleicht wichtigsten negativen Selektionsfaktor. Es scheint fast ein Gesetz der menschlichen Natur zu sein, daß es leichter ist, sich auf ein negatives Programm, den Haß gegen einen Feind oder den Neid auf Bessergestellte, als auf eine positive Aufgabe zu einigen. 177f
Die Irrtümer des Konstruktivismus
Der Grundgedanke des Konstruktivismus läßt sich am einfachsten in der zunächst unverfänglich klingenden Formel ausdrücken, daß der Mensch die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst gemacht hat und sie daher auch nach seinem Belieben ändern kann. 4
Es sind diese nicht rational begründeten Tabus der Gesellschaft, über die die Konstruktivisten vor allem ihren Spott vergossen haben und die sie aus einer rational konstruierten Gesellschaftsordnung verbannt wissen wollen. Respekt vor Eigentum und das Halten von Verträgen gehören zu diesen Tabus, die es ihnen gelungen ist, weitgehend zu zerstören, so daß manche zweifeln, daß sie sich wieder herstellen lassen. 9
Beim Sozialismus schließlich ist die Verwurzelung im konstruktivistischen Denken nicht nur in seiner ursprünglichen Form ganz deutlich, die durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine Planwirtschaft möglich machen sollte, in der die spontane Ordnung des Marktes durch eine zweckrationale Organisation ersetzt wurde. Sie liegt ebenso seiner modernen Form zugrunde, die den Markt in den Dienst einer sogenannten „sozialen Gerechtigkeit“ stellen und dazu ebenso das Handeln der Menschen nicht durch Regeln gerechten Verhaltens für den Einzelnen, sondern nach der Einschätzung bewußt herbeigeführter Ergebnisse bestimmen will. 18[…] daß wir nie gleichzeitig alle Werte unserer Gesellschaft anzweifeln können, daß ein „absolutes In-Frage-Stellen aller Werte“ nur zur Zerstörung unserer Kultur – und, bei den heutigen Bevölkerungszahlen, zum extremsten wirtschaftlichen Elend und zur Not führen würde. […] Ein Verzicht auf die überlieferten und gelernten Werte, die sich der Mensch im Entwicklungsprozeß der Kultur erarbeitet hat, könnte nur ein Zurückfallen auf jene instinktiven Werte bedeuten […]. Die Möglichkeit einer Großgesellschaft beruht gewiß nicht auf Instinkten, sondern auf der Herrschaft erlernter Regeln einer Disziplin der Vernunft, die die instinktiven Impulse im Zaum hält und deren Verhaltensregeln im Zuge eines interpersonellen geistigen Prozesses entstanden sind, in dem die einzelnen Werte fortschreitend aneinander angepaßt wurden. 22
Es ist uns dabei oft auferlegt, manche moralischen Werte zu opfern, aber immer nur anderen moralischen Werten, die wir höher stellen. Diese Wahl, der wir uns nicht entziehen können, führt zu einem experimentellen Prozeß, in dem wir gewiß viele Fehler machen werden und in dessen Verlauf vielleicht manchmal ganze Gruppen oder Nationen absteigen werden, weil sie die falschen Werte gewählt haben. 23
Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik
Was sind nun die Gründe, die gerade die Intellektuellen so sehr zu sozialistischen Anschauungen disponieren? Die Gegner des Sozialismus zeigen in der Beurteilung dieser Motive meist ein verhängnisvolles Unverständnis und oft die größte Ungerechtigkeit. Die erste Tatsache, die sie rückhaltlos anerkennen sollten, ist, daß es normalerweise weder böse Absichten noch egoistische Interessen, sondern ehrliche Überzeugung und idealistisches Bestreben sind, die jene Einstellung der Intellektuellen bestimmen. Sie sollten sich klar machen, daß man heute mit um so größerer Wahrscheinlichkeit erwarten muß, ein typischer Intellektueller werde sich als Sozialist erweisen, je mehr er von Intelligenz geleitet und um das Wohl der Gesamtheit besorgt ist, und daß im allgemeinen der sozialistische Intellektuelle seinen Standpunkt besser zu begründen weiß als sein Gegner. Selbst wenn wir glauben, daß er Unrecht hat, so sollten wir doch vor allem anerkennen, daß es echter Irrtum über entscheidende Fragen sein kann, der Menschen mit so viel gutem Willen, die jene Schlüsselstellungen in unserer Gesellschaft innehaben, dazu führt, Ansichten zu vertreten, die uns als die schwerste Bedrohung unserer Zivilisation erscheinen. Unsere Aufgabe muß sein, die Quelle dieses Irrtums zu erkennen und ihn widerlegen zu lernen. Von einem solchen Verständnis sind aber gerade jene Kreise weit entfernt, die gewöhnlich als die Repräsentanten der »kapitalistischen« Ordnung angesehen werden und die glauben, die Gefahren des Sozialismus am besten zu verstehen. Sie sind meist geneigt, die sozialistischen Intellektuellen einfach als eine lästige Gesellschaft neurotischer Ruhestörer zu betrachten, deren Einfluß sie nicht erfassen und denen gegenüber sie sich oft in einer Weise verhalten, die jene nur noch mehr in Opposition zur bestehenden Ordnung treibt.
Vor allem sind es zwei Punkte, über die wir uns völlig klar sein müssen, wenn wir die Neigung zum Sozialismus verstehen wollen, die einen so großen Teil der Intellektuellen kennzeichnet. Der erste ist, daß sie alle Einzelfragen fast ausschließlich im Lichte gewisser allgemeiner Ideen beurteilen, die sie gerade beherrschen; der zweite, daß die charakteristischen Irrtümer einer Epoche häufig ihre Wurzel in echten neuen Erkenntnissen haben, daß sie oft unberechtigte Anwendungen neuer Verallgemeinerungen darstellen, die auf einem beschränkten Gebiet ihren Wert erwiesen haben. Eine sorgfältigere Betrachtung des ganzen Problems führt zu dem Schluß, daß die erfolgreiche Widerlegung solcher Irrtümer oft weiteren geistigen Fortschritt voraussetzt und sogar nicht selten von der richtigen Beantwortung sehr abstrakter Probleme abhängt, die von den praktischen Fragen, um die es sich unmittelbar handelt, weit entfernt scheinen.
Daß sie neue Ideen nicht nach ihrem spezifischen Wert, sondern nach der Leichtigkeit beurteilen, mit der sie sich in das allgemeine Weltbild einfügen lassen, das ihnen als modern oder fortschrittlich erscheint, ist vielleicht der charakteristischste Zug der Intellektuellen. Durch diesen Einfluß, den gerade allgemeine Ideen auf den Intellektuellen und seine Meinungen über konkrete Fragen haben, wächst die Macht von Ideen zum Guten oder Bösen mit ihrer größeren Allgemeinheit, Abstraktheit und oft sogar ihrer Unklarheit. Weil der Intellektuelle auf den Einzelgebieten wenig wirkliche Kenntnisse hat, muß sein Kriterium vor allem die Vereinbarkeit neuer Ideen mit seinem ganzen Weltbild sein. 7f
Was der echte Liberalismus vor allem aus dem Erfolg der Sozialisten lernen muß, ist, daß es ihr Mut zur Utopie war, der ihnen die Unterstützung der Intellektuellen gewann und damit jenen Einfluß auf die öffentliche Meinung gab, der schrittweise das möglich machte, was eben noch unmöglich schien. Wer sich stets auf das beschränkt, was im gegebenen Stand der Meinungen durchführbar scheint, hat immer noch erkennen müssen, daß bald auch das politisch unmöglich wurde, weil Kräfte, auf die er keinen Einfluß genommen hat, die öffentliche Meinung geändert haben. Wenn es uns nicht gelingt, die Voraussetzungen einer freien gesellschaftlichen Ordnung wieder zu einer brennenden geistigen Frage und ihre Lösung zu einer Aufgabe zu machen, die den Scharfsinn und Erfindungsgabe unserer besten Köpfe herausfordert, dann sind die Aussichten für den Fortbestand der Freiheit tatsächlich gering. Wenn wir aber jenen Glauben an die Allmacht von Ideen wiedergewinnen können, der das vornehmste Merkmal des Liberalismus in seiner großen Periode war, muß der Kampf noch nicht verloren sein. Eine geistige Wiedergeburt des Liberalismus ist in vielen Teilen der Welt schon im Gange. Die große Frage ist, ob sie noch zurecht kommt, um den Verfall unserer Zivilisation zu verhüten. 15
Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit
Wenn aber der Zweck der Freiheit ist, dem Einzelnen Gelegenheit zur Verwendung von Kenntnissen zu bieten, die die anderen nicht besitzen, so bedeutet das, daß der Gewinn, den wir aus seiner Freiheit ziehen, notwendig unvoraussehbar ist. 64
Eine wirksame Verteidigung der Freiheit muß daher notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein und darf keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen. Die Forderung nach Freiheit kann nur erfolgreich sein, wenn sie als allgemeines Prinzip der politischen Moral betrachtet wird, dessen Anwendung im Einzelfall keiner Rechtfertigung bedarf. Daß bestimmte wünschenswerte Ziele vielleicht sogar nur durch eine Beschränkung der Freiheit zu erreichen sind, darf an sich noch nicht als zureichende Rechtfertigung einer solchen Beschränkung angesehen werden. Wir mögen in der Lage sein, den Grundsatz der Freiheit intellektuell oder rational zu begründen, aber wir können das nie für jeden einzelnen Fall tun, in dem der Grundsatz der Freiheit Anwendung finden muß, wenn die Freiheit erhalten werden soll. Ebenso wie für alle anderen Moralregeln gilt für die Forderung nach Freiheit, daß sie nur dann ihre Wohltätigkeit erweisen wird, wenn sie im einzelnen Fall nicht als Mittel, sondern als absoluter Wert behandelt wird. 65
Es ist ein merkwürdiges Paradox, daß für die Freiheit vielleicht noch mehr als für alle anderen moralischen Werte gilt, daß sie zwar gegenüber solchen, die das Ideal nicht teilen, nur durch rationale Überlegungen gerechtfertigt werden kann, daß sie aber wahrscheinlich nur dann zum Siege gelangen wird, wenn sie von nicht rationalen Impulsen getragen wird. 67
Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung
1. Unter “Liberalismus” verstehe ich hier das Konzept einer wünschenswerten politischen Ordnung, wie es zuerst in England seit der Zeit der “Old Whigs” am Ende des 17. Jahrhunderts, bis zu Gladstone am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Als typische Vertreter in England können David Hume, Adam Smith, Edmund Burke, T. B. Macaulay und Lord Acton gelten. Die Idee der persönlichen Freiheit unter dem Gesetz entfachte zuerst die liberalen Bewegungen auf dem Kontinent und wurde die Grundlage der politischen Tradition in Amerika. Einige der führenden politischen Denker dieser Länder vertraten diese Idee, so B. Constant und A. de Tocqueville in Frankreich, Immanuel Kant, Friedrich von Schiller und Wilhelm von Humboldt in Deutschland, und James Madison, John Marshall und Daniel Webster in den Vereinigten Staaten.
2. Dieser Liberalismus ist scharf zu unterscheiden von einer anderen, speziell kontinentaleuropäischen Tradition, die ebenfalls “Liberalismus” genannt wird, und die in der Richtung, die heute in Amerika diesen Namen beansprucht, einen direkten Abkömmling hat. Zwar versuchten die Vertreter der letztgenannten Tradition anfangs, die erste nachzuahmen, interpretierten sie jedoch im Geiste eines konstruktivistischen Rationalismus, der in Frankreich weit verbreitet war, und machten dadurch etwas völlig anderes daraus, was schließlich dazu führte, daß sie, anstatt Beschränkungen der Regierungsgewalt zu fordern, die unbeschränkte Gewalt der Mehrheit zum Ideal erhoben. Das ist die Tradition Voltaires, Rousseaus, Condorcets und der Französischen Revolution, die zu Vorläufern des modernen Sozialismus wurden. Der englische Utilitarismus hat vieles von dieser kontinentalen Tradition übernommen; auch die englische liberale Partei am Ende des 19. Jahrhunderts, die aus einem Zusammenschluß der liberalen Whigs mit den utilitaristischen Radikalen hervorging, war ein Produkt dieser Mischung. […]
4. Es muß besonders betont werden, daß diese beiden politischen Philosophien, die sich “Liberalismus” nennen und die in einigen Punkten zu ähnlichen Ergebnissen kommen, auf völlig verschiedenen philosophischen Grundlagen ruhen. Die erste basiert auf einer evolutionären Interpretation aller Kultur- und Geistesphänomene und auf der Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Verstandeskräfte. Die zweite beruht auf dem, was ich “konstruktivistischen” Rationalismus genannt habe, also auf einer Überzeugung, die in allen kulturellen Erscheinungen das Ergebnis wohlüberlegter Entwürfe sieht – und auf dem Glauben, daß es sowohl möglich als auch wünschenswert sei, alle gewachsenen Institutionen nach einem vorbedachten Plan zu rekonstruieren. Die erste Art ist also traditionsverbunden und kommt zu der Erkenntnis, daß alles Wissen und alle Zivilisation auf Tradition beruhen, wohingegen der weite Typ die Tradition geringschätzt, da er die unabhängige Vernunft für fähig hält, Zivilisation zu schaffen. (Vgl. den Ausspruch Voltaires: ‘Wenn ihr gute Gesetze wollt, so verbrennt die, die ihr habt, und macht neue.’) Die erste ist auch ihrem Wesen nach eine bescheidene Überzeugung, die sich auf die Abstraktion als einzig verfügbares Mittel verläßt, die beschränkten Verstandeskräfte zu erweitern, während die zweite es ablehnt, solche Grenzen anzuerkennen, und glaubt, die bloße Vernunft sei allein in der Lage zu entscheiden, ob bestimmte konkrete Zustände wünschenswert sind. (Infolge dieser Unterschiede ist die erste Art von Liberalismus zumindest nicht unvereinbar mit religiösen Überzeugungen und wurde oft von tief religösen Männern vertreten und auch weiterentwickelt; der “kontinentale” Typ des Liberalismus dagegen stand aller Religion immer feindlich gegenüber und lag in ständigem politischem Kampf mit ihren Organisationen.)
5. Die erste Art des Liberalismus, die allein im folgenden betrachtet werden soll, ist nicht das Ergebnis einer theoretischen Konstruktion, sondern entsprang dem Wunsch, die wohltätigen Wirkungen auszudehnen und zu verallgemeinern, die sich ganz unbeabsichtigt aus den Beschränkungen der Staatsgewalt ergeben hatten, welche man aus purem Mißtrauen gegen die Herrscher eingeführt hatte. Erst als man beobachtete, daß die fraglos größere persönliche Freiheit, die der Engländer im 18. Jahrhundert genoß, eine vorher nicht dagewesene materielle Blüte hervorbrachte, versuchte man, eine systematische Theorie des Liberalismus zu entwickeln. Diese Versuche wurden in England allerdings nie sehr weit geführt, und die kontinentalen Interpretationen haben den Sinn der englischen Tradition weitgehend abgeändert. […]
9. Die Unterscheidung zwischen einer auf abstrakten Regeln beruhenden spontanen Ordnung, die jedem einzelnen erlaubt, seine speziellen Kenntnisse für seine eigenen Zwecke zu nutzen, und einer auf Befehlen basierenden Organisation oder Anordnung ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der freien Gesellschaft und soll darum in den folgenden Paragraphen eingehender erläutert werden. Das empfiehlt sich besonders, weil zwar innerhalb der spontanen Ordnung einer freien Gesellschaft viele Organisationen bestehen (darunter die größte, die Regierung), die beiden Ordnungsprinzipien jedoch nicht in jeder beliebigen Weise gemischt werden können. […]
Liberalismus ist also gleichbedeutend mit der Forderung der “rule of law” im klassischen Sinne, nach der die Zwangsgewalt des Staates strikt auf die Durchsetzung einheitlicher Regeln der Gerechtigkeit, das heißt einheitlicher Regeln für das Verhalten des einzelnen seinen Mitmenschen gegenüber beschränkt wird. (Die “rule of law” entspricht hier dem deutschen “materiellen Rechtsstaat” im Gegensatz zum nur “formalen Rechtsstaat”, welcher lediglich verlangt, daß die Regierung zu jeder Handlung durch Gesetz autorisiert sein muß, wobei es aber gleichgültig ist, ob dieses Gesetz eine allgemeine Verhaltensregel darstellt oder nicht.) […]
21. Es ist bezeichnend, daß diese Vorstellung von einer liberalen Ordnung sich nur in solchen Ländern entfaltete – im alten Griechenland und Rom ebenso wie im modernen England –, wo Gerechtigkeit als etwas aufgefaßt wurde, was durch die Bemühungen von Richtern und Gelehrten entdeckt werden kann, und nicht als etwas, das durch den unbeschränkten Willen einer Autorität bestimmt wird. […]
22. Der Liberalismus hat von den Theorien des common law und den älteren (vor-rationalistischen) Theorien des Naturrechts eine Idee der Gerechtigkeit übernommen und setzt sie voraus, die uns erlaubt zu unterscheiden zwischen Gesetzen im Sinne der rule of law, die das individuelle Verhalten regeln und für die Bildung einer spontanen Ordnung erforderlich sind auf der einen Seite und all den speziellen, kraft Autorität erlassenen Befehlen zu Zwecken der Organisation auf der anderen Seite. […]
23. Die wesentlichen Punkte dieser Auffassung von Gerechtigkeit sind folgende: (a) Gerechtigkeit kann nur sinnvoll auf menschliche Handlungen bezogen werden und nicht auf einen Zustand als solchen, es sei denn, es würde klargemacht, ob er durch jemanden bewußt herbeigeführt wurde oder hätte herbeigeführt werden können; (b) Gerechtigkeitsregeln sind ihrem Wesen nach Verbote, oder, mit anderen Worten, Ausgangspunkt ist die Ungerechtigkeit, und die Verhaltensregeln zielen darauf ab, ungerechte Handlungen zu verhindern; (c) die Ungerechtigkeit, die verhindert werden soll, besteht darin, daß jemand in die geschützte Sphäre eines Mitmenschen einbricht, eine Sphäre, die durch diese Gerechtigkeitsregeln festgestellt wird; und (d) diese negativ formulierten Regeln der Gerechtigkeit können weiterentwickelt werden, indem die verschiedensten Regeln, die in der Gesellschaft aufkommen, konsequent dem ebenfalls negativen Test allgemeiner Anwendbarkeit unterworfen werden – ein Test, der letztlich nichts anderes prüft als die Vereinbarkeit der durch diese Regeln erlaubten Handlungen mit den Umständen der realen Welt. Diese vier entscheidenden Punkte sollen in den folgenden Paragraphen näher ausgeführt werden.
24. Ad (a) Verhaltensregeln können vom Individuum nur verlangen, daß es diejenigen Konsequenzen seiner Handlungen berücksichtigt, die es selbst vorhersehen kann. Die konkreten Resultate einer Katallaxie für bestimmte Personen jedoch sind ihrem Wesen nach unvorhersehbar; und da diese Resultate von niemandem geplant oder beabsichtigt werden, ist es sinnlos, die Art und Weise, in der der Markt die Güter dieser Welt auf bestimmte Personen verteilt, gerecht oder ungerecht zu nennen. Gerade das aber strebt das Ideal der sogennanten „sozialen“ oder „distributiven“ Gerechtigkeit an, in deren Namen die liberale Rechtsordnung nach und nach zerstört wird. Es wird sich noch zeigen, daß bisher weder ein Test noch ein Kriterium gefunden worden ist und auch nicht gefunden werden kann, dem solche Regeln „sozialer Gerechtigkeit“ unterworfen werden könnten, weshalb sie im Gegensatz zu den Verhaltensregeln durch willkürliche Entscheidungen der Machthaber festgelegt werden müssen.
25. Ad (b) Keine menschliche Handlung ist ohne das konkrete Ziel, dem sie dienen soll, voll determiniert. Freie Menschen, denen erlaubt sein soll, ihre Mittel und Kenntnisse für ihre persönlichen Ziele einzusetzen, dürfen keinen Regeln unterworfen werden, die ihnen sagen, was sie tun sollen, sondern nur Regeln, die ihnen sagen, was sie nicht tun dürfen; abgesehen von der Erfüllung von Verpflichtungen, die jemand aus freien Stücken eingegangen ist, begrenzen Verhaltensregeln also lediglich den Bereich der erlaubten Handlungen, legen aber nicht fest, welche bestimmten Handlungen zu gegebenen Zeiten auszuführen sind. (Es gibt hierzu gewisse seltene Ausnahmen, wie die Verpflichtung, Leben zu retten oder zu schützen, Katastrophen zu verhindern und dergleichen, in denen Regeln der Gerechtigkeit entweder tatsächlich positive Handlungen fordern, oder solche Regeln doch allgemein als gerecht anerkannt würden, wenn sie dies täten. Es würde zu weit führen, hier die Rolle derartiger Regeln innerhalb des Systems zu diskutieren.) Der im allgemeinen negative Charakter der Verhaltensregeln und dementsprechend das Primat der verbotenen Ungerechtigkeit ist oft bemerkt, jedoch nie in allen seinen logischen Konsequenzen zu Ende gedacht worden.
26. Ad (c) Die durch die Verhaltensregeln verbotene Ungerechtigkeit besteht in Eingriffen in die geschützte Sphäre anderer Menschen. Die Verhaltensregeln müssen uns daher in die Lage versetzen, die geschützte Sphäre der anderen zu erkennen. Seit der Zeit John Lockes ist es üblich, diese Sphäre als Eigentum zu beschreiben (Locke selbst definierte „property“ als Leben, Freiheit und Besitz eines Menschen”). Dieser Ausdruck vermittelt jedoch einen viel zu engen und materiellen Eindruck von der geschützten Sphäre, die nicht nur materielle Güter umfaßt, sondern auch verschiedene Ansprüche und gewisse Erwartungen. Wird der Eigentumsbegriff jedoch (mit Locke) in diesem weiteren Sinne verstanden, dann gilt auch, daß Gerechtigkeit im Sinne der rule of law und die Institutionen des Eigentums nicht voneinander zu trennen sind.
27. Ad (d) Die Gerechtigkeit einer einzelnen Verhaltensregel kann nicht beurteilt werden, es sei denn innerhalb eines ganzen Systems solcher Regeln, von denen die meisten für diesen Zweck jeweils als unproblematisch angesehen werden müssen: Werte können immer nur mit Hilfe anderer Werte geprüft werden. Der Test für die Gerechtigkeit einer Regel wird gewöhnlich (seit Kant) als Test ihrer „Universalierbarkeit“ beschrieben, d. h., es wird geprüft, ob man wollen kann, daß diese Regel in jedem Fall gelte, in dem die entsprechenden, in ihr aufgeführten Bedingungen vorliegen („kategorischer Imperativ“). Das heißt, durch ihre praktische Anwendung dürfen keine anderen allgemein anerkannten Regeln verletzt werden. Letztlich wird also die Verträglichkeit oder Widerspruchsfreiheit des ganzen System von Regeln geprüft, nicht nur im logischen, sondern auch in dem Sinne, daß in dem durch Regeln erlaubten System von Handlungen keine Konflikte entstehen.
28. Nur zweckunabhängige („formale“) Regeln werden diesen Test bestehen, denn Regeln, die ursprünglich in kleinen, zweckgebundenen Gruppen („Organisationen“) entwickelt wurden, dann weiter auf immer größere Gruppen ausgedehnt und schließlich verallgemeinert werden, müssen in diesem Prozeß alle Hinweise auf spezielle Zwecke abstreifen, damit sie auf die Beziehungen zwischen Gliedern einer offenen Gesellschaft anwendbar werden, die keine gemeinsamen konkreten Ziele haben und sich nur denselben abstrakten Regeln unterwerfen. […]
Es ist charakteristisch für die liberale Gesellschaft, daß Privatpersonen nur gezwungen werden können, die Regeln des Privat- und Strafrechts zu befolgen. Und in der fortschreitenden Durchdringung des privaten mit dem öffentlichen Recht, die während der letzten 80 bis 100 Jahre stattgefunden hat und in deren Verlauf in zunehmendem Maße Verhaltensregeln durch Organisationsregeln verdrängt wurden, liegt einer der Hauptquellen für die Zerstörung der liberalen Ordnung. Professor Franz Böhm hat die liberale Ordnung aus diesem Grunde kürzlich sehr treffend Privatrechtsgesellschaft genannt. […]
Hier soll nur erwähnt werden, daß die Regierung bei der Erledigung von Aufgaben, für die ihr Gelder übertragen werden, unter denselben Regeln stehen sollte wie jeder private Bürger: für keine Leistung dieser Art sollte sie ein Monopol haben, und sie sollte diese Aufgaben auf solch eine Art und Weise erfüllen, daß die umfassenderen, spontan geordneten Anstrengungen der Gesellschaft nicht gestört werden, und die Mittel dazu sollten aufgrund einer Regel aufgebracht werden, die für alle einheitlich gilt. (Das schließt meines Erachtens eine allgemeine Progression der steuerlichen Belastung der einzelnen aus, denn ein Gebrauch der Steuer für Redistributionszweke könnte nur mit Argumenten gerechtfertigt werden, die wir gerade ausgeschlossen haben.) […]
61. Zum Schluß sollen die grundlegenden Prinzipien einer liberalen Gesellschaft dahingehend zusammengefaßt werden, daß in einer solchen Gesellschaft alle Zwangsfunktionen der Regierung geleitet sein müssen von der überragenden Bedeutung dessen, was ich gern die drei großen Negative nenne: Friede, Gerechtigkeit und Freiheit. Um sie zu erreichen, ist es erforderlich, daß die Zwangsgewalt der Regierung auf die Durchsetzung solcher (als abstrakte Regeln formulierter) Verbote beschränkt wird, die in gleicher Weise für alle anwendbar sind, sowie auf die Eintreibung der nach den gleichen einheitlichen Regeln zu erhebenden Kosten für die nicht mit Zwangscharakter ausgestatteten Dienste, die die Regierung mit Hilfe der so aufgebrachten materiellen und personellen Mittel den Bürgern zu leisten unternimmt. 69ff
Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie
Die vergleichende Verhaltensforschung hat gezeigt, daß in vielen Tiergesellschaften der Vorgang der selektiven Evolution stark ritualisierte Verhaltensformen entstehen ließ, bestimmt von Verhaltensregeln, die den Gebrauch von Gewalt und anderen verschwenderischen Methoden der Anpassung verringern und auf diese Weise eine Friedensordnung sichern. Diese Ordnung beruht oft auf der Abgrenzung von Revieren oder „Besitzständen“, die nicht nur dazu dient, unnötige Kämpfe auszuschalten, sondern sogar „repressive“ Beschränkungen des Bevölkerungswachstums durch „präventive“ ersetzt, indem sie beispielsweise dem Männchen, das sich kein Revier erobert hat, Paarung und Nachkommen unmöglich macht. 78
Es gab Regeln; sie erfüllten eine für die Erhaltung der Gruppe wesentliche Funktion und wurden erfolgreich tradiert und durchgesetzt, obwohl sie nie „erfunden“ oder in Worten ausgedrückt worden waren oder einen irgend jemandem bekannten „Zweck“ hatten. 78
Die besondere Haltung des Richters ergibt sich somit aus dem Umstand, daß er sich nicht damit befaßt, was irgendeine Autorität in einem bestimmten Fall unternommen wissen will, sondern damit, was Privatpersonen „berechtigterweise“ erwarten können, wobei sich das Wort „berechtigt“ auf die Art von Erwartungen bezieht, an denen in der fraglichen Gesellschaft jemand sein Handeln im allgemeinen ausrichtet. Ziel der Regeln muß es sein, die wechselseitige Abstimmung der Erwartungen, von welcher der Erfolg der Pläne der einzelnen abhängt, zu erleichtern. Ein Herrscher, der zur Wahrung des Friedens einen Richter entsendet, wird das normalerweise nicht tun, um eine von ihm geschaffene Ordnung zu erhalten, sondern um eine Ordnung, deren Charakter er nicht einmal kennen muß, wiederherzustellen. Im Unterschied zu einem Aufseher oder Inspektor braucht ein Richter nicht zu überprüfen, ob Befehle ausgeführt wurden oder ob jeder die ihm zugeteilten Pflichten erfüllt hat. 101
Der Bedeutungsunterschied zwischen Recht im Sinn von nomos und Gesetz im Sinn all der anderen theseis, die durch Gesetzgebung entstehen, wird am klarsten, wenn wir überlegen, wie unterschiedlich sich in diesen zwei Fällen das Recht zu seiner Anwendung verhält. Eine Verhaltensregel kann nicht „ausgeführt“ oder „vollzogen“ werden, so wie man einer Anweisung nachkommt. Man kann sie befolgen oder ihre Befolgung durchsetzen; aber eine Verhaltensregel schränkt lediglich den Bereich statthaften Handelns ein, legt aber üblicherweise nicht ein bestimmtes Handeln fest; und das, was sie fordert, ist nie ein für allemal erreicht, sondern bleibt für alle als Verpflichtung bestehen. Wann immer wir von der „Durchsetzung eines Gesetzes“ sprechen, ist mit „Gesetz“ nicht ein nomos gemeint, sondern eine thesis, die jemanden anweist, bestimmte Dinge zu tun. Daraus folgt, daß der „Gesetzgeber“, dessen Gesetze „vollzogen“ werden in ganz anderer Beziehung zu denen steht, die sie vollziehen sollen, als ein „Gesetzgeber“, der Regeln gerechten Verhaltens vorschreibt, zu denen steht, die sie befolgen sollen. Die erste Art von Regeln wird nur die Bediensteten der als Staat bezeichneten Organisation betreffen, während die zweite den Bereich statthaften Handelns für jedes Mitglied der Gesellschaft einschränkt. Der Richter, der das Gesetz anwendet und für seine Durchsetzung sorgt, „vollzieht“ es nicht im selben Sinne, wie ein Verwaltungsbeamter eine Maßnahme durchführt oder wie die Organe des „Rechtsvollzuges“ die Entscheidung des Richters auszuführen haben. 130
Zweifellos könnte der Staat, wenn er zum alleinigen Anbieter vieler lebenswichtiger Leistungen würde, durch Festlegung der Art dieser Leistungen und der Bedingungen, unter denen sie zu erbringen sind, großen Einfluß auf den materiellen Gehalt der Marktwirtschaft ausüben. Aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Größe dieses „öffentlichen Sektors“ begrenzt ist und der Staat seine verschiedenen Leistungen nicht so koordiniert, daß deren Auswirkungen auf bestimmte Personen vorhersagbar werden. Wir werden später sehen, daß es aus diesem Grunde auch wichtig ist, daß der Staat – mit Ausnahme der Durchsetzung der Regeln gerechten Verhaltens – nicht das ausschließliche Recht zur Erbringung einer Leistung hat, und somit nicht andere Rechtspersonen daran zu hindern vermag, gleichartige Leistungen anzubieten, wenn sich die Möglichkeit eröffnet, etwas über den Markt anzubieten, was dort anzubieten bislang unmöglich war. 143
Tatsache ist jedoch, daß in einer Großen Gesellschaft, in der die einzelnen über ihr Wissen für ihre eigenen Zwecke frei verfügen können sollen, das Allgemeinwohl, das der Staat anstreben sollte, nicht in der Summe bestimmter Befriedigungen der verschiedenen Einzelpersonen bestehen kann, aus dem einfachen Grund, daß weder diese noch all deren Bestimmungsgründe dem Staat oder sonst jemandem bekannt sein können. 152
Die Große Gesellschaft entstand durch die Entdeckung, daß Menschen in Frieden und zu ihrem wechselseitigen Vorteil zusammenleben können, ohne sich über die konkreten Ziele, die sie gesondert verfolgen, einig sein zu müssen. 260
Wir brauchen diesen Aspekt im Augenblick nicht weiter zu verfolgen, denn wir wollen hier nur betonen, daß die Aufgabe echter Gesetzgebung von der des Schreibens einer Verfassung genauso verschieden ist wie von der des Regierens, und daß sie mit jener genausowenig verwechselt werden sollte wie mit dieser. Infolgedessen brauchen wir, wenn solche Verwechslung vermieden werden soll, ein dreistufiges System von Vertretungsorganen, von denen eines mit dem semipermanenten Rahmen der Verfassung beschäftigt wäre und nur in großen Abständen tätig werden müßte, wenn Veränderungen dieses Rahmens für nötig erachtet würden, ein zweites mit der ständigen Aufgabe der allmählichen Verbesserung der allgemeinen Regeln gerechten Verhaltens und ein drittes mit den laufenden Regierungsgeschäften, das heißt mit der Verwaltung der dem Staat anvertrauten Mittel. 345
Eine rationale Entscheidung über den Umfang der öffentlichen Ausgaben ist nur zu erwarten, wenn der Grundsatz, nach dem der Beitrag jedes einzelnen festgelegt wird, sicherstellt, daß dieser einzelne bei der Abstimmung über eine Ausgabe die Kosten berücksichtigt, also nur, wenn jeder Wähler weiß, daß er zu allen Ausgaben, denen er zustimmt, gemäß einer im vorhinein festgelegten Regel beizutragen haben wird, aber nicht anordnen kann, daß etwas auf Kosten eines Dritten getan werden solle. Das derzeitige System enthält statt dessen einen eingebauten Anreiz zu unverantwortlichen und verschwenderischen Ausgaben. 359
Was also für die Zwecke der eigentlichen Gesetzgebung nötig schiene, wäre eine Versammlung von Männern und Frauen, die in reiferem Alter für ziemlich lange Perioden gewählt würden, sagen wir für fünfzehn Jahre, so daß sie sich keine Gedanken über eine Wiederwahl machen müßten; um sie von jeder Parteidisziplin völlig unabhängig zu machen, sollten sie nach dieser Periode nicht wiederwählbar und auch nicht gezwungen sein, ihren Lebensunterhalt auf dem Markt zu verdienen, sondern es sollte ihnen weiterhin eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst zugesichert werden, in einer ehrenvollen, aber neutralen Stellung wie der eines Laienrichters, so daß sie während ihrer Amtszeit als Gesetzgeber weder von der Unterstützung einer Partei abhängig wären noch sich um ihre persönliche Zukunft sorgen müßten. Um das sicherzustellen, sollten nur Personen gewählt werden, die sich im täglichen Leben bereits bewährt haben; um gleichzeitig zu verhindern, daß die Versammlung einen zu hohen Anteil betagter Personen aufweist, dürfte es klug sein, sich an die alte Erfahrung zu halten, daß ein Mensch am fairsten von seinen Altersgenossen beurteilt wird, und jede Gruppe von Personen gleichen Alters einmal in ihrem Leben, sagen wir in dem Kalenderjahr, in dem sie ihr 45. Jahr vollenden, aus ihrer Mitte Vertreter für eine Amtsperiode von fünfzehn Jahren wählen zu lassen. Das Ergebnis wäre eine gesetzgebende Versammlung von Männern und Frauen zwischen 45 und 60 Jahren, von denen alljährlich ein Fünfzehntel ersetzt würde. Das Ganze würde also jenen Teil der Bevölkerung widerspiegeln, der bereits Erfahrungen gesammelt und Gelegenheit gehabt hätte, sich einen guten Ruf zu erwerben, aber noch in den besten Jahren wäre. 419
Neu zu überdenken wäre die Frage, ob im Hinblick auf das Recht zur Wahl von Vertretern für diese Regierende Versammlung nicht das alte Argument wieder aktuell würde, daß öffentlich Bedienstete und Empfänger von Pensionen oder anderen Unterstützungszahlungen der öffentlichen Hand nicht stimmberechtigt sein sollten. Das Argument war offensichtlich nicht überzeugend, solange es um die Wahl einer Abgeordnetenversammlung ging, deren Aufgabe in erster Linie die Schaffung von universalen Regeln gerechten Verhaltens sein sollte. Zweifellos ist der öffentlich Bedienstete oder Pensionist der öffentlichen Hand so fähig wie jeder andere, sich eine Meinung darüber zu bilden, was gerecht ist, und man hätte es als ungerecht empfunden, solchen Personen ein Recht vorzuenthalten, das vielen weniger Informierten und weniger Gebildeten gewährt wird. Etwas ganz anderes ist es, wenn es nicht um eine Meinung geht, sondern schlicht um das Interesse, gewisse Ergebnisse erreicht zu sehen. In dieser Hinsicht scheinen weder die politischen Funktionäre noch diejenigen, die, ohne zu den Mitteln beizutragen, nur an den Ergebnisse teilhaben, den gleichen Anspruch zu haben wie der private Bürger. Daß Beamte, Pensionisten, Arbeitslose usw. eine Stimme haben sollten, wenn es darum geht, wie sie aus den Taschen der übrigen zu bezahlen seien, und daß um ihre Stimmen mit dem Versprechen einer Erhöhung ihrer Bezüge geworben werden sollte, wäre kaum eine sinnvolle Regelung. 425f
Wir müssen zugeben, daß die moderne Zivilisation weitgehend dadurch möglich wurde, daß man den darüber empörten Moralisten kein Gehör schenkte. 473
Die Ernte dieser Saat fahren wir jetzt ein. Jene nicht-domestizierten Wilden, die behaupten, von etwas entfremdet zu sein, was sie nie gelernt haben, und sich sogar unterfangen, eine „Gegenkultur“ zu schaffen, sind das zwangsläufige Produkt der permissiven Erziehung, die es unterläßt, die Bürde der Kultur weiterzugeben, und ihr Vertrauen auf die natürlichen Instinkte setzt, die die Instinkte des Wilden sind. 482