Der gelehrte politische Philosoph und Teilnehmer am Privatseminar von Mises, der ideologisch nicht eingeordnet werden wollte.
ERIC VOEGELIN (geb. 1901 in Köln, gest. 1985 in Palo Alto, Kalifornien)
Ausgewählte Werke:
- Hitler und die Deutschen. München: Wilhelm Fink Verlag, 2006 [1964]
- Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis. München: Wilhelm Fink Verlag, 1999 [1952]
- Die politischen Religionen. München: Wilhelm Fink Verlag, 1996 [1938]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten. Hg. von Peter J. Opitz, Dietmar Herz & Jan Assmann. München: Wilhelm Fink Verlag, 2002 [1956]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 4: Die Welt der Polis – Gesellschaft, Mythos und Geschichte. Hg. von Jürgen Gebhardt. München: Wilhelm Fink Verlag, 2002 [1957]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 5: Die Welt der Polis – Vom Mythos zur Philosophie. München: Wilhelm Fink Verlag, 2003 [1957]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 6: Platon. München: Wilhelm Fink Verlag, 2002 [1957]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 7: Aristoteles. München: Wilhelm Fink Verlag, 2001 [1957]
- Ordnung und Geschichte, Bd. 10: Auf der Suche nach Ordnung. München: Wilhelm Fink Verlag, 2004 [1987]
Hitler und die Deutschen
Hitler hat eine eminente Leistung weltgeschichtlicher Art erbracht, nämlich die, durch den Erfolg seiner eigenen Verächtlichkeit die Verächtlichkeit der Welt, in der er Erfolg hatte, unzweideutig bewiesen zu haben. Keine pessimistische Kulturkritik könnte so eindeutig beweisen, dass die deutsche Gesellschaft und bis zu einem gewissen Grade auch die umgebenden westlichen Demokratien in einer Weise angefault sind, geistig und vernunftmäßig, dass sie auf einen Mann wie Hitler hereinfallen und ihm den Erfolg ermöglichen konnten. 80
Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis
Die Natur ist ex definitione unveränderlich. Die gnostischen Politiker jedoch wollen die Natur auf eine vorläufig nicht näher geklärte Weise verändern. Insofern die Absicht, das Unmögliche zu verwirklichen, zum Ziel politischer Aktion gemacht wird, kann das Programm nicht durchgeführt werden; insofern diese Absicht gefaßt wird, verrät sich der seelische Zustand der Menschen, die sie fassen, als ein pneumopathologischer. Das Wesen gnostischer Politik muß als eine Erkrankung des Geistes verstanden werden, als ein nosos im Sinne Platos und Schellings, eine Störung im Leben des Pneuma, zum Unterschied von Geisteskrankheit im psychopathologischen Sinne. 39
Gnostiker sind krank am Geiste, aber sie sind nicht dumm; sie wollen Unmögliches, aber sie wissen, was sie wollen. Sie wollen in eine als Wirklichkeit intendierte Traumrealität durchbrechen, aber sie wissen, daß die Traumrealität eine Wirklichkeit anderer Art ist, und daß gerade jene Züge, die das Wesentliche an ihr sind, nicht aus der Erfahrung der normalen Wirklichkeit stammen können. 41
Die vollkommene Lösung ist das Lied der Hitlerjugend: Wir marschieren; wir marschieren in die Zukunft! – denn diese, mit eschatologischer Spannung geladene Formel rührt die Erlösungswünsche tief auf und sagt doch über die Traumrealität, die in geschichtlicher Zeit zu erwarten ist, nichts aus. Die gnostischen Politiker von einigem intellektuellen Rang finden ihre persönlichen Lösungen für die Schwierigkeit je nach Temperament und Gewissenhaftigkeit. Bakunin war der Meinung, daß der geschichtliche Prozeß des Übergangs von der alten zur neuen Welt einige Zeit in Anspruch nehmen werde. Die erste Phase der Aktion, die seiner Generation zufalle, bestehe in radikaler Zerstörung des Alten; die Zwangsinstitutionen der alten Welt, die organisierte Staatsmacht und die Bürokratie, müßten vernichtet werden; der Vernichtungsprozeß selbst und die folgende Unordnung würden furchtbare Opfer fordern; aber diese Opfer müßten gebracht werden, damit auf den Trümmern des Alten die nun von verderbenden Einflüssen befreite, in ihrem Wesen gute, menschliche Natur in freier, föderativer Aktion ihr vollkommenes Leben einrichten könne. Wie dieses vollkommene Leben aussehen solle, darüber sei nichts zu sagen, denn wir selbst gehören noch der Generation der Verderbnis an; wir können der Welt zur Vollendung helfen durch Vernichtung des Alten, aber das Wissen um das neue Leben sei der durch unsere Aktion befreiten Generation vorbehalten, die es zu schaffen habe. Bakunin lebte so tief in seinem Glauben an Erlösung durch Aktion, durch den „Einsatz“, wie die nationalsozialistischen Gnostiker den Willen nannten, der nicht sieht, daß er ein Wissen nicht brauchte. 41f
Die Richtung, in der diese unheilige Entgleisung verlaufen wird, ist aus dem puritanischen Glimpse nur allzu deutlich zu ersehen. Die Traumbilder sind der Ausdruck einer wilden, mit Ressentiments geladenen Herrschsucht, wie sie Hobbes (und vor ihm schon Richard Hooker) mit meisterhafter Psychologie als das Wesen des radikalen Puritanismus diagnostiziert hat. Was immer sonst im Verlauf einer gnostischen Revolution geschehen möge, sicher ist, daß die siegreichen Heiligen eine neue Oberklasse von ausgesuchter Brutalität bilden und daß die Mitglieder der früheren Oberklasse gründlich malträtiert werden. Es handelt sich nicht um die schlimmen Folgen, die unvermeidlich den Unterliegenden in einer gewalttätigen Auseinandersetzung treffen, sondern um die Legitimierung der Gewalttätigkeit als geistiger Strafaktion gegen die Mächte, die dem Licht widerstreben. Die Situation des Unterliegenden ist fürchterlich, weil er nicht politischer Gegner im Kampf um die Macht, sondern, in der Traumphantasie des Gnostikers, kosmischer Gegner im Kampf des Lichtes mit der Finsternis ist. Was an den Vertretern der alten Welt vollzogen wird, ist kosmisches Gericht. Aus dieser pathologischen Traumverzerrung sind die sonst unverständlichen „dialektischen“ Umkehrungen zu verstehen, in denen vor allem Marx ein Meister war. Formeln wie „Unterdrückung der Unterdrücker“ oder „Expropriation der Expropriateure“ sind ethisch-widerspruchsvoll als Forderungen in der Wirklichkeit; in der Traumspekulation dagegen haben sie ihren guten Sinn, weil Unterdrückung und Expropriation, wenn von Gnostikern geübt, Befreiung ist. 45f
Über dem bitteren Kampf unserer Zeit zwischen gnostischen Bewegungen und ihren Gegnern, und zwischen den verschiedenen Hemdfarben untereinander, wird allzu leicht vergessen, daß diese Bewegungen nicht aus dem Nichts entspringen, sondern historisch-kausal in den Strom der Wirklichkeit gebunden sind; daß radikaler Puritanismus die folgerechte Weiterentwicklung eines schon korrupten Christentums, und daß Positivismus, Kommunismus und Nationalsozialismus die menschenfressenden Blüten einer korrupten liberalen Gesellschaft sind. 47
Das wahrhaft Gefährliche an den heutigen Weltkriegen ist nicht die erdenweite Ausdehnung des Kriegstheaters, sondern ihr Charakter als Kriege zwischen Welten im gnostischen Sinn, die nur mit der Vernichtung der Gegenwelt enden können. 54[…] die politische Gnosis ein Sozialprozeß von erheblicher geschichtlicher Tiefe ist. Und die Puritanerdokumente weisen auf weitere Tiefen in der häretischen Sektenbewegung bis ins 12. und 11. Jahrhundert zurück. Die Massivität dieser Geschichtstiefe muß bedacht werden, wenn man die Massivität der gnostischen Bewegungen in unserer Zeit verstehen will. Ihre Zerstörungsmacht entspringt nicht den Dummheiten von ein paar Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts; sie ist vielmehr der kumulative Effekt ungelöster Probleme und schiefer Lösungsversuche über ein Jahrtausend westlicher Geschichte. Und der Ursprung in häretischen Bewegungen des Hochmittelalters weist darauf hin, daß es sich um Probleme einer expansiven städtischen und nationalen Hochkultur handelt, deren Lösung das institutionalisierte Christentum der Zeit nicht gewachsen war. Zum Ende sei nochmals erinnert, daß politische Gnosis ein krankhaftes Gewächs innerhalb der westlichen Zivilisation ist, ein Gewächs innerhalb ihrer klassischen und christlichen Tradition. Diese Traditionen sind heute zurückgedrängt; sie sind schwer geschädigt und diskreditiert durch Jahrhunderte der anti-philosophischen und anti-christlichen Intellektuellenpropaganda; aber sie sind durchaus nicht tot. Im Gegenteil, das letzte Halbjahrhundert dürfte im Rückblick der Geschichte als die entscheidende Periode ihrer Renaissance erscheinen; verglichen mit der Zeit um 1900 haben wir heute wieder eine Wissenschaft von Menschen in Gesellschaft und Geschichte, die sich Wissenschaft nennen darf, ohne Spott zu erregen. Aber der Sozialeinfluß dieser wiedergewonnenen intellektuellen und geistigen Disziplin ist noch sehr gering, übertäubt durch das Marktgeschrei der politischen Intellektuellen und ihres Anhangs in wohlbefestigten Positionen – akademischen, parteilichen, gewerkschaftlichen, verlegerischen, journalistischen und anderen gesellschaftlichen Bollwerken. Es wird viel Zeit, Überredung, Arbeit und wahrscheinlich auch Anwendung von Gewalt brauchen, um diese zerstörenden Faktoren auch nur soweit zurückzudrängen, daß sie nicht noch mehr Unheil anrichten, als sie schon angerichtet haben. Aber die Aufgabe ist nicht hoffnungslos. 55f
Der Stand des Wissens und des Selbstverständnisses der westlichen Kultur ist in dieser Frage, wie in so vielen anderen, erst in der liberalen Ära, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verschüttet worden, in der Zeit der positivistischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaft. Die Verschüttung war so gründlich, daß die gnostische Bewegung, als sie ihre revolutionäre Phase erreichte, in ihrem Wesen nicht mehr erkannt werden konnte. Die Bewegungen, die an Marx und Bakunin anknüpften, der frühe Lenin, der Sorelsche Mythos der Gewalt, die Intellektuellenbewegung des neuen Positivismus, die kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Revolutionen fielen in die Zeit eines heute schon der Vergangenheit angehörenden Tiefstandes der Wissenschaft. Europa hat keine Denkwerkzeuge, um das Furchtbare, das sich ereignete, zu erfassen. Es gab eine Wissenschaft von den christlichen Kirchen und Sekten; es gab eine Staatslehre, die in den Kategorien des souveränen Nationalstaats und seiner Institutionen dachte; es gab die Anfänge einer Soziologie der Macht und der Herrschaftsformen; aber es gab keine Wissenschaft von den nicht-christlichen, nicht-nationalen Geistes- und Massenbewegungen, in die das christliche, nationalstaatliche Europa im Begriff war sich aufzulösen. Da das neue politische Phänomen in seiner Massivität nicht zu übersehen war, wurden zu seiner Erfassung eine Reihe von Verlegenheitsformeln geprägt. Es war die Rede von den neo-paganen Bewegungen, von neuen sozialen und politischen Mythen, oder von den mystiques politiques; auch ich habe mich in einer solchen Verlegenheitslösung versucht, als ich eine kleine Studie über die politischen Religionen schrieb. 58
Der gnostische Mensch hat nicht mehr den Willen, die wesenhafte Ordnung des Kosmos bewundernd zu erkennen; die Welt ist ihm ein Gefängnis geworden, dem er zu entfliehen sucht: […] Um die Fragen der Herkunft, des Geworfenseins, der Flucht aus der Welt und der Mittel der Erlösung kreisen die großen Mythopoeme der Gnosis. […] Um den Menschen von der Welt zu erlösen, muß vor allem die Erlösungsmöglichkeit in der Seinsordnung angelegt sein. In der Ontologie der alten Gnosis wird sie durch den Glauben an den „fremden“, den „verborgenen“ Gott gesichert, der den Menschen zu Hilfe kommt, ihnen seinen Abgesandten schickt, und ihnen den Weg weist aus dem Gefängnis des bösen Gottes dieser Welt (sei es Zeus oder Jahweh oder ein anderer der alten Vatergötter). In der modernen Gnosis wird sie gesichert durch die Annahme eines absoluten Geistes, der in der dialektischen Entfaltung des Bewußstseins aus der Entfremdung zu sich selbst kommt; oder eines dialektisch-materialistischen Prozesses der Natur, der in seinem Gang über die Entfremdung durch Gott und Privateigentum zur Freiheit des voll-menschlichen Daseins führt; oder durch die Annahme eines Willens der Natur, der den Menschen über sich selbst hinaus zum Übermenschen wandelt. Innerhalb der ontischen Möglichkeit hat der gnostische Mensch das Werk der Erlösung selbst zu betreiben. Durch seine Psyche gehört er der Ordnung, dem Nomos der Welt an; das, was in ihm zur Erlösung drängt, ist das Pneuma. Das Werk der Erlösung hat darum die Weltkonstitution der Psyche aufzulösen und gleichzeitig die Kräfte des Pneuma zu sammeln und in Freiheit zu setzen. Wie immer in den verschiedenen Sekten und Systemen die Phasen der Erlösung vorgestellt werden – sie variieren von magischen Praktiken bis zu mystischer Ekstase, von Libertinismus über Indifferentismus zur Welt bis zu strengster Askese – es geht um die Vernichtung der alten und den Übergang in die neue Welt. Das Instrument der Erlösung ist die Gnosis selbst, das Wissen. Da die Verstrickung in die Welt nach der gnostischen Ontologie durch die Agnoia, die Unwissenheit, verursacht ist, kann die Seele sich aus der Verstrickung wieder lösen durch das Wissen um ihr wahres Leben und ihren Zustand der Fremdheit in dieser Welt. Die Gnosis als das Wissen um die Verfallenheit an die Welt ist in einem das Mittel, ihr zu entfliehen. […] Die Selbsterlösung durch das Wissen hat ihren eigenen Zauber – und dieser Zauber ist nicht harmlos. Denn am Gefüge der Seinsordnung ändert sich nichts, wenn ich es schlecht finde und vor ihm davonlaufe. Der Versuch der Weltvernichtung vernichtet nicht die Welt, sondern steigert nur die Unordnung in der Gesellschaft. Die Flucht der Gnostiker aus einem wahrhaftig heillosen, verwirrenden und erdrückenden Zustand der Welt ist verständlich. Aber die Ordnung der alten Welt wurde erneuert durch die Bewegung, die sich bemühte, das „ernste Spiel“ (um Platons Formel zu gebrauchen) durch liebendes Tun wieder in Gang zu bringen – durch das Christentum. 60ff
Die politische Wissenschaft, die politike episteme, ist von Platon und Aristoteles gegründet worden. In der geistigen Verwirrung der Zeit ging es um die Frage, ob ein Bild von der richtigen Seelen- und Gesellschaftsordnung entworfen werden konnte; ein Paradigma, ein Modell, ein Leitbild für die Bürger der Polis, so wie in der homerischen Zeit der paränetische Mythos den Helden als Leitbild diente. Der Bilder gab es zwar genug im Athen des vierten Jahrhunderts – der Meinungen über die richtige Lebensführung des Menschen und die richtige Ordnung der Gesellschaft. Aber war es möglich, aus dieser Vielzahl von skeptischen, hedonistischen, utilitaristischen, machtrationalen und parteipolitischen doxai eine als die richtige zu erweisen? Oder, wenn keine der kritischen Prüfung standhielt, ein neues Bild der Ordnung zu formen, das nicht auch wieder den Charakter einer unverbindlichen, subjektiven Meinung hatte. Aus den Bemühungen um die Antwort auf diese Frage ist die politische als eine philosophische Wissenschaft entstanden. 63f
Niemand ist verpflichtet, eine geistige Krise der Gesellschaft mitzumachen; im Gegenteil, jedermann ist verpflichtet, diesen Unfug zu unterlassen und in Ordnung zu leben. 69
In der gnostischen Bewegung bleibt jedoch der Mensch gegen das transzendente Sein verschlossen, der Wille zur Macht stößt an die Mauer des Seins, das zum Gefängnis geworden ist; er zwingt den Geist in den Rhythmus von Täuschung und Selbstzerfleischung. Der Zwang zur Täuschung steht nun weiter in Frage. Stößt der Geist wirklich an die Mauer des Seins? Oder will er nicht vielleicht an ihr Halt machen? Die Perspektive in die tiefere Tiefe des Machtwillens eröffnet der Aphorismus: „Herrschen – und nicht mehr Knecht eines Gottes zu sein: – dieses Mittel blieb zurück, den Menschen zu veredeln.“ Herrschen heißt Gott sein; um Gott zu sein, nimmt der gnostische Mensch die Leiden der Täuschung und Selbstzerfleischung auf sich. 74
Muß ein Mensch aus der Not seines Zustandes, den er als gnadenlose Unordnung der Seele durchschaut, wirklich eine Tugend machen und ihn als übermenschliches Leitbild hinstellen? Berechtigt ihn sein Defekt, dionysische Tänze mit Masken aufzuführen? Fragen wir mit der Brutalität, zu der die Zeit uns zwingt, wenn wir nicht ihr Opfer werden wollen, ob er nicht vielmehr verpflichtet sei zu schweigen? Und wenn die Klage mehr als eine Maske, wenn sie echt wäre, wenn er an seinem Zustand litte, würde er dann nicht verstummen? 76
Das Phänomen des Frageverbots wird in seinen Umrissen deutlicher. Der gnostische Denker begeht in der Tat einen intellektuellen Schwindel – und er weiß, daß er es tut. Drei Stadien lassen sich in der Bewegung des Geistes unterscheiden. An der Oberfläche liegt der Akt der Täuschung selbst. Er könnte Selbsttäuschung sein; und sehr oft ist er es auch, wenn die Spekulation eines schöpferischen Denkers in der Form des Dogmas einer Massenbewegung zum abgesunkenen Kulturgut wird. Wo aber das Phänomen in seinem Ursprung zu fassen ist, wie bei Marx und Nietzsche, liegt tiefer als die Täuschung das Wissen um sie. Der Denker gibt sich nicht aus der Hand; die libido dominandi wendet sich gegen ihr eigenes Werk und will auch die Täuschung noch beherrschen. Diese gnostische Rückwendung gegen sich selbst entspricht geistig der philosophischen Umkehr, wie ich sagte, der periagogé im Platonischen Sinn. Aber die gnostische Bewegung des Geistes führt nicht zur erotischen Öffnung der Seele, sondern zu dem tiefsten Punkt des Beharrens in der Täuschung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revolte gegen Gott enthüllt. 76
Philosophie entspringt der Liebe zum Sein; sie ist das liebende Bemühen des Menschen, die Ordnung des Seins zu erkennen und sich auf sie einzustimmen. Gnosis will Herrschaft über das Sein; um sich des Seins zu bemächtigen, konstruiert der Gnostiker sein System. Das System ist eine gnostische Denkform, nicht eine philosophische. 83
Im Konflikt zwischen System und Wirklichkeit hat die Wirklichkeit dem System zu weichen. Der intellektuelle Schwindel wird gerechtfertigt durch den Machtanspruch der geschichtlichen Zukunft, die der gnostische Denker in seinem System spekulativ entworfen hat. 87
Die Analyse ist abgeschlossen. Es bleibt noch die Aufgabe, das Ergebnis durch Begriff und Namen festzulegen. Zu diesem Zweck übernehme ich von Heideggers Auslegung des Seins den Ausdruck „Parousie“ und spreche von Parusismus als der Geisteshaltung, in der die Erlösung vom Übel der Zeit durch die Ankunft, den Advent des immanent verstandenen Seins in seiner Fülle zu erwarten ist. 89
Durch ihre begriffliche Erfassung als parusitische wird es ferner möglich, sie genauer als bisher von der ihr vorangehenden chiliastischen Phase des Mittelalters und der Renaissance zu unterscheiden, in der die gnostischen Bewegungen sich in den Denkformen der jüdisch-christlichen Apokalypse ausdrückten. Die große Geschichte der nachantiken, westlichen Gnosis wird damit in ihrem Zusammenhang sichtbar als die Geschichte der westlichen Sektiererbewegung. Im Mittelalter konnte die Bewegung noch unter der Revolutionsschwelle gehalten werden; heute ist sie, zwar nicht Seinsmacht, aber Weltmacht geworden. Diese Welt und den Zauber ihrer Macht wieder aufzulösen – jeder von uns in sich selbst –, das ist die große Aufgabe, an der wir alle zu arbeiten haben. Bei der Austreibung der Dämonen kann die Politische Wissenschaft helfen – in dem bescheidenen Maß von Wirksamkeit, das unsere Gesellschaft der episteme und ihrer Therapie zugesteht. 89f
In der parusitischen Gnosis geht es darum, die als unvollkommen und ungerecht erfahrene Seinsordnung zu zerstören und durch eine vollkommene und gerechte Ordnung aus menschlicher Schöpferkraft zu ersetzen. Wie immer nun die Seinsordnung ausgelegt wird – als eine von kosmisch-göttlichen Kräften durchwaltete Welt in den Zivilisationen des Nahen und Fernen Ostens; oder als die Schöpfung eines welt-transzendenten Gottes in der jüdisch-christlichen Symbolik; oder als eine wesenhafte Ordnung des Seins in der philosophischen Kontemplation –, so ist sie dem Menschen vorgegeben und liegt nicht in seiner Verfügungsgewalt. Der Versuch, eine neue Welt zu schaffen, setzt also, wenn er sinnvoll unternommen werden soll, voraus, daß der Charakter der Seinsordnung als vorgegebener ausgelöscht, daß sie als wesensmäßig in der Verfügungsgewalt des Menschen stehend ausgelegt wird. Und die Übernahme des Seins in die Verfügungsgewalt des Menschen wieder erfordert, daß der transzendente Ursprung des Seins ausgelöscht wird – sie erfordert die Dekapitation des Seins, den Gottesmord. Der Gottesmord wird spekulativ begangen durch die Auslegung göttlichen Seins als Menschenwerk. 91f
Ein Ding kann seine Natur nicht verändern; wer versucht, seine Natur zu „ändern“, zerstört das Ding. Der Mensch kann sich nicht zum Übermenschen wandeln; der Versuch, den Übermenschen zu schaffen, ist der Versuch, den Menschen zu ermorden. Auf den Gottesmord folgt im geschichtlichen Prozeß nicht der Übermensch, sondern der Menschenmord – auf das deicidium der gnostischen Theoretiker das homicidium der revolutionären Praktiker. 98
Unter gnostischen Bewegungen sollen Bewegungen von der Art des Progressivismus, des Positivismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus verstanden werden. Es handelt sich also nicht in allen diesen Fällen um politische Massenbewegungen. Einige von ihnen würden besser als Intellektuellenbewegungen bezeichnet werden, wie etwa der Positivismus, der Neopositivismus und die Varianten der Psychoanalyse. 105
Es seien darum sechs Charakteristika aufgezählt, die in ihrer Gesamtheit das Wesen gnostischer Haltung umschreiben:
1. Vor allem ist festzustellen, daß der Gnostiker mit seiner Situation unzufrieden ist. Das wäre an sich nicht besonders zu verwundern.
2. […] Der Glaube, daß die Übelstände der Situation darauf zurückzuführen seien, daß die Welt wesensmäßig schlecht organisiert ist. Denn es wäre ja auch die andere Annahme möglich, daß die Seinsordnung, so wie sie uns Menschen vorgegeben ist (wo immer ihr Ursprung zu suchen ist), gut sei und daß wir Menschen unzulänglich sind. Wenn in der Situation etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dann ist der Grund in der Schlechtigkeit der Welt zu suchen.
3. Das dritte Charakteristikum ist der Glaube, daß Erlösung vom Übel der Welt möglich sei.
4. Als viertes Merkmal folgt der Glaube, daß die Seinsordnung in einem historischen Prozeß geändert werden müsse. Aus der schlechten Welt muß historisch eine gute Welt werden. Die Annahme ist nicht ganz selbstverständlich, denn als Alternative wäre die christliche Antwort zu erwägen, daß die Welt in der Geschichte so bleibt, wie sie ist, und daß die erlösende Vollendung des Menschen durch Gnade im Tod erfolgt.
5. Mit diesem fünften Punkt erreichen wir das gnostische Merkmal im engeren Sinne, mit dem Glauben, daß eine Änderung der Seinsordnung, die Erlösungscharakter hat, im menschlichen Handlungsbereich liege, daß sie dem Menschen durch sein eigenes Handeln möglich sei.
6. Wenn es aber möglich ist, die uns vorgegebene Seinsordnung in ihrer Struktur so zu verändern, daß wir mit ihr als einer vollendeten zufrieden sein können, dann wird es zur Aufgabe des Gnostikers, das Rezept der Änderung zu erforschen. Das Wissen, die Gnosis, von der Methode der Änderung des Seins ist sein eigentliches Anliegen. Als sechstes Merkmal der gnostischen Haltung erkennen wir daher die Konstruktion der Rezepte zur Selbst- und Welterlösung sowie die Bereitwilligkeit des Gnostikers, als Prophet aufzutreten, der sein Erlösungswissen der Menschheit verkündet. 107f
Der Machtwille des Gnostikers, der die Welt beherrschen will, hat den Sieg davongetragen über die Demut der Unterordnung unter die Seinsverfassung. 122
Die politischen Religionen
Eine religiöse Betrachtung des Nationalsozialismus muß von der Annahme ausgehen dürfen, daß es Böses in der Welt gebe; und zwar Böses nicht nur als einen defizienten Modus des Seins, als ein Negatives, sondern als eine echte, in der Welt wirksame Substanz und Kraft. Einer nicht nur sittlich schlechten sondern religiös bösen, satanischen Substanz kann nur aus einer gleich starken religiös guten Kraft der Widerstand geleistet werden. Man kann nicht eine satanische Kraft mit Sittlichkeit und Humanität allein bekämpfen. Dieser Schwierigkeit ist aber nicht durch einen einfachen Entschluß abzuhelfen. Es gibt heute keinen bedeutenden Denker der westlichen Welt, der nicht wüßte – und es auch ausgesprochen hätte – daß sich diese Welt in einer schweren Krise befindet, in einem Prozeß des Verdorrens, der seine Ursache in der Säkularisierung des Geistes, in der Trennung eines dadurch nur weltlichen Geistes von seinen Wurzeln in der Religiosität hat, und der nicht wüßte, daß die Gesundung nur durch religiöse Erneuerung, sei es im Rahmen der geschichtlichen Kirchen, sei es außerhalb dieses Rahmens, herbeigeführt werden kann. Die Erneuerung kann in großem Maße nur von großen religiösen Persönlichkeiten ausgehen – aber jedem ist es möglich, bereit zu sein und das Seine zu tun, um den Boden zu bereiten, aus dem sich der Widerstand gegen das Böse erhebt. In diesem Punkte nun versagen die politisierenden Intellektuellen völlig. Es ist grauenhaft, immer wieder zu hören, daß der Nationalsozialismus ein Rückfall in die Barbarei, in das dunkle Mittelalter, in Zeiten vor den neueren Fortschritt zur Humanität sei, ohne daß die Sprecher ahnen, daß die Säkularisierung des Lebens, welche die Humanitätsidee mit sich führte, eben der Boden ist, auf dem antichristliche religiöse Bewegungen wie der Nationalsozialismus erst aufwachsen konnten. Die religiöse Frage ist für diese säkularisierten Geister tabu; und sie ernsthaft und radikal aufzuwerfen, scheint ihnen bedenklich – vielleicht auch als eine Barbarei und ein Rückfall in das dunkle Mittelalter. 6f
Wenn meine Darstellung den Eindruck erweckt, als sei sie zu „objektiv“ und „werbe“ für den Nationalsozialismus, so scheint mir dies ein Zeichen dafür zu sein, daß sie gut ist – denn das Luziferische ist nicht schlechthin ein sittlich Negatives, ein Gräuel, sondern eine Kraft, und zwar eine sehr anziehende Kraft; und die Darstellung wäre schlecht, wenn sie den Eindruck hervorriefe, als handle es sich nur um eine sittlich minderwertige, dumme, barbarische, verächtliche Angelegenheit. 7
Der Staat und der weltliche Geist haben ihren Geltungsbereich im erbitterten Kampf gegen das heilige Reich des Mittelalters erobert, und in der Kampfposition haben sich sprachliche Symbole gebildet, welche nicht die Wirklichkeit als solche erkennen, sondern die Gegensätze des Kampfes festhalten und verteidigen wollen. 11
Daß die Staatsmacht ursprünglich oder absolut sei, ist nicht mehr ein Urteil des den Staat Erkennenden, sondern das Dogma eines Gläubigen. Die Existenz des Menschen verliert in seinem Erlebnis an Realität, der Staat zieht sie an sich und wird zum wahrhaft Realen, aus dem ein Wirklichkeitsstrom zurückfließt in die Menschen und sie umschaffend neu belebt als Teile des übermenschlich Wirklichen. Wir sind in das Innerste eines religiösen Erlebnisses geraten und unsere Worte beschreiben einen mystischen Prozeß. 14
Der Mensch erlebt seine Existenz als kreatürlich und darum fragwürdig. Irgendwo in der Tiefe, am Nabel der Seele, dort wo sie am Kosmos hängt, zerrt es. Dort ist der Punkt jener Erregungen, die unzulänglich Gefühle genannt und darum leicht mit gleichnamigen oberflächlichen Bewegungen der Seele verwechselt werden. 15
Wenn das Herz empfindsam und der Geist scharf ist, genügt ein Blick in die Welt, um das Elend der Kreatur zu sehen und Wege der Erlösung zu ahnen; wenn sie unempfindlich und stumpf sind, braucht es massive Eindrücke, um schwache Empfindungen auszulösen. Der umhegte Fürstensohn sah zum erstenmal einen Bettler, einen Kranken und einen Toten – und wurde der Buddha; ein neuerer Schriftsteller sieht die Leichenhaufen und die grauenvolle Vernichtung von Tausenden in den russischen Nachkriegswirren – er kommt darauf, daß die Welt nicht in Ordnung ist, und schreibt eine Serie mäßiger Romane. Der eine sieht im Leiden das Wesen des Kreatürlichen und sucht nach der Erlösung im Weltgrund; der andere sieht es als Übelstand, dem tätig abgeholfen werden kann und soll. Manche Seele spricht stärker auf die Unzulänglichkeit der Welt an, manche auf die Seinsherrlichkeit der Schöpfung. Der eine erlebt ein Jenseits nur dann als wirklich, wenn es mit Glanz und Lärm, mit Wucht und Schrecken überlegener Macht als herrscherliche Person und Organisation auftritt; für den anderen sind Antlitz und Gebärde jedes Menschen transparent und lassen seine Gotteseinsamkeit durchscheinen. Und weit spannt sich der Raum der Seelenorte, aus denen die Ekstasen aufsteigen, die Erlebnisse, in denen der Mensch sein Dasein überschreitet: von der unio mystica im Geist, über die Erhöhung im Fest der Gemeinschaft, die Hingabe an den Bund der Gefährten, das liebende Sichausweiten in die Landschaft, die Pflanzen und die Tiere, bis zu triebhaften Erschütterungen im Geschlechtsakt und im Blutrausch. 18
Ordnung und Geschichte. Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten
Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung. Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, unter den ihr gegebenen Verhältnissen eine Ordnung zu schaffen, die der Tatsache ihrer Existenz im Hinblick auf göttliche und menschliche Ziele Sinn verleiht; und die Versuche, die symbolischen Formen zu finden, die diesen Sinn adäquat ausdrücken, sind zwar unvollkommen, bilden aber keineswegs eine sinnlose Kette von Fehlschlägen. Denn beginnend mit den Kulturen des Alten Orients haben die großen Gesellschaften eine Abfolge von Ordnungen hervorgebracht, die sinnvoll miteinander verknüpft sind als Annäherungen an oder Abweichungen von einer adäquaten Symbolisierung der Wahrheit in Bezug auf die Ordnung des Seins, von der die Ordnung der Gesellschaft ein Teil ist. 27
Er [der Leser] wird auf einen Blick sehen, daß die prophetische Vorstellung von einer Veränderung in der Struktur des Seins dem Glauben unserer Zeit an die Vervollkommnung der Gesellschaft durch Fortschritt oder auf dem Wege einer kommunistischen Revolution zugrundeliegt. Nicht nur werden dabei die angeblichen Antagonisten als Brüder im Geiste entlarvt, nämlich als die späten gnostischen Abkömmlinge des prophetischen Glaubens an eine Transfiguration der Welt; es ist offensichtlich auch von Bedeutung, die Natur der Erfahrungen zu verstehen, die in den Glaubenshaltungen dieses Typus zum Ausdruck kommen sowie der Umstände, unter denen sie in der Vergangenheit sich entwickelten und aus denen sie heute ihre Stärke beziehen. Der metastatische Glaube ist eine der großen Quellen der Unordnung unserer Zeit, vielleicht sogar die wichtigste; und es ist für uns alle eine Frage von Leben und Tod, das Phänomen zu verstehen und Mittel dagegen zu finden, bevor es uns zerstört. Wenn heute der Zustand der Wissenschaft die kritische Analyse solcher Phänomene erlaubt, so ist es eindeutig die Pflicht des Gelehrten, sie um seiner selbst willen als Mensch durchzuführen und die Ergebnisse seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. Ordnung und Geschichte sollte in diesem Sinne nicht als ein Versuch verstanden werden, Kuriositäten einer toten Vergangenheit zu erkunden, sondern als eine Untersuchung der Struktur der Ordnung, in der wir gegenwärtig leben.
Ich habe von den Heilmitteln gegen die Unordnung der Zeit gesprochen; eines dieser Heilmittel ist die philosophische Untersuchung selbst. Ideologie ist Existenz in Rebellion gegen Gott und den Menschen. In der Sprache der Ordnung Israels ist es die Verletzung des Ersten und des Zehnten Gebots, in den Worten von Aischylos und Platon ist es der nosos, die krankhafte Störung des Geistes. Philosophie ist die Liebe zum Sein durch die Liebe zum göttlichen Sein als der Quelle seiner Ordnung. Der Logos des Seins ist das eigentliche Objekt der philosophischen Untersuchung; und die Suche nach der Wahrheit über die Ordnung des Seins kann ohne eine Analyse der Modi von Existenz in Unwahrheit nicht geführt werden. Die Wahrheit der Ordnung muß gewonnen und in einem unaufhörlichen Kampf gegen den Abfall von ihr verteidigt werden; und die Bewegung zur Wahrheit beginnt mit dem Gewahrwerden des Menschen, daß er sich in existentieller Unwahrheit befindet. In der Philosophie als einer Existenzform sind die diagnostischen und die therapeutischen Funktionen untrennbar eins. Und seitdem Platon in der Unordnung seiner Zeit diese Verbindung entdeckte, blieb die philosophische Untersuchung eines der Mittel zur Schaffung von Inseln der Ordnung in der Unordnung der Zeit. Ordnung und Geschichte ist eine philosophische Untersuchung über die Ordnung der menschlichen Existenz in Gesellschaft und Geschichte. Vielleicht hat sie eine heilende Wirkung — in dem bescheidenen Umfang, der im leidenschaftlichen Ablauf der Ereignisse der Philosophie gewährt ist. 32f
Doch der Mensch ist kein auf sich selbst gestellter Betrachter. Er ist ein Schauspieler, der im Drama des Seins eine Rolle spielt und durch das Faktum seiner Existenz gezwungen ist, sie zu spielen, ohne zu wissen, worin sie besteht. Es ist verwirrend genug, wenn jemand sich durch Zufall in einer Situation findet, in der er nicht genau weiß, was gespielt wird und wie er sich zu verhalten hat, um nicht alles zu verderben; doch mit etwas Glück und Geschick wird er sich herauswinden und in die weniger verwirrende Routine des Alltags zurückkehren. Die Partizipation am Sein jedoch ist nicht eine Episode im Leben des Menschen, sondern nimmt seine gesamte Existenz in Anspruch, denn seine Partizipation ist seine Existenz selbst. Weder gibt es einen Blickpunkt außerhalb der Existenz, von dem aus ihr Sinn erkannt und planmäßiges Verhalten entworfen werden könnte, noch eine Insel der Seligen, auf die sich der Mensch zurückziehen kann, um sein Ich wiederzufinden. Die Rolle der Existenz muß in der Ungewißheit ihres Sinnes gespielt werden, als ein Abenteuer der Entscheidung auf der Grenze von Freiheit und Notwendigkeit. 39
Eine Herrschaft zu errichten, ist der Versuch, eine Welt zu erschaffen. Wenn der Mensch das Kosmion politischer Ordnung erschafft, wiederholt er analog die göttliche Schöpfung des Kosmos. Die analoge Wiederholung ist kein Akt vergeblicher Nachahmung, denn indem der Mensch den Kosmos wiederholt, hat er in dem Maße, wie es seine existentiellen Beschränkungen erlauben, Teil an der Erschaffung der kosmischen Ordnung selbst. Wenn er an der Schöpfung der Ordnung partizipiert, erfährt der Mensch zudem seine Konsubstantialität mit dem Sein, von dem er ein kreatürlicher Teil ist. Daher ist der Mensch in seinem schöpferischen Bestreben ein Partner in dem doppelten Sinne einer Kreatur und eines Konkurrenten Gottes. 55
Ordnung und Geschichte. Bd. 4: Die Welt der Polis – Gesellschaft, Mythos und Geschichte
Der Seinssprung, das epochale Ereignis, das die Kompaktheit des frühen kosmologischen Mythos bricht und die Ordnung des Menschen unmittelbar unter Gott stellt, ereignet sich — dies muß anerkannt werden — zweimal in der Geschichte der Menschheit, ungefähr zur gleichen Zeit, im Nahen Osten und in den benachbarten Zivilisationen der Ägäis. Zwar laufen beide Ereignisse zeitlich parallel und haben die Opposition zum Mythos miteinander gemein, doch sind sie voneinander unabhängig; und die beiden Erfahrungen unterscheiden sich von ihrem Inhalt her so grundlegend voneinander, daß sie sich in den zwei verschiedenen Symboliken der Offenbarung und der Philosophie artikulieren. Vergleichbare Brüche mit dem Mythos, ebenfalls von unterschiedlicher Beschaffenheit, ereigneten sich zudem gleichzeitig im Indien des Buddha und im China des Konfuzius und des Lao-tzu. 17
Das primäre Feld der Ordnung ist die einzelne Gesellschaft menschlicher Wesen, die sich für Aktionen zum Zweck der Selbstbehauptung organisiert. Wäre die menschliche Art jedoch nichts anderes als eine Vielfalt solcher Agglomerate, die alle wie in den Insektenstaaten unter dem Zwang des Instinkts denselben Ordnungstyp aufweisen, dann gäbe es keine Geschichte. Menschliche Existenz in Gesellschaft hat Geschichte, weil sie über eine Dimension des Geistes und der Freiheit jenseits bloßer animalischer Existenz verfügt, weil soziale Ordnung eine Grundeinstimmung des Menschen in die Ordnung des Seins darstellt und weil diese Ordnung vom Menschen verstanden und in der Gesellschaft mit zunehmender Annäherung an ihre Wahrheit realisiert werden kann. Jede Gesellschaft ist zum Überleben in der Welt organisiert, ebenso aber auch zur Partnerschaft in der Ordnung des Seins, die ihren Ursprung im welttranszendenten göttlichen Sein hat; sie muß mit dem Problem ihrer pragmatischen Existenz fertigwerden, sich aber zugleich mit der Wahrheit ihrer eigenen Ordnung beschäftigen. Dieses Ringen um die Wahrheit der Ordnung ist die Substanz der Geschichte […]. 17f
Die Frage der vielfachen und parallelen Seinssprünge stellte sich ein zweites Mal mit der Ausweitung des historischen Horizontes — eine Periode, die im 18. Jahrhundert begann und bis in unsere Gegenwart hineinreicht. Während keine grundlegend neuen Probleme zusätzlich zu den bereits erörterten aufgetaucht sind, ist die theoretische Situation aus zwei Gründen ziemlich verwirrend. Zunächst einmal sind die Probleme, die bereits in der Antike aufgetreten waren, niemals überzeugend analysiert worden. Die vorschnellen Verallgemeinerungen der damals bekannten Phänomene waren in die Civitas Dei von Augustinus und in die parallele Geschichte wider die Heiden von Orosius eingegangen. Die Augustinische Konzeption von Menschheit und Geschichte war sodann durch das Mittelalter überliefert worden und brach nun, im 18. Jahrhundert, unter der Last des angewachsenen Wissens zusammen. Dieses enorme Anwachsen phänomenalen Wissens fiel, zum zweiten, in das Zeitalter des intellektuellen Zusammenbruchs im Westen. Das Resultat war ein übermäßiges, geradezu vegetatives Anwachsen gnostischer Geschichtsspekulation, das die Natur des Problems eher verdunkelte als erhellte. Erst seit der letzten Generation ist eine Genesung von der theoretischen Konfusion feststellbar. 31f
Gnosis ist eine spekulative Bewegung innerhalb der Form des Mythos; und die moderne Gnosis ist, wie die Hegelianischen Identifikationen zeigen, ein Rückfall aus der Differenzierung in die prähistorische Kompaktheit des Mythos. 37
Das hellenische Geschichtsbewußtsein wird durch die Erfahrung einer Krise motiviert; die Gesellschaft selbst sowie der Verlauf ihrer Ordnung werden rückblickend von ihrem Ende her konstituiert. Das israelitische Geschichtsbewußtsein wird durch die Erfahrung einer göttlichen Offenbarung motiviert; die Gesellschaft wird durch die Antwort auf die Offenbarung konstituiert, und von diesem Anfang aus projiziert sie ihre Existenz in den offenen Horizont der Zeit. Das hellenische Bewußtsein gelangt durch das Verständnis der Unordnung zum Verständnis wahrer Ordnung — das ist der Prozeß, für den Aischylos die Formel „durch Leiden zur Weisheit” gefunden hat; das israelitische Bewußtsein beginnt, durch die Verkündigung der Zehn Gebote vom Sinai, mit dem Wissen wahrer Ordnung. Der mosaische und prophetische Seinssprung schafft die Gesellschaft, in der er sich vollzieht, in historischer Form für die Zukunft; der philosophische Seinssprung entdeckt die historische Form und mit ihr die Vergangenheit der Gesellschaft, in der er sich vollzieht. 74
Die Stärke der Pandora-Fabel beruht auf ihrem Vordringen zu einer konstanten Dimension von Träumen, die der erfahrenen Last der Existenz entsprechen. Dieses Paradies ist tatsächlich verloren — das ist das Mysterium der Existenz –, und es kann im Leben des Menschen in der Gesellschaft nicht wiedergewonnen werden; doch durch den Versuch, es wiederzugewinnen, wird das menschliche Bemühen zum „materiellen Interesse”, das gegen die Ordnung von Zeus und Dike verstößt. Unterwerfung unter die Ordnung des Lebens, wie dem Menschen von Gott bestimmt, bedeutet die Last des Daseins auf sich zu nehmen im Wettstreit und in Kooperation mit den Mitmenschen. 177
Diese Annahme des Nihilisten, daß seine persönliche Nichtigkeit das Maß des Menschen sei, ist der große Irrtum des „Realismus“. 199
Wenn wir die von Thukydides beschriebene „Realität“ als apokalyptischen Alptraum begreifen, erreichen wir eine erste Annäherung an Platons oft mißverstandenen „Idealismus“ als den Versuch, einen Alptraum durch die Wiederherstellung der Realität zu überwinden. 200
Ordnung und Geschichte, Bd. 5: Die Welt der Polis – Vom Mythos zur Philosophie
Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass es „Schulen“ in irgendeinem vorstellbaren Sinn des Wortes nicht gab. Der Stil der hellenischen Zivilisation ist eindeutig durch das Fehlen temporaler und ekklesiastischer Bürokratien charakterisiert. Durch ein Wunder der Geschichte blieb das geographische Gebiet der hellenischen Zivilisation seit der Dorischen Wanderung bis zu den Perserkriegen, das heißt etwa von 1100 – 500 v. Chr., vor Invasionen Fremder verschont. Während im Vorderen Orient und Fernen Osten die imperialen Zivilisationen mit ihren unvermeidlichen Bürokratien gegründet, vernichtet und wieder errichtet wurden, konnte das geopolitische Paradies rund um die Ägäis sechshundert Jahre lang „freie“ Zivilisationen entwickeln – zunächst solche lokaler Sippen und Aristokratien, später dann die von Poleis, die so klein waren, daß eine bürokratische Verwaltung größeren Umfangs nicht benötigt wurde. Unter diesen einzigartigen historischen Bedingungen konnte der Übergang vom archaischen zum klassischen Hellas die Gestalt von intellektuellen Abenteuern einzelner Menschen annehmen und wurde nicht durch den Druck von Hierarchien behindert, die dazu neigen, an Traditionen festzuhalten. 18
Aber so wie Israel die Bürde Kanaans zu tragen hatte, mußte die Philosophie die Bürde der Polis tragen. Denn die Entdeckungen wurden von Individuen, nämlich von Bürgern einer Polis gemacht; und sobald die neue Ordnung der Seele von ihren Entdeckern und Urhebern kommuniziert wurde, befand sie sich unvermeidlich in Opposition zur öffentlichen Ordnung, da sie die Mitbürger stillschweigend oder explizit dazu aufforderte, ihr persönliches Verhalten, die Sitten der Gesellschaft und letzten Endes die Institutionen in Übereinstimmung mit der neuen Ordnung zu reformieren. Daher wurde die hellenische Philosophie in zunehmendem Maß zur Artikulation der wahren Ordnung der Existenz innerhalb des institutionellen Rahmens einer hellenischen Polis. Das ist nicht unbedingt der große Defekt, für den ihn die Moderne häufig hält. Denn schließlich gedieh die Philosophie innerhalb der Polis; und wahre philosophische Existenz ist vielleicht nur in einer Umgebung möglich, die der Kultur und den Institutionen der Polis ähnelt. 22
Der Mystiker-Philosoph hat keine Information anzubieten; er kann lediglich die Entdeckung, die er in seiner Seele gemacht hat, kommunizieren und hoffen, daß diese Kommunikation entsprechende Entdeckungen in den Seelen anderer hervorruft. 155
Ordnung und Geschichte, Bd. 6: Platon
Und allgemeiner: „Tugend [arete] ist Gesundheit, Schönheit und Wohlbefinden der Seele; Schlechtigkeit [kakia] ihre Krankheit, Häßlichkeit und Schwäche“ (444d-e). Da der Begriff der Gerechtigkeit zu dem Zweck entwickelt wird, die sophistische Unordnung zu kritisieren, muß seine Bedeutung in Bezug auf sein Gegenteil verstanden werden. Zur Bezeichnung der sophistischen Unordnung verwendet Platon den Ausdruck polypragmosyne, die Bereitschaft, sich in vielfältige Tätigkeiten zu verstricken, die den jeweiligen Menschen nichts angehen; und gelegentlich verwendet er den Ausdruck metabole (Tausch, Wechsel oder Änderung der Beschäftigung) und allotriopragmosyne (Fremdtuerei) (434b-c; 444b). „Einer kann nicht viele Künste zugleich gut ausüben“ (374a). Das ist der Grundsatz, auf den sich die Dialogpartner verständigt haben. Polypragmosyne umfaßt die verschiedenen Verstöße gegen diesen Grundsatz wie auch die Versuche, mehr als die eine Kunst, für die ein Mensch besonders begabt ist, auszuüben, sowie den Wunsch des Unerfahrenen, die Polis zu ihrem Schaden zu regieren. 88
Heraklits „Vielwisserei“ ist zu Platons „Vieltuerei“ geworden. Die Unordnung, die sich zu Heraklits Zeiten als Verdunklung der Weisheit durch ein breites oberflächliches Wissen manifestierte, hat nun in Form dilettantischer Dreinrederei die Ebene des Handelns erreicht. 88f
Und schließlich gilt es in diesem Zusammenhang, das Demokrit-Fragment B 80 erwähnen: „Eine Schande ist es, sich in anderer Leute Geschäft einzumischen [polypragmoneonta] und sein eigenes [oikeia] nicht zu kennen.“ Die oikeopragia (sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern) aus 434c sowie andere Abschnitte der Politeia, insbesondere 433e, erinnern sehr an diesen Ausspruch Demokrits. 89
Das Deutsche kennt Philosophen, aber keine Philodoxen. Der Verlust ist in diesem Fall besonders unerfreulich, weil es in Wirklichkeit eine Unmenge von Philodoxen gibt; doch da der Ausdruck, mit denen Platon sie bezeichnet, verloren gegangen ist, nennt man sie Philosophen. Somit bezeichnet man im modernen Sprachgebrauch gerade diejenigen Personen als Philosophen, zu denen sich Platon als Philosoph in Opposition befand. Und ein Verständnis von Platons positiver Hälfte des Begriffspaares ist, von einigen wenigen Experten abgesehen, heute praktisch unmöglich, weil man an Philodoxen denkt, sobald man von Philosophen spricht. Daher ist einem heute auch die platonische Idee eines Philosophenkönigs so fremd, setzt doch unsere Vorstellungskraft an die Stelle des Philosophen, den Platon meinte, einen Philodoxen. 89f
Und der wahre Philosoph ist der Mensch, der mit Entzücken (philotheamones) die Wahrheit schaut. Die Wahrheit der Dinge aber ruht in diesen selbst (auto). Einige Menschen können die Schönheit nur so sehen, wie sie in vielen schönen Dingen erscheint, sind aber unfähig, die Schönheit „selbst“ zu sehen. Diejenigen aber, die das „eine“ in den „vielen“ Dingen sehen können, sind die wahren Philosophen, und zu unterscheiden von den Connoisseurs, den Kunstliebhabern und praktischen Menschen. Und was soeben über die „Schönheit“ gesagt wurde, gilt gleichermaßen für das „Gerechte“ und das „Ungerechte“, das „Gute“ und das „Böse“ (475e-476b). Nach diesen ersten Begriffsklärungen führt Sokrates die Fachausdrücke ein. Nur das Wissen vom Sein „an sich“ kann wahrhaft Anspruch auf das Wissen (epistime) erheben; das Wissen vom Sein in der Mannigfaltigkeit der Dinge ist Meinung (doxa). Der Gegenstand des Wissens (epistime) wird somit mit dem parmenidischen Ausdruck für das Sein (to on) gleichgesetzt. Was aber ist der Gegenstand des Meinens? Er kann nicht Nicht-Sein (to me on) sein, denn vom Nicht-Sein hat man (immer noch Parmenides folgend) überhaupt kein Wissen. Daher ist doxa ein Vermögen (dynamis) der Seele zwischen Wissen und Unwissenheit, während ihr Gegenstand entsprechend im Bereich zwischen (metaxy) Sein und Nicht-Sein liegen muß (477a-b). Für dieses Zwischenreich prägt Platon den Ausdruck to planeton, das ein Wandern oder Herumirren zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein bezeichnet (479d). 90f
Der Philosoph ist der Mensch, der dem Sophisten widersteht; der Mensch, der versucht in seiner Seele eine rechte Ordnung zu entwickeln, indem er der kranken Seele des Sophisten widersteht; der Mensch, der in dem Bild seiner wohlgeordneten Seele ein Paradigma der gesellschaftlichen Ordnung evozieren kann, das in Opposition zur Unordnung der Gesellschaft steht, die sich in der Unordnung der Seele des Sophisten widerspiegelt; der Mensch, der die Begriffswerkzeuge entwickelt, um Gesundheit und Krankheit der Seele zu diagnostizieren; der Mensch, der im Vertrauen auf das göttliche „Maß“, an das seine Seele angepaßt ist, die Kriterien der rechten Ordnung entwickelt; der Mensch, der folglich zum Philosophen im engeren Sinne wird, mithin zu einem Denker, der Lehrsätze über die rechte Ordnung in Seele und Gesellschaft aufstellt, indem er für sie die Objektivität der epistime, der Wissenschaft, einfordert – ein Anspruch, der vom Sophisten, dessen Seele an die Meinung der Gesellschaft angepaßt ist, heftig bestritten wird. Wenn man Platons Ordnungswissenschaft verstehen will, muß die Bedeutung des Ausdrucks „Philosoph“ im kompakten Sinne, in dem Moment also, in dem er aus dem Akt des Widerstands hervorgeht, richtig verstanden werden. Denn im Widerstand des Philosophen gegen eine Gesellschaft, die seine Seele zerstört, wurzelt die Einsicht, daß Psyche die Substanz der Gesellschaft ist. Die Gesellschaft kann die Seele eines Menschen zerstören, weil die Unordnung der Gesellschaft eine Krankheit der Seele ihrer Glieder ist. Die Verwirrung, die der Philosoph in seiner eigenen Seele erfährt, ist die Verwirrung der Seele seines gesellschaftlichen Umfelds, die auf ihm lastet. Und daher ist die Diagnose von Gesundheit und Krankheit der Seele zugleich die Diagnose von Ordnung und Unordnung der Gesellschaft. 93f
Heute ist Platon zu einem Philosophen neben anderen geworden; und unser moderner Ausdruck schließt sogar die Philodoxen ein, denen er sich widersetzte. Platon zufolge ist der Philosoph im Wortsinne der Mensch, der die Weisheit liebt, weil die Weisheit der Freiheit seiner arete Substanz hinzufügt und die Seele dazu befähigt, den Weg zur Erlösung zu beschreiten. In dem Philosophen, der dem Sophisten widersteht, lebt eine Seele, die der Zerstörung der arete widersteht. Der Philosoph ist der Mensch, der mit Angst vor dem Verlust des Seins erfüllt ist; und Philosophie ist für Jedermann der Aufstieg durch Erlösung, so wie dies die pamphylischen Bestandteile des Mythos verdeutlichen. Platons Philosophie ist daher nicht eine Philosophie, sondern die symbolische Form, in der die Dionysische Seele ihrem Aufstieg zu Gott Ausdruck verleiht. Wenn Platons Evokation eines Paradigmas der rechten Ordnung als die Meinung eines Philosophen über Politik interpretiert wird, wird das Ergebnis heilloser Unsinn sein, der keiner weiteren Diskussion bedarf. 95
Die Qualität einer Polis hat ihren Ursprung nicht im Paradigma der Institutionen, sondern in der Psyche ihrer Gründer oder Herrscher, die das Muster ihrer Seele auf den Institutionen hinterlassen. 114
Das der Ordnung zuträgliche Prinzip, das von Anfang an gegenwärtig ist und sich später in die Tugend der Gerechtigkeit verwandelt, liegt darin, seine Aufmerksamkeit auf das Gewerbe zu richten, für das man besonders begabt ist. Sein eigenes Gewerbe zu vernachlässigen und sich in Dinge einzumischen, die von Natur aus die besondere Pflicht eines anderen Menschen sind, wird die Wirksamkeit der Ordnung vermindern und sie letztlich zum Einsturz bringen. Das Ergebnis dieser Konstruktion ist eine einfache Gemeinschaft freier Bauern, Handwerker und Kleinhändler, die weder reich noch arm sind, und die Geburtenkontrolle betreiben, damit sie das Bevölkerungswachstum nicht eines Tages in die Zwangslage bringt, zwischen Armut oder militärischer Expansion zu entscheiden. Das ist die Gemeinschaft, die Sokrates wahr und gesund nennt. 127
Irrigerweise glaubt man, der Mythos wolle „wörtlich“ und nicht symbolisch verstanden werden, und von daher nimmt er sich unbedarft oder abergläubisch aus. Was den Mythos der Gegenwart anbelangt, so ist das Ergebnis ähnlich vernichtend. Der Mythos hat eine grundlegende Funktion für die menschliche Existenz, und es werden Mythen geschaffen werden, was auch immer man von ihnen halten mag. Man kann den Mythos nicht überwinden, man kann ihn nur mißverstehen. Was den zeitgenössischen Mythos, also den des 18. Jahrhunderts und danach, anbelangt, so führte das positivistische Mißverständnis dazu, daß die mythischen Symbole nunmehr vorgeben, gerade das zu sein, was den Symbolen der Vergangenheit vorgeworfen wird, daß sie es nicht sind, das heißt, „Wissenschaft“ und „Theorie“. Man meint, solche Symbole wie „Vernunft“, „Menschheit“, „Proletariat“, „Rasse“, „Kommunistische Gesellschaft“, „Weltfriede“ und so fort wären ihrem Wesen nach von heidnischen oder christlichen Symbolen verschieden, weil ihre mythische Wahrheit zusätzlich von einem Mythos der Wissenschaft überlagert und daher verhüllt und verdunkelt ist. Da der Mythos nicht einfach aufhört, Mythos zu sein, nur weil ihn jemand für Wissenschaft hält, hat das Ineinanderschieben von Mythos und Wissenschaft eine besonders verzerrende Wirkung auf die Persönlichkeit der Gläubigen. Solange sich die Bewegungen des Unbewußten im Mythos in freier Anerkennung ihres Wesens zeigen dürfen, bewahrt sich die Seele des Menschen ihre Öffnung zum kosmischen Grund. Das Grauen vor einem unendlich überwältigenden, aber auch die Gewißheit eines unendlich umklammernden Jenseits, als Matrix einer vereinzelten, individuellen Existenz, verleiht der Seele ihre mehr-als-menschliche Dimension; und dadurch, daß sie die Wahrheit dieser Dimension akzeptiert (das heißt, durch Glauben) kann die Vereinzelung der menschlichen Existenz wiederum akzeptiert und ihre Endlichkeit und Begrenztheit toleriert werden. Die Akzeptanz des Mythos (oder auf der christlichen Ebene, die cognitio fidei) ist die Voraussetzung für ein realistisches Verständnis der Seele. Wenn das Gleichgewicht zwischen Offenheit und Vereinzelung durch das Ineinanderschieben von Mythos und Wissenschaft zerstört wird, werden die Kräfte des Unbewußten nicht in die Form des Mythos, sondern in die der Wissenschaftstheorie strömen. Die Symbole des Mythos entarten zu innerweltlichen illusorischen Gegenständen, die den kognitiven und aktiven Funktionen des Menschen wie empirische Daten „vorgegeben“ sind; zugleich erleidet das vereinzelte, individuelle Dasein eine illusionistische Aufblähung, weil es die mehr-als-menschliche Dimension in seine Form aufnimmt. Der Mensch wird anthropomorphisch – um eine Wendung Goethes zu benutzen. Die Symbole des Mythos werden in Realitäten und Zwecke anthropomorphischer Menschen übersetzt: Die Natur des Menschen sei grundsätzlich gut; die Quelle allen Übels sei in den Institutionen zu suchen; Organisation und Revolution könnten Abhilfe gegen die noch verbliebenen Übel schaffen; die Anlagen des Menschen befähigten ihn dazu, eine Gesellschaft hervorzubringen, die frei von Begierden und Ängsten sei; die Ideen der unbegrenzten Perfektibilität, des Übermenschen und der Selbsterlösung treten auf. 226ff
Schlechter Geschmack stellt sich mühelos ein, guter Geschmack hingegen erfordert Disziplin und Übung. Der kulturelle Niedergang Athens fand (wie der unsere) seinen widerlichsten Ausdruck in der zuvor erörterten „Theatrokratie“ (heutzutage nennt man sie „Kommerzialisierung“), also darin, daß einem der Geschmack des ungebildeten Pöbels als Maßstab aufgenötigt wird, nach dem sich Erfolg oder Scheitern auf der öffentlichen Bühne bemessen. 308
Solange man guten Gewissens glauben konnte, daß die Alternative zur geistigen Kontrolle und Durchsetzung eines Glaubensbekenntnisses die Freiheit des Geistes sein würde, war die Nächtliche Versammlung in der Tat eine finstere Angelegenheit. Doch Platon konnte diese Alternative nicht in Betracht ziehen, denn sein Erfahrungshorizont war von der Tyrannei des Pöbels und dem Mord an Sokrates erfüllt. Unser Horizont ist heute voll mit ähnlichen Erfahrungen. Wir haben gute Gründe zu bezweifeln, daß ein Vorhaben des platonischen Typs die Probleme unseres Zeitalters auf der pragmatischen Geschichtsebene lösen würde; doch haben wir uns auch von der Illusion verabschiedet, daß „Freiheit“ unweigerlich zu einem Gesellschaftszustand führen wird, der den Namen Ordnung verdient. 313
Ordnung und Geschichte, Bd. 7: Aristoteles
Wenn der Philosoph die geistige Ordnung der Seele erforscht, dann erforscht er einen Erfahrungsbereich, den er angemessen nur in einer Symbolsprache beschreiben kann, welche die Bewegung der Seele in Richtung auf transzendente Wirklichkeit und die Überflutung der Seele durch Transzendenz zum Ausdruck bringt. An der Grenze der Transzendenz muß die Sprache der philosophischen Anthropologie zur Sprache religiöser Symbolisierung werden. 123
Die immanentistischen Wahrheitsbesitzer der Moderne zögern nicht, ihren Segen jedermann zu gewähren, auch wenn es ihn nicht interessiert. Eine ähnliche Entwicklung zu politischem Idealismus und Chiliasmus hätte in der Logik der aristotelischen Metaphysik gelegen. Aber die spirituelle Sensibilität und der großartige Realismus bewahrten sowohl Platon wie Aristoteles vor der katastrophalen Entgleisung, durch welche die Politik der Neuzeit gekennzeichnet ist – obwohl wir in unserer Platonstudie Gelegenheit hatten, den kritischen Punkt zu markieren, an dem ein Zusammenbruch in eine theokratische Tyrannis drohte. 125
Der primäre Zweck der politischen Idee besteht darin, eine politische Einheit, das Kosmion ins Dasein zu rufen; ist dieser Zweck erfüllt, so ist das Kosmion eine reale soziale und politische Kraft in der Geschichte. 167
Die Hauptfunktion des politischen Kosmions besteht darin […], die existentielle Angst des Menschen dadurch zu besänftigen, daß es seiner Seele, durch die magische Evokation der Gemeinschaft, die Versicherung gibt, einen sinnvollen Platz in einem wohlgeordneten Kosmos zu haben. 167
Ordnung und Geschichte, Bd. 10: Auf der Suche nach Ordnung
Der Revoltierende, der sich der anoia schuldig macht, ist ein Mensch, der sich seiner Rolle als Partner in der Gemeinschaft des Seins nicht erinnert, der es fertig gebracht hat, das Bewußtsein von seinem Bewußtsein des suchenden Partizipierens am göttlichen JENSEITS, am Nous, zu verlieren, und der infolgedessen seine affirmative Partizipation in Selbstaffirmation transformieren kann. Der Mensch, der sich seiner Formung durch den göttlichen Nous widersetzt, deformiert sich selbst; er wird ein Tor. 54
Imaginatives Vergessen deformiert das Bewußtsein. Die Sprachverwirrung im Gefolge der sich über Jahrtausende erstreckenden Bewegungen ist ein charakteristisches Merkmal für eine Ordnungsstörung, die in der westlichen Gesellschaft der Gegenwart zur Dimension eines etablierten – im Sinn eines öffentlich anerkannten – Zustands von Unbewußtheit angewachsen ist, nicht zu vergessen die globale Expansion dieser Ordnungsstörung durch die Machtdynamik des westlichen Ökumenismus. Wenn wir aus diesem öffentlichen Unbewußten ausbrechen wollen, müssen wir es analysieren und dadurch ins Bewußtsein heben: Wir müssen die historischen Akte des Vergessens erinnern; um sie als Akte des Vergessens zu identifizieren, müssen wir dann den paradoxen Komplex von Bewußtsein-Realität-Sprache als das Kriterium von Erinnern und Vergessen erinnern; und um diesen paradoxen Komplex als das Kriterium von Wahrheit und Unwahrheit zu erkennen, müssen wir die Dimension der reflektiven Distanz differenzieren, die – in kompakter Form in Platons anamnesis impliziert – am Beginn allen noetischen Philosophierens steht. Nur wenn der Komplex von reflektiver Distanz-Erinnern-Vergessen hinreichend differenziert und artikuliert wird, ist es möglich, die Symbole, die im Verlauf der Geschichte entwickelt wurden, um die Phänomene des Vergessens zu beschreiben, aus ihrem historiographischen Grab der ‚Ideen‘, ‚Meinungen‘, ‚Glaubensüberzeugungen‘ zu retten und zu entscheiden, welche dieser Symbole in der gegenwärtigen Situation der Verwirrung noch verwendet werden können, und ihre legitime Funktion im noetischen Kontext wiederherzustellen. Dazu einige erinnernde Hinweise und Anregungen: (1) Die Bezeichnung anoia sollte wieder in Gebrauch genommen werden, weil sie ganz deutlich den Zustand der Vergessenheit als Deformation des noetischen Bewußtseins zum Ausdruck bringt. Die Übersetzung durch ,Un-Vernunft‘ oder ,Irrationalität‘ ist heute aus den vorher angegebenen Gründen unbrauchbar. […] (2) Die Bezeichnungen ‚Unordnung‘ oder ‚Störung‘ des Bewußtseins, die ich häufig verwende, sind die Wiedergabe von nosos oder nosema bei Aischylos und Platon sowie von Ciceros morbus animi, der ,Krankheit der Seele‘. Platons medizinische Ausdrucksweise wird ziemlich scharf, wenn er vor noetischer Krankhaftigkeit warnt. Im Gorgias (480b) spricht er von dem nosema tes adikias, von der Krankheit der Ungerechtigkeit, die zu einem unheilbaren Krebsgeschwür der Seele (hypoulon kai aniaton) werden kann, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird. In den Nomoi (716a) kann ein Mensch es soweit kommen lassen, daß seine Seele sich entzündet (phlegetai) bis zu einem Zustand selbstüberheblicher Aufgeblasenheit (exartheis) durch Hoffart, Stolz auf Reichtum oder sozialen Status oder auf körperliche Schönheit, oder auf Grund jugendlicher Leidenschaftlichkeit, ein Zustand, in dem er glaubt, er bedürfe nicht länger der Führung, sondern sei fähig, andere zu führen, und infolgedessen sich selbst und die Gesellschaft zugrunde richtet. 56f
Die Rede von ‚Krankheit‘ und ‚Unordnung‘ hat jedoch ihre solide Grundlage in der existentiellen Exegese der hellenischen Tragiker und Historiker, von denen die persönliche und soziale Unordnung ihrer Zeit als eine Störung des Bewußtseins erfahren wurde, und in der Exegese Platons, der seine Philosophie als ein therapeutisches Überreden verstand, als eine Rettungsanstrengung, welche die pneumatische und noetische Unordnung der Seele heilen sollte. 58
Die Wahrheit der Suche ist nicht eine wahre Lehre, die sich aus einer intentionalistischen Untersuchung von Gegenständen ergibt, sondern ein Balancezustand der Existenz, der sich in reflektiver Distanz zu dem Prozeß des meditativen Wanderns durch die paradoxe Vielfalt der Spannungen herausbildet. Die Zerstückelung des Prozesses in seine anamnetischen Schritte würde nichts als dogmatische Deformationen der Realität ergeben, so wie die eben verworfene Annahme. Nur der die Einzelschritte umfassende Prozeß, wenn er in reflektive Distanz gerückt wird, läßt die Wahrheit der Existenz luminos werden, indem er die Symbole sich gegenseitig erhellen läßt. 120