Der bedeutendste Kapitaltheoretiker seiner Zeit und Schüler Mengers.
EUGEN RITTER VON BÖHM-BAWERK (geb. 1851 in Wien, gest. 1914 in Kramsach)
Ausgewählte Werke:
- Positive Theorie des Kapitales. Kapital und Kapitalzins, 3. Auflage. Innsbruck: Vlg. der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1909 (1888)
- Macht oder ökonomisches Gesetz? Gesammelte Schriften von Eugen von Böhm-Bawerk, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Verlag Sauer & Auvermann, 1968
Positive Theorie des Kapitales
Einleitung
Zwar ist alles „Kapital“, das als Produktionswerkzeug dient, auch fähig, Kapitalzinsen zu tragen, aber nicht umgekehrt. Ein Wohnhaus, ein Mietgaul, eine zum Verleihen eingerichtete Romanbibliothek trägt dem Eigner Kapitalzinsen, ohne mit der Erzeugung neuer Güter irgend etwas zu tun zu haben. Umfaßt so der Kapitalbegriff der Einkommenslehre Objekte, die gar nicht Kapital im Produktionswesen sind, so zeigt dies allein schon an, daß das Zinsentragen nicht schlechtweg eine Äußerung der produktiven Kraft des Kapitales sein kann. Wir haben es hier und dort nicht mit einer treibenden Kraft zu tun, die nur ihre Wirkungen nach verschiedenen Seiten hin projiziert; nicht einmal mit zwei Erscheinungsgruppen, die miteinander so innig verwachsen wären, daß die Erklärung der einen voll und ganz durch die Erklärung der andern hindurch ginge: sondern es liegen zwei gesonderte Erscheinungsgebiete vor, in deren Mittelpunkt zwei/ unerheblich verschiedene Gegenstände stehen, die den Stoff für ebenso gesonderte wissenschaftliche Probleme bieten […]. 2f
I. Buch. Begriff und Wesen des Kapitales.
I. Abschnitt. Mensch und Natur. Die Grundverhältnisse der Sachgüterproduktion.
Die Menschen streben nach ihrem Glücke. […] Will man die Worte wechseln, so mag man statt „Streben nach dem Glücke“ auch „Streben nach Selbsterhaltung und Selbstentfaltung“, oder „Streben nach möglichster Lebensförderung“, oder ebenso gut endlich auch „Streben nach möglichst vollständiger Bedürfnisbefriedigung“/ sagen: denn die der nationalökonomischen Terminologie so geläufigen Ausdrücke Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung bedeuten im letzten Grunde nichts anderes, als einerseits das noch ungestillte Verlangen nach Versetzung in einen wünschenswerten oder wünschenswerteren Zustand, andererseits die erfolgreiche Herbeiführung eines solchen. 6f
Die tauglichen Befriedigungsmittel menschlicher Bedürfnisse, oder was dasselbe ist, die Ursachen wohltätiger Zustandsänderungen des Menschen nennen wir Güter. 7
II. Abschnitt. Das Wesen des Kapitales.[…] Weitläufigkeit des Weges, der zwischen dem Aufwand der eingeworfenen menschlichen Arbeit und der Entstehung des gewünschten Sachgutes liegt. Entweder nämlich werfen wir unsere Arbeit ganz knapp vor dem Ziele ein, in der Art, daß durch ihren Hinzutritt der Kreis der Entstehungsbedingungen des gewünschten Gutes sofort vollständig geschlossen wird und demnach auch die Entstehung des letzteren an den Aufwand der Arbeit sich unmittelbar anschließt. Oder wir schlagen absichtlich einen Umweg ein; in der Art, daß wir unsere Arbeit zunächst nur mit entfernteren Entstehungsursachen des Gutes mischen, aus dieser Mischung nicht schon das gewünschte Gut selbst, sondern erst eine nähere Entstehungsursache desselben gewinnen, die dann selbst wieder mit anderen passenden Stoffen und Kräften zusammengeführt/ werden muß, bis endlich – vielleicht erst nach mehreren oder vielen Zwischengliedern – das fertige Befriedigungsmittel daraus hervorgeht. 15f
Die Lehre, die aus diesen Beispielen übereinstimmend herauszulesen ist, ist deutlich. Sie lautet, daß es größeren Erfolg bringt, Gebrauchsgüter auf Umwegen als unmittelbar zu produzieren. Und zwar kann sich der größere Erfolg in zweierlei Gestalt zeigen; wo man ein Gebrauchsgut sowohl auf direktem als auf indirektem Wege hervorbringen kann, offenbart er sich darin, daß man auf dem indirekten Wege mit gleich viel Arbeit mehr Produkt oder das gleiche Produkt mit weniger Arbeit erlangen kann; außerdem aber offenbart er sich in der Gestalt, daß man gewisse Gebrauchsgüter überhaupt nur auf indirektem Wege herstellen kann: dieser ist so sehr der bessere, daß er oft der einzige Weg zum Ziele ist.
Daß das Einschlagen von Produktionsumwegen zu größeren Produktionserfolgen führt, ist einer der wichtigsten und grundlegendsten Sätze der gesamten Produktionstheorie. Es muß ausdrücklich ausgesprochen werden, daß seine Stütze die praktische Lebenserfahrung und nur diese ist. 18
Die Produktion, die kluge Umwege einschlägt, ist nichts anderes, als was die Nationalökonomen die kapitalistische1) Produktion nennen, sowie die Produktion, die geradeaus mit der nackten Faust auf das Ziel zugeht, die kapitallose Produktion darstellt. Das Kapital aber ist nichts anderes als der Inbegriff der Zwischenprodukte, die auf den einzelnen Etappen des ausholenden Umweges zur Entstehung kommen. 21
Der Ausdruck „kapitalistische Produktion“ steht in einem doppelten Sinn in Übung. Man bezeichnet damit sowohl eine Produktion, die sich der Hilfe von Kapitalsgegenständen (Rohstoffen, Werkzeugen, Maschinen u. dgl.) bedient; als auch eine Produktion, welche auf Rechnung und unter der Herrschaft von privaten Unternehmer-Kapitalisten vollzogen wird. Beides braucht sich keineswegs zu decken. Ich beziehe den Ausdruck immer auf die erste der beiden Bedeutungen. 21
II. Buch. Das Kapital als Produktionswerkzeug.
Der Nachteil, der mit der kapitalistischen Produktionsmethode verbunden ist, liegt in einem Opfer an Zeit. Die kapitalistischen Umwege sind ergiebig, aber zeitraubend; sie liefern mehr oder bessere Genußgüter, aber sie liefern sie erst in einem späteren Zeitpunkt. 149
Es mag nämlich ausnahmsweise wohl vorkommen, daß eine indirekte Produktionsmethode nicht bloß besser, sondern auch rascher ans Ziel führt. Wer z. B. Früchte von einem hohen Baume herunterholen will, wird damit wahrscheinlich früher zu Ende kommen, wenn er erst eine Stange von einem andern Baum abschneidet und mit ihr die Früchte herunterschlägt, als wenn er den Fruchtbaum erklettert und die Früchte einzeln mit der Hand zu brechen versucht. Aber dies ist nicht die Regel: in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle müssen wir die Produktionsumwege unter solchen technischen Bedingungen beschreiten, daß wir eine Zeit lang und oft sehr lange Zeit auf die Erlangung der genußreifen Schlußprodukte warten müssen. Statt dafür Beispiele zu geben, die sich jedem Leser von selbst aufdrängen, will ich lieber darauf aufmerksam machen, daß in dem Zeitverlust, der mit den kapitalistischen Produktionsumwegen in der Regel verbunden ist, der einzige/ Grund jener vielbesprochenen und viel beklagten Abhängigkeit liegt, in der die Arbeiter gegenüber den Kapitalisten — anders steht es gegenüber den Grundeigentümern — sich befinden. Würden die ergiebigen kapitalistischen Umwege ebenso rasch von der Hand in den Mund führen, als die kunstlose direkte Produktion, so stünde ja gar nichts im Wege, daß die Arbeiter auf eigene Rechnung den Umweg von Anfang bis zu Ende durchführten: sie stünden dann allenfalls noch in Abhängigkeit von den Grundeigentümern, die ihnen den Zutritt zu den Bodennutzungen verwehren könnten, die sie zum Anfangen benötigen, aber ganz und gar nicht mehr von den Kapitalisten. Nur weil die Arbeiter nicht warten können, bis der von ihnen mit Rohstoffgewinnung und Werkzeugsbau begonnene Umwege seine reife Genußfrucht liefert, kommen sie in wirtschaftliche Abhängigkeit von denjenigen, die die genannten Zwischenprodukte schon im fertigen Zustand besitzen, von den „Kapitalisten“. 149f
Diejenige Produktionsmethode ist stärker kapitalistisch, welche den in ihr vollzogenen Aufwand an originären Produktivkräften durchschnittlich später lohnt. 157
Die Größe oder Kleinheit, die Verlängerung oder Verkürzung des Umweges ist nicht zu bemessen an der absoluten Dauer des Produktionsweges zwischen dem ersten und letzten aufgewendeten Arbeitsatom — sonst wäre vielleicht das Aufklopfen von Nüssen mit einem Hammer, dessen Eisen zufällig aus einem schon von den alten Römern aufgeschlossenen Bergwerk stammt, die „kapitalistischeste“ Produktionsweise —; auch nicht an der Zahl der selbständig benannten Zwischenglieder, über die der Produktionsprozeß hinführt — sonst wäre der Vogelfang eines Knaben, der mittelst der drei Zwischen/Produkte Rute, Leim, Leimrute noch am selben Tage, an dem er die Herstellung dieser Kapitalgüter begonnen, seine Vögel fängt und verspeist, kapitalistischer als die weitausholende Arbeit des Bergmannes, der Jahre auf die Aushebung eines einzigen Schachtes widmet —: sondern sie ist zu bemessen; an der durchschnittlichen Wegdauer, die zwischen dem sukzessiven Aufwand an Arbeit und Bodenkräften und der Erlangung des Genußnutzens liegt. 158f
Jedes Kapitalstück ist gewissermaßen ein Behältnis nutzbarer Naturkräfte, deren Leistungen den Produktionsumweg, in dessen Verlauf das Kapitalstück entstanden ist, fruchtbar vollenden helfen. Zwischenursache sage ich, und abermals nicht „Ursache“, Das Kapital gibt keinen selbständigen Anstoß, sondern pflanzt nur einen von originären Produktivkräften gegebenen Anstoß fort, sowie ein gestoßener Ball die Bewegung einem anderen mitteilt. — Man hat die Funktion des Kapitales wohl auch als ein „Einfangen von Naturkräften“ bezeichnet. 173
Noch richtiger wäre es eigentlich zu sagen, daß man Genußmittel braucht, um Produktionsumwege einschlagen zu können: sei es in der Form fertiger Genußmittelvorräte, sei es in ihrer Werdeform, in der Form von Zwischenprodukten. 175
IV. Abschnitt. Die Theorie der Kapitalbildung.
Mit Rücksicht auf die verschiedene Entfernung von der Genußreife gliedert sich die gesamte Kapitalmasse in eine Anzahl von Reife- oder Jahresklassen, die sich überaus zutreffend unter dem Bilde konzentrischer Jahresringe vorstellen lassen. Der äußerste weiteste Jahresring (Fig. l) umfaßt jene Kapitalteile, die innerhalb des nächsten Jahres in fertige Genußgüter übergeleitet werden, der nächst engere Ring jene Kapitalien, die im zweitnächsten Jahre zu Genußgütern ausreifen werden, der dritte Ring jene, die im dritten Jahre ausreifen u.s.f. Bei einem Volk, dessen Produktion noch schwach kapitalistisch ist, werden die inneren Ringe rasch zusammenschrumpfen (Fig. 2), weil hier weitausholende Produktionsumwege, die ihre Genußfrucht erst nach vielen Jahren bringen, nur selten und spärlich eingeschlagen werden. In reichen, wohlentwickelten Volkswirtschaften wird sich dagegen eine beträchtliche Anzahl ausgebildeter Jahresringe unterscheiden lassen, unter denen auch die inneren einen relativ kleineren, aber absolut nicht unbeträchtlichen Inhalt haben. […] Geradeso nämlich, wie der äußerste der konzentrischen Ringe den größten und die inneren Ringe einen allmählig abnehmenden Flächeninhalt besitzen, umfaßt auch die erste, der Produktionsvollendung nächste Reifeklasse naturgemäß jederzeit die stärkste Quote der Kapitalmasse 190
III. Buch. Wert und Preis.
I. Abschnitt. Der Wert.
Gewisse Gegenstände halten wir um ihrer selbst willen wert: sie besitzen, wie moderne Psychologen es nennen, Eigenwert; andere Gegenstände halten wir dagegen nur als Mittel für einen außerhalb ihrer liegenden Zweck wert: sie besitzen nur „Wirkungswert“. Der wirtschaftliche Wert gehört vollständig diesem letzteren Gebiete an. Wir schätzen und lieben — den Fall sinnlosen Geizes etwa ausgenommen — die Güter nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Förderung, die wir von ihnen für unsere Zwecke erwarten. Alle Güterschätzung ist nichts als ein Widerschein einer ursprünglicheren Schätzung, die wir den Lebens- und Wohlfahrtszwecken entgegenbringen, zu deren Erreichung die Güter uns dienen. 212
Die Gesetze zu erforschen, welche die Austauschverhältnisse der/ Güter beherrschen, würde zu allen Zeiten für eine der vornehmsten, und bisweilen — ich erinnere an den Vorschlag für unsere Disziplin den Namen „Katallaktik“, Tauschwissenschaft, in Gebrauch zu setzen — übertreibend sogar für die Hauptaufgabe unserer Wissenschaft gehalten. 215f[nennen wir …] diesen an der Grenze des ökonomisch zuläßigen stehenden kleinsten Nutzen nach dem Vorgange Wiesers1) kurz den wirtschaftlichen Grenznutzen 247
Die Aufteilung geht nunmehr/ in der Art vor sich, daß aus dem durch den Grenznutzen der gemeinsamen Verwendung bestimmten Gesamtwert der ganzen Gruppe zunächst den ersetzlichen Gliedern ihr fixer Wert vorweg zugeteilt, und der — je nach der Größe des Grenznutzens variable — Rest den nicht vertretbaren Gliedern als ihr Einzelwert zugerechnet wird. 282f
Die Quote aber, die auf die Mitwirkung des Kapitales entfällt, ist noch ganz und gar nicht der Kapitalzins — wie man bei ähnlichen Aufteilungstheorien seit Say unzählige Male mit fataler Voreiligkeit angenommen hat: sondern sie ist erst das Bruttohonorar für die Kapitalsmitwirkung, aus dem sich der Kapitalzins erst dadurch herausschält, daß und insoferne nach Abzug des Wertes der verbrauchten Kapitalsubstanz von jenem Bruttohonorar noch etwas übrig bleibt. 286
Noch wichtiger ist es aber hervorzuheben, daß zweitens auch dort, wo das Kostengesetz gilt, die Kosten nicht die endgiltige, sondern immer nur eine Zwischenursache des Güterwerts sind. In letzter Linie geben sie nicht ihren Produkten den Wert, sondern sie empfangen ihn von ihnen. 299
Ich habe niemals daran gedacht, die Motive der wirtschaftlichen Handlungen und demgemäß auch die Motivation der wirtschaftlichen Werturteile auf eine egoistische Berücksichtigung der eigenen Lust und Unlust einzuschränken. Ich habe vielmehr von allem Anfang an erklärt, in meiner Werttheorie das Wort „Wohlfahrtszwecke“ oder „unsere Wohlfahrt“ in einem Sinne zu verstehen, „in welchem es nicht bloß die egoistischen Interessen eines Subjektes, sondern alles umfaßt, was diesem erstrebenswert erscheint“, und zwar speziell nicht bloß die Wohlfahrt der eigenen Person, sondern auch die jener anderen Personen, auf welche wir unsere wirtschaftliche Vorsorge dauernd oder gelegentlich ausdehnen“. 313
Für die von mir vertretene Werttheorie ist es völlig belanglos, ob die psychologische Streitfrage für oder gegen den Hedonismus entschieden wird. Was die Leute lieben und hassen, anstreben oder abwehren, mit größerer oder geringerer Intensität anstreben oder abwehren, ob nur Lust und Unlust, oder auch andere „liebbare“ und „liebenswerte“, „haßbare“ und „hassenswerte“ Dinge, das ist für den Nationalökonomen und die Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes völlig gleichgiltig., Wichtig ist nur, daß sie irgend etwas lieben und hassen, mit größerer oder geringerer Intensität anstreben oder abwehren, wofür die Wirtschaft die Mittel bereitstellen soll, und daß von jenen höher oder niedriger gewerteten Wunschzielen die Wertung auf die wirtschaftlichen Durchführungsmittel abfärbt; wobei es die vornehmste Aufgäbe der wirtschaftlichen, Werttheorie ist, für alle im Leben vorkommenden Wechselfälle aufzuklären, mit welchen Wunschzielen von welchem Grade der ihnen zugewendeten Liebe und Wertung irgend ein Gut so verknüpft ist, daß die Wertung des Wunschzieles auf das Gut als dessen „Güterwert“ abfärbt. 317
Wären nämlich wirklich unsere Bedürfnisse völlig inkommensurabel, so wäre jedes Wirtschaften schlechterdings unmöglich. Denn das allgemein anerkannte Prinzip des Wirtschaftens liegt ja darin, den größten Nutzen mit den kleinsten Opfern anzustreben. Wie soll das aber geschehen, wenn wir nicht imstande sind zu beurteilen, welcher Nutzen der „größere und welcher der kleinere ist, oder ob irgend ein Nutzen vermöge seiner Größe das daran zu wendende Opfer aufwiegt? Und wie sollten wir dies beurteilen können, wenn es uns nicht möglich wäre, überhaupt unsere Bedürfnisse, Wünsche, Empfindungen aus einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu vergleichen, auf einen einheitlichen Nenner zu bringen und uns über ihre absolute und relative Intensität ein Urteil zu bilden? […] Wenn auch jede Art von Bedürfnisbefriedigungen uns eine andere Art von Lust gewährt, so hindert uns das gar nicht, uns über den Grad der Lust ein vergleichendes Urteil zu bilden. 332
IV. Buch. Der Kapitalzins.
I. Abschnitt. Gegenwart und Zukunft in der Wirtschaft.
Es ist eine im Grunde genommen banale, aber dennoch selten in ihrer ganzen Tragweite vorgestellte Wahrheit, daß wir eigentlich nur zum geringsten Teile für die Gegenwart, zum weit überwiegenden Teile für die Zukunft wirtschaften. 428f
Künftige Güter und Nutzleistungen sind uns eben […] durchaus geläufige Wirtschaftsobjekte, geradeso wie künftige Gefühle uns durchaus geläufige Wirtschaftsmotive sind. Beides hat seinen letzten Grund in der Kontinuität unserer Person, Was uns in einer Woche oder in einem Jahre widerfahren wird, trifft nicht weniger uns als was uns heute widerfährt, und hat darum auch gleiches Anrecht auf Berücksichtigung durch unsere Wirtschaft, die ja die Sorge für „unsere Wohlfahrt“ zum Ziele hat. […] Die Sorge für die Zukunft stellt eben nicht unbeträchtliche Anforderungen an die geistige und ein wenig auch an die moralische Kraft, welche Anforderungen von den Menschen nicht auf allen Stufen der Entwicklung gleichmäßig erfüllt werden. Die Gegenwart kommt immer zu ihrem Recht. Denn sie drängt sich durch die Sinne ein, die wir alle haben. Nach Nahrung zu schreien, wenn ihn schon hungert, das trifft auch der Säugling. Die Zukunft aber müssen wir uns erst vorstellen. […] Solche doppelte Vorstellungsarbeit für eine einigermaßen entfernte Zukunft klar und treu zu leisten, ist nun der Säugling gar nicht, das Kind und der Barbar nur ganz ungenügend im Stande. Die Zivilisation lehrt uns auch in dieser schwierigen Kunst Schritt für Schritt vorwärts kommen. 434f
Sehr häufig tritt indes bei der Wertschätzung künftiger Güter ein Element hinzu, das uns veranlaßt, dieselben etwas oder auch sehr bedeutend unter ihrem künftigen Grenznutzen zu schätzen, das aber, wir ich sofort hinzufügen will, mit der Entstehung der Zinserscheinung keinen Zusammenhang hat. Dieses Element ist die Unsicherheit. 435f
Ein erster Hauptgrund, der geeignet ist, eine Verschiedenheit im Werte gegenwärtiger und künftiger Güter herbeizuführen, liegt in der Verschiedenheit des Verhältnisses von Bedarf und Deckung in den verschiedenen Zeiträumen. […] Insbesondere ist es in folgenden zwei Hauptfällen typisch. Erstens in allen Fällen momentaner Bedrängnisse und Notlagen, und zweitens bei Personen, die mit Zuversicht einem wirtschaftlich aufsteigenden Lebenslauf entgegensehen. 440[Zweiter Grund:] Es ist zweitens eine der folgenschwersten Erfahrungstatsachen, daß wir künftigen Lust- und Leidempfindungen bloß deshalb weil sie künftige sind und in dem Maße als sie einer entlegeneren Zukunft angehören, eine geringere Würdigung entgegenbringen, und daher auch Gütern, die jenen zu dienen bestimmt ist, einen Wert beimessen, der hinter der wahren Intensität ihres künftigen Grenznutzens zurückbleibt. Wir unterschätzen systematisch unsere künftigen Bedürfnisse und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung dienen.
Die Tatsache besteht, darüber ist kein Zweifel: allerdings bei den einzelnen Nationen, Lebensaltern, Individuen in graduell äußerst verschiedenem Maße. Ganz kraß tritt sie uns bei Kindern und Wilden entgegen. Ihnen wiegt der kleinste Genuß, wenn er nur im Momente gepflückt werden kann, die größten und nachhaltigsten künftigen Vorteile auf. Wie mancher Indianerstamm hat in sinnloser Genußsucht für ein paar Fässer „Feuerwasser“ das Land seiner Väter, die Quelle seines Unterhalts, den Bleichgesichtern verkauft! 445
Ein erster Grund [für den zweiten Grund s.o.] scheint mir in der Lückenhaftigkeit der Vorstellungen zu liegen, die wir uns von unserem künftigen Bedürfnisstande bilden. Sei es daß unsere Vorstellungs- und Abstraktionskraft nicht stark genug ist, sei es, daß wir uns nicht die erforderliche Mühe geben wollen: wir bedenken unsere künftigen, und zumal unsere entlegenen künftigen Bedürfnisse mehr oder weniger unvollständig. 447
Während dieser Grund auf einen eigentlichen Schätzungsfehler hinausläuft, scheint mir ein zweiter Grund auf einem Willensfehler zu beruhen. Wie ich glaube, kommt es nämlich häufig vor, daß jemand, vor die Wahl zwischen einem gegenwärtigen und einem künftigen Genuß oder Leid gestellt sich für die geringere gegenwärtige Freude entscheidet, obwohl er genau weiß und im Moment der Wahl sogar ausdrücklich daran denkt, daß die Einbuße für die Zukunft die größere,. und daher seine Wahl für seine Wohlfahrt im Ganzen unvorteilhaft ist. […] Oder wie oft läßt man sich „aus Schwäche“ heute zu einem Schritt oder zu einer Zusage hinreißen, von der man schon im Momente weiß, daß man sie morgen bereuen wird! […] Ich wäre indes nicht überrascht, wenn die Psychologen auch den jetzigen Fall nur als eine Abart des ersten aufklären sollten: etwa in der Art, daß die augenblickliche schwächere Empfindung den Sieg über die künftige stärkere Empfindung doch nur deshalb davon trägt, weil die Vorstellung der letzteren zwar überhaupt vorhanden, aber nicht lebhaft und kräftig genug ist, um unsere Seele für sich einnehmen zu können. 447f
Endlich scheint mir noch als dritter Grund mitzuwirken die Rücksicht auf die Kürze und Unsicherheit unseres Lebens. Mag nämlich bei künftigen Gütern die objektive Erwerbung auch praktisch sicher sein, so ist es ja möglich, daß wir den Zeitpunkt ihres Eintritts nicht mehr erleben. […] Am unmittelbarsten und vollkräftigsten wirkt es in jenen nicht eben zahlreichen Fällen, in welchen den Menschen durch besondere Umstände der Gedanke an das Lebensende lebhaft vor die Seele gerückt ist; z.B. bei hochbetagten Greisen, gefährlich Erkrankten, bei Leuten, die in sehr gefährlichen Berufen oder Umständen sich befinden, Soldaten vor der Schlacht, in Pestzeiten u. dgl. Die Zurücksetzung der unsicheren Zukunft findet in solchen Fällen nicht selten ihren drastischen Ausdruck in einer tollen Verschwendungssucht, die sich der Leute bemächtigt: eine kulturhistorische Tatsache, die schon öfters, u.a. von Adam Smith bemerkt worden ist. 448f
daß in aller Regel gegenwärtige Güter aus technischen Gründen vorzüglichere Mittel für unsere Bedürfnisbefriedigung sind und uns daher auch einen höheren Grenznutzen verbürgen als künftige.
Die Verfügung über eine Summe gegenwärtiger Genußmittel deckt unsere Subsistenz in der laufenden Wirtschaftsperiode, macht dadurch unsere in eben dieser Periode verfügbaren Produktivmittel (Arbeit, Bodennutzungen, Kapitalgüter) für den technisch ergiebigeren Dienst der Zukunft frei, und verschafft uns aus ihnen das bei längeren Produktionsmethoden erzielbare reichlichere Produkt. Die Verfügung über eine Summe künftiger Genußgüter läßt dagegen natürlich die Gegenwart unversorgt, und läßt infolge dessen auch die Nötigung fortbestehen, unsere in der Gegenwart verfügbaren Produktivmittel ganz oder zum Teil auf den Dienst der Gegenwart zu richten, in welchem sie nur ein der Verkürzung des Produktionsprozesses entsprechend geringeres Produkt liefern können. Die Differenz beider Produkte ist der Vorteil, der sich an den Besitz der gegenwärtigen Genußgüter anknüpft.
Das Darlehen ist nichts anderes als ein echter und rechter Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter 486
Dieses Aufgeld ist der Zins, der somit auf das unmittelbarste der Wertdifferenz zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern entspringt. 487
Sehr selten endlich, und dann nie für gegenwärtige und künftige Güter im allgemeinen, sondern immer nur für eine einzelne spezielle Art von Gütern, liegen die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage so, daß künftige Güter einen höheren Preis als gegenwärtige derselben Art erzielen, daß man also ein Aufgeld auf gegenwärtige für künftige Güter bezahlen muß. Dies wird wohl nur bei solchen Gütern zutreffen, bei denen voraussichtlich die Bedarfs- und Deckungsverhältnisse in der Zukunft wesentlich ungünstiger als in der Gegenwart sein werden, und bei denen zugleich eine Aufbewahrung des gegenwärtigen reichlichen Vorrats bis in die einen höheren Wert verheißende Zukunft aus irgend einem persönlichen oder technischen Grunde nicht möglich ist. 500f
Wir wissen nun, daß der Unternehmer die Zukunftsware „Produktivmittel“ um eine hinter der Stückzahl ihres künftigen Erträgnisses zurückbleibende Stückzahl gegenwärtiger Güter erkauft. Wie kommt er nun zu seinem Kapitalgewinn? […] Seine Zukunftsware reift nämlich während des Fortschreitens der Produktion allmälig zur Gegenwartsware aus, und wächst damit in den Vollwert der Gegenwartsware hinein. 505
Sowie die Verhältnisse in der modernen Volkswirtschaft beschaffen sind, besitzen die Lohnarbeiter fast nie ausreichende Mittel, um ihre Arbeit selbst in mehrjähriger Produktion ausnützen zu können. Sie stehen also vor der Alternative, entweder ihre Arbeit zu verkaufen, oder sie auf eigene Rechnung in so kurz dauernden und unergiebigen Produktionsprozessen auszunützen, wie es ihnen eben ihre verfügbaren spärlichen Mittel gestatten. 518
Von den drei Momenten, die, wie wir wissen, überhaupt einen Wertvorzug der gegenwärtigen vor den künftigen Gütern begründen können, treten also für die Masse der Kapitalisten die beiden ersten nicht in Wirksamkeit. Dagegen kann hier das uns wohlbekannte dritte Moment wirksam werden: die technische Überlegenheit der gegenwärtigen Güter 521
Sondern Darlehensmarkt und Arbeitsmarkt sind zwei Märkte, auf denen nebeneinander dieselbe Ware feilgeboten und nachgefragt wird: nämlich gegenwärtige Güter. Auf beiden Märkten begehrt man Subsistenzmittel, um in längeren Produktionsperioden ergiebiger arbeiten zu können; nur begehrt man sie unter verschiedenen Nebenumständen. Der Lohnarbeiter gibt für die gegenwärtigen Güter, die er erhält, das unbestimmte künftige Produkt, das seine Arbeit erzeugen wird, in Bausch und Bogen hin; der Schuldner im Produktivkredit […] gibt dafür ein bestimmtes Quantum künftiger Produkte, und kann, wenn das faktische Produkt von diesem Quantum abweicht, Nutzen oder Schaden haben. 524
Einige wenige Vermögensbesitzer zehren ihren Vermögensstamm — aus Not oder aus Verschwendungssucht — selbst auf. Einige andere Vermögensbesitzer, die in kleinerem Maßstabe auf eigene Rechnung produzieren, versehen sich selbst mit dem nötigen Unterhaltsvorschuß für die Dauer ihrer Produktionsperiode. Alles übrige Vermögen aber — und das ist weitaus die größte Masse — wird in irgend einer Form als Angebot auf den großen Markt für Subsistenzvorschüsse gebracht. Entweder nämlich legt es der Besitzer in einer von ihm selbst betriebenen Unternehmung an, oder er leiht es an andere Personen aus. 525f
Wer braucht und begehrt Subsistenzvorschüsse? Jeder, der auf kapitalistischen Umwegen produzieren will. Wie viel Vorschuß bedarf er? — Im Verhältnis zur Länge seiner Produktionsperiode. Und unter welchen Modalitäten braucht er sie? — Ratenweise. Wer hat dagegen Subsistenzvorschüsse zu gewähren? — Alle Vermögensbesitzer, die ihr Vermögen nicht aufzehren, sondern „anlegen“. Wie viel können sie gewähren? — So viel, als der vorhandene Vermögensstock enthält. Und unter welchen Modalitäten können sie dies gewähren? — Ebenfalls nur ratenweise, in dem Verhältnis, als die im Vermögensstock enthaltenen unfertigen Güter sukzessive ausreifen. 537
Es stellt sich heraus, daß auf dem großen kombinierten Subsistenzmittelmarkt der Gesellschaft für Gegenwartsgüter ein Agio gegeben werden muß als organische Frucht der allezeit wirkenden Sachlage, daß gegenwärtige Güter nützlicher und begehrter sind als künftige, und daß gegenwärtige Güter nie in grenzenloser Fülle vorhanden und angeboten sind: dieses organisch notwendige Agio wird auf dem Darlehensmarkte unmittelbar in der Form des Zinses, auf dem Arbeitsmarkt in der Form eines Arbeitspreises gegeben, der hinter dem Betrag des künftigen Arbeitsproduktes zurückbleibt und demnach zum Hineinwachsen in einen Mehrwert Spielraum bietet. 545
die Grundrente ist geradezu nichts anderes als ein Spezialfall von Kapitalrente aus ausdauernden Gütern. 569
Was sind also die Kapitalisten für Leute? — Kurz gesagt, sie sind Händler, die Gegenwartsware feil haben. Sie sind glückliche Besitzer eines Güterstocks, den sie für ihre momentanen persönlichen Bedürfnisse nicht brauchen. Sie vertauschen ihn also in irgend einer Form gegen Zukunftsware und lassen diese in ihrer Hand wieder zu vollwertiger Gegenwartsware ausreifen. 572
Es läßt sich nämlich nicht leugnen, daß gerade beim Tausch von Gegenwarts- gegen Zukunftsware die Umstände häufig danach angetan sind, um eine Gefahr monopolistischer Ausbeutung der Besitzlosen nahezurücken. Gegenwärtige Güter braucht jeder absolut notwendig, um leben zu können. 574
Allein bisweilen schnürt irgend ein Umstand den Wettbewerb der Kapitalisten ein: und dann sind allerdings jene Besitzlosen, die ihr Schicksal auf einen vom Monopol beherrschten Teilmarkt angewiesen hat, ihrem Widerpart auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Daher der direkte Zinswucher, dessen Opfer arme Darlehenswerber nur zu oft werden, und daher die ausbeutend niedrigen Lohnsätze, die der Not der Arbeiter bisweilen in einzelnen Fabriken, bisweilen in einzelnen Produktionszweigen, und glücklicher Weise nur selten und unter besonders ungünstigen Umständen in ganzen Ländern aufgenötigt werden. 575
III. Abschnitt. Die Höhe des Kapitalzinses.
Die Höhe des Zinsfußes wird – innerhalb der bisher gemachten Voraussetzungen – begrenzt/ und bestimmt durch die Ergiebigkeit der letzten ökonomisch noch gestatteten, und der nächstfolgenden nicht mehr gestatteten Produktionsverlängerung; in der Art, daß diejenige Kapitaleinheit, mit deren Hilfe eine solche Verlängerung durchzuführen ist, immer weniger als das Mehrerträgnis der erstgenannten, und immer mehr als das Mehrerträgnis der letztgenannten Produktionsverlängerung an Zins tragen muß, wobei innerhalb dieser Grenzmarken eine noch engere Eingrenzung durch die ergänzenden Anforderungen stattfinden kann, welche von der Angebotseite aus für das Marktgleichgewicht aus dem Massen-Verhältnis des Subsistenzfondes zur Arbeiterzahl hervorgehen. 611f
Damit treffen wir fast bis auf das Wort genau mit dem berühmten Gesetze Thünen‘s zusammen, welches die Höhe des Zinsfußes abhängen läßt von der Ergiebigkeit des „zuletzt angelegten Kapitalteilchens“.
Ich wolle versuchen, für das Zinsproblem „eine Lösung zu finden, die nichts fingiert und nichts präsumiert, sondern schlicht und treu die Erscheinung des Kapitalzinses durch die Erscheinungen der Wertbildung hindurch aus den einfachsten natürlichen psychologischen Grundlagen unserer Wirtschaft abzuleiten strebt. 651
Böhm-Bawerk, Eugen, Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Gesammelte Schriften von Eugen von Böhm-Bawerk, Verlag Sauer & Auvermann, Frankfurt a.M. 1968, Band 1
Mehr vor allem schon deshalb, weil die Arbeit ein sogenanntes komplementäres Gut ist; ein Gut, das man selbst nicht nutzen kann, ohne über die zugehörigen anderen komplementären Güter – die zu bearbeitenden Roh- und Hilfsstoffe, die zugehörigen Werkzeuge, Maschinen u. dgl. – zu verfügen, und ohne das vice versa auch diese anderen komplementären Güter nicht genutzt werden können. Wenn nur ein Kopf von hundert Köpfen aus der kompletten Betriebsorganisation wegfällt, so wird die Ausnützung der komplementären Faktoren in der Regel nur wenig gestört werden: (…) S. 259f
Das völlige Verschwinden des Kapitalzinses aus der Volkswirtschaft halte ich – außer dem fast undenkbaren und jedenfalls hier nicht in Betracht kommenden Falle einer alle Grenzen des Begehrs übersteigenden Anhäufung von Kapital – für unmöglich. Auf der einen Seite würde der Wegfall der „Ersparungsprämie“, welche im Zinse liegt, jenen höchst bedeutenden Teil der kapitalbindenden Ersparung mit in Wegfall bringen, welcher nur um des Zinses willen gemacht wird. Allerdings wird dafür vielleicht der als „Notpfennig“ gedachte Teil der Ersparungen, der den erwerblosen Lebensabend versorgen soll, rationell etwas größer ausgemessen werden müssen, falls die Versorgung in Ermanglung jeder Zubuße von Zinsen ganz und gar aus zurückgelegtem Kapital allein bestritten werden soll. Aber in der Bilanz wird nach allgemeiner Ansicht doch wohl ein erheblicher Ausfall im Kapitalbestand resultieren, und die zu gewärtigende Verminderung des Kapitalangebotes würde jedenfalls einen starken Druck in entgegengesetzter Richtung, in der Richtung auf ein Wiederansteigen und nicht auf ein bleibendes Schwinden des Kapitalzinses üben. S. 279
Es kommt mir gewiß nicht in den Sinn, die Vorstellung von im Wirtschaftsleben waltenden „reinen Naturgesetzen“ wieder beleben und mit ihr gegen den Glauben an eine Wirksamkeit von Machteinflüssen ankämpfen zu wollen. Im Gegenteile, ich glaube an eine Wirksamkeit, und zwar auch an eine bedeutungsvolle und tiefgreifende Wirksamkeit der Machteinflüsse; ich glaube nur nicht an ihre Omnipotenz; und da ferner ihre genauere Analyse mich darüber belehrt hat, daß diese ökonomischen Machteinflüsse selbst durch wirtschaftliche Interessenmotive hindurch wirken, darf ich die Augen nicht dagegen verschließen, daß die durch Machteinflüsse geschaffenen Situationen unter auch ihrerseits wieder Interessenmotive auslösen können, die dem unveränderten Beharren bei jenen Situationen entgegenstreben. Wenn durch das Interessenmotiv der Wahl des „kleineren Übels“ der Unternehmer dazu bestimmt worden ist, in eine ihm abgeheischte Lohnerhöhung zu willigen, so treibt ein analoges Interessenmotiv ihn nunmehr an, die Kombination von Produktionsfaktoren, mittels welcher er seine Produkte herstellen kann und will, zu revidieren. S. 292
Durch künstliche Machtmittel können jedenfalls temporär energische und tiefgreifende, auch sehr tiefgreifende Wirkungen erzielt werden. Unter Umständen kann diesen Wirkungen aber auch bleibende Dauer beschieden sein: vor allem dann, wenn durch sie nur eine entgegengesetzte künstliche Machtwirkung zu brechen war, die vorher die Verteilungslinie nach der entgegengesetzten Richtung von ihrer „natürlichen“ Lage abgebogen hatte; also wenn z. B. im Streik die Erhöhung des Arbeitslohnes, den vorher die Unternehmer durch Ausnützung ihrer monopolartigen Machtstellung unter der Höhe des Grenzproduktes zurückgehalten hatten, bis auf die Höhe des Grenzproduktes erzwungen wird. Ferner dann, wenn der nachfolgende Gang der spontanen wirtschaftlichen Entwicklung die anfangs künstlich erzwungene Verteilungslinie nachträglich zur „natürlichen“ macht: dann bedeutet der künstliche Eingriff gewissermaßen die zeitliche Vorausnahme eines Ergebnisses, das ohne ihn ebenfalls, aber später gekommen wäre. Endlich dann, wenn bei dem durch den momentanen Erfolg der Machtwirkung bedrängten Teil durch eben diese Bedrängnis Anstrengungen und Erfolge ausgelöst werden, die die wirtschaftliche Lage so glücklich verschieben, daß der anfangs bedrückende Verteilungsschlüssel für die glücklich verbesserte Lage wieder zum „natürlichen“ wird. Dieser Fall, der freilich nie die Regel bilden und auf dessen Eintritt gewiß nicht mit Zuversicht gerechnet werden kann, stellt die für den Erfolg von Machtdiktaten denkbar günstigste, weitreichendste Kombination dar: denn in diesem Falle – und wohl nur in diesem Falle – kann in einem gewissen Sinne mit Recht gesagt werden, daß nicht nur der erste Eintritt, sondern auch die bleibende Dauer einer über die natürliche Verteilungslinie emporgehobene Verteilungsquote durch den Machtanstoß – wenigstens indirekt – verursacht war.
Außerhalb der hier aufgezählten Spezialfälle kann dagegen, wie ich glaube, ein künstlicher Eingriff seiner Wirkung keine Dauer verleihen gegen die leise und langsam, aber unablässig und durch diese Unablässigkeit schließlich siegreich wirkenden Gegenkräfte „rein wirtschaftlicher Natur“, die durch den künstlichen Anstoß und die durch ihn gesetzte neue Sachlage ausgelöst werden.
Und noch eines kann, wie ich genügend anschaulich gemacht zu haben hoffe, auch das gebieterischeste Machdiktat nicht: es kann nicht gegen, sondern nur innerhalb der ökonomischen Wert-, Preis- und Verteilungsgesetze wirken, sie nicht aufhebend, sondern bestätigend und erfüllend. Und dies ist vielleicht zugleich das wichtigste und das sicherste Ergebnis der hier skizzierten Gedanken. S. 294f
Und so unterliegt ein Großteil der starken und dauernden Lohnbewegungen der letzten Generationen ungezwungen der in meinem Schema vorausgesehenen gemischten Erklärung: sie setzten ein als Zwangswirkungen von Arbeiterkoalitionen und Streiks; und sie konnten sich, ohne rückläufig zu werden, erhalten, weil der gewaltige Strom der Zeit immer neue fruchtbare technische Erfindungen, immer verbesserte Gelegenheiten, die menschliche Arbeit nutzbar zu machen, und, bei einer gar nicht geringen Zunahme der Bevölkerung, ein noch weit stärkeres Wachstum des Kapitals brachte.
Wie es aber geworden wäre oder wie es werden würde, wenn die Streiksiege statt in einer Glanzzeit des stürmischensten Fortschrittes – eines so stürmenden Fortschritts, daß viele durch ihn geblendete Enthusiasten allen Ernstes auch an den ehernen Grundlagen des Malthusschen Gesetzes zweifeln zu dürfen glauben! – in einer Periode des Stillstandes oder auch nur einer mäßigen, langsamen Vorwärtsbewegung gefallen wären, darüber haben wir keine Probe! S. 296f