Die empirisch gefundenen existentiellen Zwecke des Menschen begründen die Sittlichkeit und das Recht im Denken des wichtigsten Naturrechtsphilosophen und Vertreters der Wiener Schule der Naturrechtsethik.
Johannes Messner (* 1891 in Schwaz, Tirol; 1984 in Wien)
Ausgewähltes Werk:
Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Berlin: Duncker & Humblot, 1984 [1949]
Die Natur des Menschen
Gegenstand der Wissenschaft vom Naturrecht ist die gesellschaftliche Ordnung als Inbegriff von Rechten und Rechtspflichten in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Beziehungen bestehen zwischen Einzelmenschen, zwischen Einzelmenschen und Gesellschaftsgebilden, und zwischen Gesellschaftsgebilden. 23
Zweifellos mag die Gesellschaftslehre mit der Erforschung der Gesellschaft als Ganzem beginnen, wenn sie darangeht, ihre Natur zu ergründen, die Gesetze ihres Seins, ihres Lebens und ihrer Tätigkeit aufzufinden. Je weiter sie jedoch in ihrer Untersuchung fortschreitet und zum Seinsgrund der Gesellschaft vordringt, um so mehr wird sie sich der Frage gegenübersehen, worin die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht und worauf sie beruht. Die Gesellschaftslehre wird dann finden, daß alles gesellschaftliche Sein an den Menschen hängt, die die Gesellschaft bilden. Und wenn sie nach den Kräften des Lebens und Wirkens der Gesellschaft forscht, dann wird die Gesellschaftslehre wieder auf die Menschen stoßen, die in der Gesellschaft zusammengeschlossen letztlich wirken und handeln. Wenn die Gesellschaftslehre schließlich nach den Rechten und Funktionen der Gesellschaft fragt, wird sie sich vor den Eigeninteressen und den Eigenrechten der Menschen sehen. Allen diesen sich der Gesellschaftslehre aufnötigenden Fragen kann sie nur genügen mit einer Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? 23
Das Naturgesetz
Die Natur der Dinge erkennen wir aus ihren Wirkweisen. Die einzelnen Wissenschaften gehen bei der Erforschung der leblosen Natur und der Naturgesetze von der Beobachtung der Kräfte aus, die in ihnen wirksam sind, so von den Verhaltensweisen der Lebewesen, namentlich denen gegenüber ihrer Umwelt. Bei der Erhebung der Natur des Menschen und der ihr wesenseigenen Gesetze des Verhaltens kann der Weg kein anderer sein. Wir müssen daher die Kräfte, Triebe und Antriebe untersuchen, die wir im Menschen am Werke finden. Auf den ersten Blick werden sich der Beobachtung darbieten: der Trieb zur Selbsterhaltung, der Nahrungstrieb, der Trieb nach Unterhaltssicherung, der Vorsorge für die Zukunft, der Geschlechtstrieb, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, der Trieb zum Familienleben, der Trieb zur Gesellung, derTrieb nach Erweiterung von Erfahrung und Wissen, der Trieb nach dem Schönen, das Verlangen nach Achtung von seiten anderer, der Trieb nach einem geordneten Verhältnis zum höchsten Wesen, alle anderen Triebzwecke einbeziehend der Glückstrieb. 33
Einige dieser Triebe sind dem Menschen mit dem Tiere gemeinsam. Trotzdem springt ein Unterschied sofort ins Auge: Der Mensch vermag sich seiner Triebe bewußt zu werden und den Zusammenhang zwischen seinen Trieben und den ihnen innewohnenden Zwecken zu erfassen. Zum Unterschied vom Tier ist sich der Mensch bewußt, daß der Nahrungstrieb der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des Individuums dient. Er ist sich weiters bewußt, daß es, wenigstens teilweise, von ihm, seiner Selbstbestimmung, abhängt, ob und wie weit er in seiner Triebbefriedigung jenen Zwecken entspricht, z. B. ob er bei der Befriedigung seines Nahrungstriebes jenes rechte Maß einhält, daß er dessen Zweck nicht durch zuwenig oder zuviel vereitelt. Er weiß aber außerdem mit gleicher Sicherheit, daß es nicht ganz seiner Willkür überlassen ist, wie er sich in dieser Hinsicht verhält, sondern daß es seiner Vernunftnatur gemäß nur geschieht bei Einhaltung des rechten Maßes, während er durch ein Übermaß an Essen und Trinken, das ihn in der Erfüllung seiner Aufgaben oder im Gebrauch seiner Vernunft behindert, im Widerspruch zu der ihm mit der Vernunftnatur auferlegten Verantwortung menschenunwürdig, „untermenschlich“ handelt. Er ist sich weiters eines inneren Antriebes, der Nötigung durch die Pflicht, zum Verhalten im Einklang mit dieser Verantwortung bewußt. Und schließlich erkennt der Mensch sofort den anderen Menschen als solchen mit der gleichen Vernunftnatur und erkennt damit bestimmte von ihm selbst geforderte Verhaltensweisen gegen den andern wie auch des andern gegen ihn selbst. 34
Dieser vorläufige Aufriß unseres Problems, […] zeigt, daß es jene Fragen umschließt, die aus der menschlichen Erfahrung hinsichtlich des sittlichen Bewußtseins und der sittlichen Ordnung entspringen. Tatsächlich stimmen alle Systeme der Ethik darin überein, daß das Wissen um Gut und Böse, das Bewußtsein der Pflicht und der Verantwortung, das Gewissen, die sittlichen Erfahrungsgegebenheiten sind. In der Erklärung des Ursprungs, des Wesens und des Verpflichtungsgrundes des Sittlichen gehen die verschiedenen Systeme jedoch weit auseinander. In unserer Erörterung der Grundprobleme der Ethik werden wir in der Hauptsache der Denklinie folgen, die auf Plato und Aristoteles zurückgeht, von Augustin und Thomas v. Aq. weiter entwickelt wurde, einen zweiten Höhepunkt mit den großen Spaniern des 16. und 17. Jahrhunderts, vor allem Franz v. Vitoria und Suarez, erreichte und seither in ununterbrochener Tradition fortgeführt wurde: der traditionellen Naturrechtsethik. 35
Das sittlich Gute
Die Grundtatsache der sittlichen Erfahrung, von der eine jede Ethik ausgeht, ist des Menschen Wissen um Gut und Böse. Bei Vollgebrauch der Vernunft weiß der Mensch, daß Mutter oder Bruder zu ermorden, um in den Besitz ihrer Habe zu kommen, böse ist, und daß er es daher nicht tun darf. Der damit für das menschliche Bewußtsein verknüpfte allgemeine Imperativ „Meide das Böse, tue das Gute“ wendet sich an den Menschen nicht bedingungsweise, sondern als unbedingte Forderung. Er sagt nicht: Tue das Gute, wenn du von anderen geachtet sein oder einen Vorteil erzielen willst. Der in Frage stehende Imperativ befiehlt: Töte nicht, obwohl du auf die Habe von Mutter oder Bruder verzichten mußt, die dir zur Versuchung wird, und obwohl auf dich kein Verdacht fallen würde. Es ist das Gewissen, kraft dessen jedermann vom sittlichen Imperativ weiß. Die bei allen Völkern in Kraft stehenden Systeme sittlicher Normen, vom Tabu bis zu dem der fortgeschrittenen Gesellschaften, lassen keinen Zweifel über die Allgemeinheit des Bewußtseins von diesem Imperativ, der den einzelnen Vorschriften und Regeln dieser Systeme zugrunde liegt.
Wie über die Grunderfahrung des allgemeinsten Wissens um Gut und Böse herrscht bei allen Schulen der Ethik gleicherweise Übereinstimmung über einzelne mit diesem Wissen verbundene Grundprinzipien des spezifisch menschlichen Verhaltens, wie: Bewahre Mäßigung, verhalte dich menschenwürdig; tue anderen nicht, was du nicht willst, daß sie dir tun (goldene Regel); gib jedem das Seine (Gerechtigkeit); vergilt Gutes nicht mit Bösem (Dankbarkeit); halte das gegebene Wort (Treue); gehorche der rechtmäßigen Obrigkeit. Es sind die unmittelbar einsichtigen sittlichen Prinzipien. 36
Als Grundfragen, die alle großen Systeme der Ethik beschäftigen, ergeben sich dann drei: die Frage nach dem Grund, nach dem Wesen und nach dem Kriterium des Sittlichen. […] Der natürliche Weg für den Zugang zu diesen Fragen scheint sich bei Thomas v. Aq. zu finden. Das sittlich Gute, sagt er, kann nur eine Art des Guten seinem allgemeinen Begriff nach sein. Die Frage ist dann: Wann nennen wir Dinge gut und wann schlecht? Es scheint bemerkenswert, daß Vertreter einer der neuesten Hauptrichtungen der Philosophie, der „analytischen“, die vom allgemeinen Sprachgebrauch ausgeht und deren Vertreter sich common sense philosophers nennen, zur gleichen Ausgangsfragestellung zurückkehren. Gut kann man zunächst die Eignung eines Dinges für einen besonderen Zweck bezeichnen, so wenn wir von einem guten Pferde sprechen in Anbetracht seiner Eignung als Zugpferd oder seiner Gefügigkeit im Gegensatz zur Störrigkeit. Vor allem aber und schlechthin ist ein Pferd gut, wenn sein Organismus allseitig … richtig funktioniert. Das ist offensichtlich der Fall, wenn seine Natur die ihren wesenhaften Funktionen innewohnenden Zwecke erfüllt, z. B. die des Verdauungsapparates, des Sehens, des Hörens, des Nervensystems; widrigenfalls ist es in der einen oder anderen Hinsicht ein mit Mängeln behaftetes oder schlechtes Pferd. Wir nennen somit Dinge gut oder schlecht, je nachdem sie die Eignung zur Erfüllung der ihre Natur bestimmenden Funktionen besitzen. Das Gute schlechthin ist demnach die einem Dinge gemäße Vollkommenheit. Daher muß das spezifisch menschliche Gute, wie Aristoteles sagt, innerhalb des Bereiches der dem Menschen gemäßen „Vortrefflichkeit“ gesucht werden, oder wie Thomas im Anschluß an Aristoteles sich ausdrückt, im Bereiche der dem Menschen wesenhaften „Vollkommenheit“. Weil der Ausdruck „Vollkommenheit“ heute sehr oft im moralischen Sinn gebraucht wird, während er hier im ontologischen Sinn zu verstehen ist, verwenden wir lieber Ausdrücke wie die Vollwirklichkeit menschlichen Seins oder das vollmenschliche Sein. Demnach ist das Gute eine Seinsweise und daher eine Qualität von besonderer Art. 37f
Da die menschliche Natur zum Unterschied von der Tierwelt durch die Vernunft bestimmt ist, müssen wir die Voraussetzung für die ihr eigene „Vortrefflichkeit“, „Vollkommenheit“, Vollwirklichkeit, in der Vernunft suchen. Wäre das anders, dann müßte ein krüppelhafter Mensch als wesenhaft schlecht angesehen werden, eine Idee, der unser Bewußtsein mit einem scharfen Protest begegnet; ja wir wissen, daß in seiner Persönlichkeit das wesenhaft Menschliche viel voller verwirklicht sein kann als in einem ganz und gar Gesunden. Es ist die Vernunft, in der und durch die der Mensch Vollmensch ist gemäß den Forderungen der Vollwirklichkeit seiner Natur. 38
Wir fassen zusammen: Das arteigene oder spezifisch menschliche Verhalten ist das des Vernunftwesens; das vom Menschen durch die Vollwirklichkeit dieser seiner Natur geforderte Verhalten bestimmt sich nach den in den geistigen und körperlichen Trieben seiner Natur vorgezeichneten Zwecken, kurz, nach der Zweckrichtigkeit; weil durch seine Vernunfterkenntnis und seinen Vernunftwillen (Selbstbestimmung) bedingt, erhält für den Menschen das von der Vollwirklichkeit seiner Natur geforderte Verhalten das Wesen des Sittlichen. Demnach können wir definieren: Die Sittlichkeit besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken, oder kurz, in der „Triebrichtigkeit“. 41
Die existentiellen Zwecke
[…] da die in der Natur des Menschen mit ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecke, als von ihm in Selbstbestimmung (Freiheit) in den jeweils gegebenen Umständen zu verwirklichend, die Eigenart der menschlichen Existenz bedingend, können wir sie die „existentiellen Zwecke“ des Menschen nennen. Die „existentiellen Zwecke“ werden den Grundbegriff unserer Ethik bilden. Der Stellung des Zweckes in der traditionellen Naturrechtsethik zufolge eignet dieser ein teleologischer Wesenszug (wie auch […] ein eudämonistischer und […] ein intuitionistischer).Ein Überblick über die existentiellen Zwecke des Menschen scheint es klarzumachen, daß unsere Begriffsbestimmung der Sittlichkeit im Einklang steht mit der allgemeinsten und sichersten menschlichen Erfahrung. Wirkönnen diese Zwecke so umschreiben; die Selbsterhaltung einschließlich der körperlichen Unversehrtheit und der gesellschaftlichen Achtung (persönliche Ehre); die Selbstvervollkommnung des Menschen in physischer und geistiger Hinsicht (Persönlichkeitsentfaltung) einschließlich der Ausbildung seiner Fähigkeiten zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen sowie der Vorsorge für seine wirtschaftliche Wohlfahrt durch Sicherung des notwendigen Eigentums oder Einkommens; dieAusweitung der Erfahrung, des Wissens und der Aufnahmefähigkeit für die Werte des Schönen; die Fortpflanzung durch Paarung und die Erziehung der daraus entspringenden Kinder; die wohlwollende Anteilnahme an der geistigen und materiellen Wohlfahrt der Mitmenschen als gleichwertiger menschlicher Wesen; gesellschaftliche Verbindung zur Förderung des allgemeinen Nutzens, der in der Sicherung von Frieden und Ordnung sowie in der Ermöglichung des vollmenschlichen Seins für alle Glieder der Gesellschaft in verhältnismäßiger Anteilnahme an der ihr verfügbaren Güterfülle besteht; die Kenntnis und Verehrung Gottes und die endgültige Erfüllung der Bestimmung des Menschen durch die Vereinigung mit ihm.
Es besteht wohl kein Zweifel, daß eine solche Aufzählung der existentiellen Zwecke des Menschen, ausgenommen den letzten, allgemeine Zustimmung findet. Das beweist, daß das voll entwickelte sittliche Gewissen des Einzelmenschen selbst, wenn es sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigt, sich auf die existentiellen Zwecke verwiesen sieht, die es in der menschlichen Natur vorgezeichnet findet. Wir sehen darin einen Beweis von bedeutendem Gewicht dafür, daß unser Prinzip des Sittlichen der Wirklichkeit entspricht. 42f
Das Kriterium der Sittlichkeit
Das Kriterium (Erkenntnisgrund, Bestimmungsgrund) der Sittlichkeit […] muß ein Dreifaches leisten:
1. Es muß die Bestimmung der Verhaltensweisen ermöglichen, die an sich und daher immer böse sind und zugleich den Grund dafür ersichtlich machen, also die Antwort auf die Frage ermöglichen: Warum ist Lügen, Ehebruch, Selbstmord an sich und darum immer sittlich verwerflich?
2. Das Prinzip der Sittlichkeit muß im Bereich der nicht an sich bösen und daher immer verbotenen Verhaltensweisen das Urteil über die sittliche Beschaffenheit des jeweiligen Verhaltens, über die Mittel im Dienste von Zwecken ermöglichen, also darüber, was in der jeweiligen Situation geboten, erlaubt oder verboten ist.
3. Das Prinzip der Sittlichkeit muß ermöglichen, im Falle anscheinend widerstreitender sittlicher Forderungen (Gewissenskonflikt, Pflichtenkollision) eine Entscheidung über das rechte Verhalten zu treffen.
Das Kriterium der Sittlichkeit muß sich als Folgerung aus der Wesensbestimmung der Sittlichkeit ergeben. Diese hat sich uns erwiesen als das Verhalten des Menschen im Einklang mit den „existentiellen Zwecken“, nämlich als den Zwecken, die er in den seiner Natur wesenseigenen Trieben vorgezeichnet findet. Die existentiellen Zwecke bilden das Kriterium der Sittlichkeit. Weil Kriterium der Sittlichkeit, bilden sie auch das Kriterium des sittlichen Rechts: Rechte gründen sich auf sittliche Verantwortung, diese bestimmt sich nach den existentiellen Zwecken. Die aus der menschlichen Natur erhobenen existentiellen Zwecke sind solche des Menschen als Einzelwesen wie als Gesellschaftswesen, darnach bestimmen sich einzelmenschliche wie gesellschaftliche Rechte. Diese Sachverhalte bilden den Grund dafür, daß die Grundlegung der Naturrechtslehre durch die Ergründung des Wesens und des Kriteriums der Sittlichkeit zu erfolgen hatte.
Um zu leisten, was im vorhin umschriebenen Sinne seine Aufgabe ist, muß das Kriterium des Sittlichen ein objektives und konkretes sein. Ein objektives, vom bloß subjektiven Fühlen und Werten des Einzelmenschen unabhängiges, da es ja zur Beurteilung von Wahr und Falsch in seinem Urteil dienen soll; ein konkretes, nicht nur eine abstrakte formale Allgemeinheit enthaltend, die nichts über den Einzelfall zu sagen vermag. Unser Kriterium ist objektiv, weil seinsbestimmt, nämlich auf die menschliche Natur mit den ihr als solcher wesenseigenen Trieben bezogen, es ist konkret, weil sachbestimmt, nämlich auf die einzelnen in diesen Trieben vorgezeichneten Zwecke bezogen. 49
Objektiv gewonnen aus der Vollwirklichkeit der menschlichen Natur als Seinseinheit, weist unser Kriterium des Sittlichen den einzelnen existentiellen Zwecken ihren Platz in der ontologisch in der Seinsordnung der menschlichen Natur selbst sich abzeichnenden Ordnung der Zwecke zu. Daher ist auch die auf diese Zweckordnung begründete Wertordnung, entgegen manchen Behauptungen … keineswegs aus der Perspektive des christlichen Denkens begriffen, hat sie doch schon Aristoteles als solche gesehen, und zwar auf Grund der Stufung der Triebe in der Menschennatur. Beispielsweise: Die äußeren materiellen Dinge sind nicht Selbstzwecke, sondern Mittel für Zwecke anderer Seinsstufen, darunter vor allem im Dienste von Leben und Gesundheit; an diese sind andere Zwecke in großer Zahl geknüpft, so vor allem die Erhaltung von Familie und Heim; die Familie hinwiederum findet ihren übergeordneten Zweck in dem das vollmenschliche Sein, das „gute Leben“ (Aristoteles) ermöglichenden Gemeinwohl; alle die genannten Zwecke münden in den Endzweck des Besitzes des höchsten Gutes. Der Rang der Zwecke steigt so auf von den in äußeren, materiellen Gütern liegenden Zwecken über die des biologischen, weiters über die des gesellschaftlichen und geistigen zum allumfassenden sittlichen und religiösen Bereich. 49f
Von der Ontologie der Zweckordnung ist die Realisierung der Zweckeordnung wohl zu unterscheiden, von der ontologischen Seite der Zweckordnung die eigentlich ethische Seite. Bei der letzteren verpflichten die jeweils höheren Zwecke keineswegs unbedingt, und es verpflichten auch nicht alle Zwecke zu ihrer Verwirklichung. Denn für die Ordnung der Realisierung ist der jeweils „existentielle“ Charakter der Zwecke entscheidend: die Beziehung eines durch die Situation bedingten Verhaltens als jeweiliger Forderung der Vollwirklichkeit menschlichen Seins, des einzelmenschlichen und gesellschaftlichen. Eine Grundtatsache der menschlichen Existenz ist in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung: Die Verwirklichung des vollmenschlichen Seins geschieht nicht in einem einmaligen Akt […], sondern in einem das ganze Leben umspannenden fortdauernden Prozeß und deswegen je umstandsbedingt. Die Erkenntnis des in diesem Prozeß jeweils sittlich Geforderten ist durch die konkrete inhaltliche Bestimmtheit unseres Kriteriums ermöglicht, da es die durch die Zweckordnung als Einheit gestellten aber auch die im Prozeß ihrer Verwirklichung umstandsbedingten Forderungen (Imperative) erkennen läßt. Mit anderen Worten: Unser Kriterium ermöglicht, zu bestimmen, ob und wann einem in der Rangordnung niedrigeren Zwecke eine unmittelbare Dringlichkeit im Prozeß der Realisierung der Zweckordnung im ganzen zukommt, aber auch, wann und wieweit der endgültigen Verwirklichung existentieller Zwecke nicht vorgegriffen werden darf. Ein Beispiel: Es wäre verfehlt, wollte sich ein Familienvater den Dingen des Geistes widmen, die an sich einen höheren ontologischen Rang unter den Zwecken einnehmen, und dabei seine Familie ohne den nötigen Unterhalt lassen; denn für ihn, in seiner Situation, ist die Unterhaltsfürsorge für seine Familie existentieller Zweck im Prozeß der Realisierung der Zweckordnung in ihrer für sein vollmenschliches Sein bestimmenden Einheit.
Andererseits ist ein Mindestmaß geistiger Entwicklung die Bedingung für die Erreichung der Vollwirklichkeit menschlichen Seins des einzelnen durch Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Verantwortung, daher schon deshalb selbst ein existentieller Zweck höchsten Ranges; ein Mindestmaß von Möglichkeiten der geistigen Entwicklung für alle ist ein existentieller Zweck des menschlichen Verbundenseins in der Gesellschaft und daher verpflichtend für ihr Sozialsystem. Abgesehen von dieser doppelten Verpflichtung braucht jedoch der Einzelmensch als solcher keine besonderen Ziele im intellektuellen Bereich zu verfolgen, mit anderen Worten, er braucht darüber hinaus seinen Trieb nach intellektuellen Zwecken und Werten nicht zu pflegen. Aus den gleichen Gründen können einzelne Zwecke unter besonderen Umständen für die Vollwirklichkeit menschlichen Seins bedeutungslos werden, vielmehr eine bloß mittelbare Bedeutung erlangen (nämlich die eines freiwilligen oder aufgenötigten Verzichtes, der dann von unmittelbarer Bedeutung im Dienste anderer existentieller Zwecke sein kann). In diesem Sinne bedeutungslos kann für den Einsiedler die Ausübung eines Berufes in der Gesellschaft werden, desgleichen für jemanden die Ehe, der für höhere Zwecke frei sein und damit eine von solchen Zwecken bestimmte Form des vollwirklichen, als im besonderen Sinne vollkommenen menschlichen Seins erstreben will. 50f
Es ist die Umstandsbedingtheit der sittlichen Verpflichtungen (Situation: Voraussetzungen und Folgewirkungen von Verhaltensweisen), die zu widerstreitenden Urteilen über sittliche Verpflichtungen führt: Aus mangelhafter Einsicht in die Art und Bedeutung der Umstände ergeben sich scheinbar Gründe für entgegengesetzte Geltungsansprüche sittlicher Prinzipien. Unser Kriterium der Sittlichkeit ermöglicht die Ermittlung des wahren Geltungsanspruches in solchem Widerstreit von Pflichten, weil es mit der Begründung des sittlichen Verhaltens, also der Pflichten, auf die existentiellen Zwecke, den Geltungsanspruch der Einzelzwecke gleicherweise auf die Zweckordnung als solche wie auf den Prozeß ihrer Verwirklichung bezieht. Die wahre Pflicht kann jeweils nur eine sein, da in der seinsbestimmten Naturordnung die Zwecke sich nicht widerstreiten können, daher auch nicht in der situationsbedingten Seinswirklichkeit, weil in dieser nur die Naturordnung mit ihrer in sich einheitlichen Zweckordnung Geltungsansprüche begründen kann. Objektiv, d. h. in der voll verstandenen Wirklichkeit, besteht daher ein Widerstreit von Pflichten (und Rechten) nicht, obwohl das subjektive Bewußtsein eines solchen Konfliktes oft schwer auf dem einzelmenschlichen Gewissen lasten kann. Ähnliches gilt in Fragen der gesellschaftlichen Ordnung. Konflikte in Fragen politischer und sozialer Art zwischen Gruppen und Staaten sind keineswegs immer nur interessenbedingt, sondern können wirkliche Gewissenskonflikte sein, die ihre Ursache in widerstreitenden, mehr oder weniger überzeugend begründeten Urteilen über Rechte und Pflichten haben. Gerade weil es sich aber um Rechte und Pflichten im Bereich der gesellschaftlichen Ordnung und daher immer um Fragen des Gemeinwohls und daher des sittlichen Gewissens handelt, wird die Sachlichkeit, nämlich das Bestreben nach sachlicher Auseinandersetzung, zur obersten sittlichen Verpflichtung in der Austragung solcher Konflikte. Ein Kriterium der Sittlichkeit und des Rechtes, wie das unsrige: die Zweckrichtigkeit in der Naturordnung selbst weist den Weg zum sachlich begründeten Urteil hinsichtlich der konkreten Forderungen der Naturordnung in der situationsbedingten gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit auch den Weg für die Entscheidung des Gewissens über widerstreitende Rechtsprinzipien und Rechtsansprüche in Fragen der gesellschaftlichen Ordnung. 54f
Der Begriff des Naturgesetzes
Der allgemeine wissenschaftliche Sprachgebrauch versteht unter Naturgesetzen die den Dingen oder Lebewesen kraft ihrer Natur innewohnenden beständigen Wirkweisen oder Verhaltensweisen. Der allgemeinste Begriff des Naturgesetzes braucht im menschlichen Bereich kein anderer zu sein: Es ist die der Vernunftnatur des Menschen innewohnende Wirkweise zur Herbeiführung des ihr gemäßen Verhaltens.
Entsprechend der ihn auszeichnenden Vernunftnatur wirkt das Naturgesetz im Menschen durch seine Vernunfterkenntnis und seinen Vernunftwillen. Der Vernunfterkenntnis fällt dabei eine doppelte Funktion zu: einerseits die Einsicht in die in sich selbst gewissen Prinzipien des sittlich Guten (Werteinsicht), andererseits die Einsicht in die seinsbedingte Zweckordnung und in die konkreten Forderungen ihrer umweltbedingten Verwirklichung (Sacheinsicht). Dem Vernunftwillen des Menschen fallen gleichfalls zwei Funktionen zu: einerseits die so erkannten Pflichten zu erfüllen (Gewissensgebot), andererseits sich bestimmen zu lassen von den seiner Natur innewohnenden Antrieben zum Streben nach dem vollmenschlichen Sein, wirksam in seinem Glückstrieb (Wertstreben). 55f
Nach dem Gesagten sind in der Wirkweise des Naturgesetzes die Werterfahrung und die Seinserfahrung, Prinzipieneinsicht und Seinseinsicht schon an der Wurzel unlöslich verbunden, somit das Naturgesetz nach seiner ontologisch-objektiven Seite so ursprünglich wirksam wie nach der psychologisch-subjektiven. Damit haben wir, wie mir scheint, einen höchst wichtigen Punkt in der Frage der Begriffsfassung des Naturgesetzes (und damit auch des Naturrechts) erreicht: Die sittlichen Prinzipien bzw. Werte werden von Anfang an nicht abstrakt und formal erfaßt, sondern nur in konkreter, gegenständlicher, inhaltlicher Bestimmtheit. Die Erkenntnis der Seinsordnung ist von Anfang an mit der der Vernunftordnung zuinnerst und unzertrennlich verbunden. Von Anfang an lernt die Vernunft die sittlichen Grundprinzipien bzw. Grundwerte seinsbezogen zu sehen, lernt das Gewissen sie als in der „Natur der Sache“ gelegen zu verstehen und so auch weiterhin anzuwenden. Alle die einfachen sittlichen (und rechtlichen) Prinzipien und Werte wie die des Maßhaltens, der Nächstenliebe („goldene Regel“), der Gerechtigkeit („jedem das Seine“), des Gehorsams, des Worthaltens, der Vertragstreue („pacta sunt servanda“), der Wahrhaftigkeit, werden zuerst in ihrer konkreten Geltungsweise im Leben der Familiengemeinschaft erfahren und dann in ihrem allgemeinen Gehalt erfaßt und zugleich in ihrer in sich gewissen Wahrheit und daher allgemeinen Gültigkeit eingesehen; in Verbindung mit dieser Einsicht wird das allgemeinste oberste Prinzip (das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden: der oberste sittliche Wert und sein verpflichtendes Wesen) gleichfalls als in sich gewiß (evident) und allgemein verpflichtend eingesehen. 57
Es muß immer wieder daran erinnert werden, wie klar Plato diese Tatsache gesehen hat mit seinem Hinweis, daß zunächst die sittliche Vernunft der Eltern und Erzieher im Kinde wirke, aber mit der Entfaltung des Vollgebrauches der eigenen Vernunft des Kindes diese an die Stelle der ersteren trete und mehr und mehr kraft eigener Einsicht in das, was gut und recht, was böse und unrecht ist, die sittlichen Entscheidungen treffe.
Diese Einsicht ist sicherlich nicht angeboren. Angeboren ist nur die Anlage dazu. Diese Einsicht ist auch nicht das Ergebnis eines eindringenden Nachdenkens (Reflexion), vielmehr kommt die Vernunft dazu vermittels der in der menschlichen Natur wirksamen Triebe. Der Grundtrieb des Menschen ist der Glückstrieb. In seiner Auswirkung, nämlich des Verlangens nach Befriedigung der verschiedenen Einzeltriebe mit ihren Triebneigungen, lernt der Mensch, daß nicht jede Triebbefriedigung dem von seiner Natur geforderten wahren Wohl entspricht. Mit der Erfahrung in der Befriedigung des Glückstriebes erwachsen so für die sich entwickelnde Vernunft des heranwachsenden Menschen die ersten Einsichten in die Seinsordnung der menschlichen Natur im allgemeinen. Er lernt sie in Verbindung mit seinen Erfahrungen in der Familiengemeinschaft. 59
Sein und Sollen
… „Sollen“ und „Sein“ [stehen] für diese [die Ethik] in wesenhaftem Zusammenhang .. Sie fallen nicht zusammen, sondern unterscheiden sich, wie sich das Erkennen der praktischen von dem der theoretischen Vernunft unterscheidet. Für die erstere enthält die erkannte Wahrheit auch die Erkenntnis des Imperativs, die über das bloße „Ist“ hinaus das „Sollen“ betrifft. Praktisches und theoretisches Urteil fallen demnach nicht zusammen; weil aber das erstere, wie wir uns ausdrückten, eine Forderung des vollmenschlichen Seins ausspricht, kann das Sollensurteil: du „sollst“ treu sein, auch als allgemeines Seinsurteil ausgesprochen werden: Treue „ist“ das der Menschennatur (Menschenwürde) gemäße Verhalten. Für alle ethischen Schulen, die diesen Zusammenhang von „Sollen“ und „Sein“ vernachlässigen oder bestreiten, kann die sittliche Wahrheit nur in einem „Glauben“ die letzte Begründung finden, was, obgleich in verschiedenen Weisen, die Eigenheit der Kantschen und ihr verwandten Ethik sowie der Humeschen älteren und ihr folgenden neueren Gefühlsethik ist. [Entgegen Kant gilt das Argument,] daß man in einer philosophisch-wissenschaftlichen Analyse nicht mit der Berufung auf Glauben allein überzeugen könne, d. h. im Falle Kants, nicht Postulate der praktischen Vernunft als notwendige Annahmen setzen darf, also nicht fordern darf, zu glauben, weil wir glauben müssen. Die Naturrechtsethik sieht sich dieser Schwierigkeit nicht gegenüber, weil sie die praktische Vernunft an die Erkenntnis der Menschennatur verweist, die Sache der theoretischen Vernunft ist. In anderer Weise als die Kantsche Vernunftethik führt die von Hume ausgehende Gefühlsethik das Sittliche auf Glaubensüberzeugungen zurück. Sie findet heute ihre Vertreter vor allem in dem der Humeschen Tradition folgenden logischen Positivismus. Nach diesem können wahr oder falsch nur Tatsachenurteile sein, daher beruhen Werturteile, also alle sittlichen Billigungs- und Mißbilligungsurteile, auf Glaubensannahmen. Tatsächlich beruht aber sein eigenes Wahrheitskriterium auf einer bloßen Glaubensannahme […], ganz abgesehen davon, daß die Bestreitung der sittlichen Wahrheitserkenntnis im Widerspruch steht zur gewissesten Überzeugung der ganzen Menschheit von der Wahrheit sittlicher Prinzipien, wie daß Lüge, Wortbruch, Mord usw. böse sind, und überhaupt von der Wahrheit des Unterschiedes von Gut und Böse im allgemeinen. 69
Unsere ontologische Analyse des Sittlichen zeigt, daß die Sollsätze ebensogut als Istsätze verstanden und ausgedrückt werden können: Das Sittliche ist das Naturrichtige, Naturentsprechende, das Naturgeforderte. Sofort würde allerdings von seiten des logischen Positivismus gesagt werden: Das Richtige, Entsprechende, Geforderte impliziert Sollsätze. Das ist indessen falsch, weil es auch kein Sollsatz ist, wenn ich sage, das Jagen von Mäusen ist für die Katze das Naturrichtige, Naturentsprechende. Das Naturrichtige und Naturgeforderte wird von uns in die Menschennatur nicht von Sollsätzen aus hineingelegt, sondern geht auf die Beobachtung der Wirkweise der Menschennatur in ihrer Grundsituation der Familie zurück: Das Sittliche ist das Verhalten, kraft dessen die Menschennatur zur Vollwirklichkeit wahrhaften Menschseins gelangt. Wieder: den Begriffen „Vollwirklichkeit“, „wahrhaftes Menschsein“ können vom logischen Positivismus nicht Sollsätze unterschoben werden, weil beide Begriffe aus der verifizierbaren Tatsachenwelt der menschlichen Existenzordnung gewonnen sind, in welcher der Mensch als Glied der Familiengemeinschaft auf Grund seines Glückstriebes, oder, was das Gleiche ist, seines Eigeninteresses zur Befriedigung seines Verlangens nach vollmenschlicher Existenz kommt. Daraus ergeben sich uns die für das zwischenmenschliche Verhalten maßgebenden Grundwerte oder Prinzipien. Wieder: „maßgebend“ ist nicht als sollensbestimmt angreifbar, weil die nach ihrer Vollwirklichkeit strebende Menschennatur selbst das Maß ist, genauso, wie wir die uns bekannte Vollwirklichkeit einer Pflanze als maßgebend für ihre Entwicklungsvoraussetzungen ansehen. Daß für den Menschen das Naturrichtige ein „Soll“ darstellt, beruht auf seiner Wahl- und Entschlußfreiheit, die ihm ermöglicht, in seinem Verhalten sich zu dem für ihn Naturrichtigen in Widerspruch zu setzen. Das hindert nicht, daß das Sittliche, ontologisch gesehen, für den Menschen das Naturrichtige und Naturentsprechende „ist“. 81f
Die Grundtatsache der Eudämonologie
Der menschliche Grundtrieb der Liebe ist immer auf ein Gut gerichtet, auf etwas, worin der Mensch etwas für sich Gutes, einen Wert, erblickt: er strebt notwendig nach Befriedigung seines Glückstriebes. Allgemein und für alle triebbestimmten Wesen bedeutet Glückserfüllung Trieberfüllung. Das der Natur des Menschen gemäße Gute, worin er die Vollwirklichkeit seines Seins erreicht, ist nicht anders zu bestimmen: Es besteht in der wesenhaften Trieberfüllung. Die Erzielung der Wirkweise der Triebe gemäß den ihnen innewohnenden Zwecken ist, wie gezeigt, Sache der seiner Vernunftanlage eigenen Selbstbestimmung und bildet das Wesen der Sittlichkeit. […]
Bekanntlich geht Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik von der unbestreitbaren Tatsache des Glücksstrebens des Menschen aus und stellt dann die Frage, was die wahren Glückswerte sind. Mit der Triebbefriedigung sind Gefühle desWohlseins verbunden, die man auch als Lustgefühle oder einfach als Lust bezeichnet. Wenn wir näher zusehen, finden wir, wie Aristoteles ausführt, daß es zwei verschiedene Arten von Lust gibt. Die eine ist verbunden mit dem Akt der Triebbefriedigung, wie z. B. die Geschmacksfreuden mit dem Essen; die andere ist verbunden mit der Erreichung des dem Triebe innewohnenden Zweckes, wie der Lebenskraft als Zweck des Essens. Jeder Mensch stellt das leibliche Wohlsein, den wesenhaften Zweck der Nahrungsaufnahme, über eine zur Krankheit führende Lust am Essen selbst, wenn er „sich nicht selbst vergißt“, d. h., wenn er nicht im Widerspruch zu seinem wesenhaften, seinem wahren Interesse handelt. So zeigt sich, daß Glückserfüllung nicht einfach mit Lust gleichbedeutend ist. Außerdem weiß jeder, daß die Befriedigung einzelner Triebe immer nur eine vorübergehende ist. „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“, mit diesen Worten spricht Nietzsche in seinem „Zarathustra“ (Das andere Tanzlied) die unzweifelhafteste menschliche Erfahrung aus. Es ist jedoch nicht die ganze Erfahrung. Nicht einmal die Ewigkeit einer begrenzten Glückseligkeit würde den Menschen befriedigen. Sie würde ihn nicht hinausheben über eine mehr oder weniger angenehme Ewigkeit der Langeweile. Jedermann weiß aus Erfahrung, wie Dinge, die ihm für sein Glück unerläßlich erschienen, mindestens teilweise ihre Anfangswirkung verloren, nachdem er sich eine Zeitlang ihres Besitzes erfreute. Daß sich außerdem die Aufnahmefähigkeit des Menschen für bloße Lustwerte erschöpft, in eine Tatsache, die schon Aristoteles feststellt.
Die Ewigkeit einer begrenzten Glückseligkeit würde, so sagten wir, den Menschen nicht befriedigen: Des Menschen Glückstrieb verlangt die ewige und unendliche Wirklichkeit des Guten. Warum? Die allgemeine Idee des Guten, dessen, was seinem Glückstrieb entspricht, befähigt ihn, die Begrenzung der einzelnen Güter nach Zeitdauer und Ausmaß der mit ihnen verbundenen Befriedigung des Glückstriebes zu erkennen, zugleich aber die Idee des nach Sein und Dauer unendlichen Vollguten zu fassen, des summum bonum. Da er diese Idee erfaßt, weiß er auch, daß dieses Vollgute allein seinen Glückstrieb voll befriedigen kann; und weiß weiter, daß sein Glückstrieb diesem Vollguten zustrebt. 82-84
Für die mit dem Glückstrieb des Menschen verbundenen beiden Fragen nach den wesenhaften Glückswerten und nach der Bedeutung der Lustwerte ergeben sich aus unserer Analyse folgende Antworten. Die erste: daß die Lustwerte, das zeitlich an den Akt der Triebbefriedigung gebundene Lustgefühl, wie Aristoteles hervorhebt, etwas Untergeordnetes, eine Begleiterscheinung ist im Vergleich zu den an die wesenhafte Triebbefriedigung gebundenen Glückswerten (d. i. den sittlichen und anderen Persönlichkeitswerten). Denn zweitens: Glückserfüllung ist für alle Wesen Erfüllung ihres auf die Verwirklichung des Vollwohles ihrer Natur angelegten Triebstrebens, auch für den Menschen besteht das Vollwohl in der Vollwirklichkeit seiner Natur, in der von ihren Triebzwecken geforderten Trieberfüllung. In der Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens mit seinen existentiellen Zwecken fanden wir das Wesen der Sittlichkeit. Die Seinserfüllung des Menschen, sein Vollwohl als Glückserfüllung, kann daher keine Wirklichkeit werden im Widerspruch zum Sittengesetz. Dieses schreibt daher dem Menschen das von seiner Natur selbst Geforderte vor. Das sittliche Naturgesetz ist das Gesetz seiner in ihrem Glückstrieb als Grundtrieb zu ihrer wesenhaften Selbsterfüllung drängenden Natur. Diese Betonung des ontologischen Sachverhaltes verhindert, daß der Eudämonologie, der Ethik als „Heilslehre“, notwendig ein egozentrisches oder egoistisches Wesen eigne. 85
Aus unserer Grundlegung der Ethik dürfte eindeutig zu ersehen sein, daß die Seins- und Glückserfüllung Folgewirkung der Sittlichkeit, nicht ihr Wesensgrund ist.
Es ist die Ausmünzung dieser Tatsachen der Eudämonologie in das Kleingeld einer kurzlebigen Wertwelt, die auch noch dem ethischen Utilitarismus mit seiner Behauptung, daß das letzte Motiv des sittlichen Handelns Nützlichkeit und Interesse seien, ein Wahrheitselement zu sichern vermag. Tatsächlich ist allerdings der Nutzenbegriff, der der Lehre von der Eudämonologie zugrunde liegt, nicht bezogen auf die subjektiven Lustwerte, wie sie die utilitaristische Ethik versteht, sondern auf die objektiven Glückswerte als Forderungen des Vollwohls der menschlichen Natur. Die traditionelle Naturrechtsethik hat seit Augustin und Thomas immer dem eudämonologischen Element seinen Platz in der Ethik angewiesen: sie hat Zweck und Funktion des Naturgesetzes ganz wesentlich auch im „Nutzen“ des Menschen gesucht und mit Betonung daran festgehalten, daß die „Glückseligkeit“ wesenhaftes, wenn auch zweitrangiges Ziel der Sittlichkeit und daß das bonum morale „das“ bonum hominis ist. 86
Sittlichkeit, so haben wir gefunden, ist das für den Menschen „Naturrichtige“ gemäß den ihm in seiner Natur vorgezeichneten „existentiellen Zwecken“. Das Sittliche ist das Naturrichtige, das von der Vollwirklichkeit der Natur des Menschen als Einzel- und Gesellschaftswesen Geforderte. […] Konkret ist demnach auf den einzelnen Gesellschafts- und Kulturgebieten das in der „Natur der Sache“ Gelegene das sittlich Richtige: das in der wesenhaften Wirklichkeit vorgezeichnete „sachlich“ Richtige. Die „Sachrichtigkeit“ in diesem Sinne ist daher das Kriterium für die Einrichtung der gesellschaftlichen Lebensordnungen.
Es liegt somit ein sehr wahrer Sinn in dem auf den ersten Blick paradoxen Satze: „Was wirtschaftlich richtig ist, ist sittlich gut“, während die Moralisten gewohnt sind, zu sagen, was sittlich verfehlt ist, kann nicht wirtschaftlich richtig sein. Und auf dem Gebiete der Politik ist der Satz: „Was politisch richtig ist, ist sittlich gut“ so wahr wie das Prinzip, daß nichts, was sittlich schlecht ist, politisch gut sein kann. In dem je ersten der beiden Sätze ist die Bedingung eingeschlossen, daß Wirtschaft und Politik aus den Forderungen der Vollwirklichkeit menschlichen Seins und nicht aus vorgefaßten ideologischen oder parteipolitischen Dogmen verstanden werden. Ein Sozialsystem, gesellschaftliche Institutionen, Formen des Privateigentums, des Kredites, der Technik, der Staatsregierung, der Erziehungseinrichtungen entsprechen demnach der sittlichen Ordnung, soweit sie vor den durch jene Vollwirklichkeit gestellten Forderungen bestehen können, d. h. letztlich vor den existentiellen Zwecken, dabei im besonderen vor dem die Verwirklichung aller anderen bedingenden Gemeinwohlzweck. 88
Die experimentelle Nachprüfung des Naturgesetzes
Ganz ähnlich [wie im naturwissenschaftlichen Experiment] kann auch die Wirkung eines Verhaltens, das im Einklang oder im Widerspruch zum sittlichen Naturgesetz steht, durch die Erfahrung nachgeprüft, „verifiziert“ werden.
Im einzelmenschlichen Leben vollzieht sich dieses Experiment unzählige Male vor unseren Augen. Freilich wird es nicht vom Ethiker ausgeführt, sondern jedermann stellt es selbst an. Unzählige Menschen suchen die Befriedigung des Glückstriebes im Bereiche bloßer Lustwerte unter Vernachlässigung der Persönlichkeitswerte, die im Seinsbereich der existentiellen Zwecke begründet sind. Die Folge ist die innerliche Verarmung: sie finden keinen wirklichen Sinn in ihrem Leben (gewiß sehr oft, ohne daß sie daran selbst schuld wären). Wohl wissen sie sich zu Zeiten ein lebhaftes Glücksgefühl zu sichern. Es ist aber nur das Glück der Selbstflucht. Eine große Anzahl von Zügen unserer Kultur stellt, so sagt uns die Kulturkritik, die Kehrseite der aus seiner inneren Leere stammenden Langeweile des modernen Menschen dar und entspringt seinem Versuch, das Leben durch die Flucht in Scheinwerte erträglich zu machen. Andererseits weiß jeder von der Tatsache, daß unzählige Männer und Frauen, ohne mit materiellen oder geistigen Gütern gesegnet zu sein, sich eine mit den überdauernden Werten reich erfüllte und darum wahrhaft menschliche Existenz zu sichern vermögen: eine zutiefst befriedigte Existenz, wenn sie auch voll ist von Opfern, ein Leben voll inneren Glücks, wenn auch ein hartes Leben. All das zeigt, daß das sittliche Naturgesetz die Probe der Erfahrung besteht. […]
Die Lehre, die sich unzweifelhaft aus den Katastrophen der beiden Weltkriege ergibt, ist, daß die die menschliche Gesellschaft in den letzten Generationen beherrschenden sittlichen Prinzipien, nämlich die des Individualismus und Kollektivismus, falsch sind. In der Tat, zweifelhaft ist nicht die Erfahrungstatsache der ungeheuerlichen Fehlentwicklung, zweifelhaft ist vielmehr, ob die Menschen aus der Erfahrung zu lernen bereit sind. Von der Seinswirklichkeit her gesehen, besteht der Hauptunterschied zwischen dem sittlichen und dem physischen Naturgesetz darin, daß im sittlichen Bereich der Selbstbehauptung des menschlichen Eigenwillens größere Wirkungsfreiheit eingeräumt ist. Hier führen Erfahrung und Experiment nicht schnell genug zu Wirkungen, die den menschlichen Hochmut der Lächerlichkeit preisgeben, wenn er auf ein selbstgemachtes Gesetz vertraut, wie es der Fall wäre, wenn jemand versuchte, entgegen den physikalischen Gesetzen ein Haus mit dem Giebel nach unten zu bauen. Schließlich aber kommt das Sittengesetz im Leben der Gesellschaft und in der Geschichte so unerbittlich zur Geltung wie das physische Naturgesetz. Das sittliche Naturgesetz ist das innerste Lebensgesetz der Völker und Kulturen. 90f
Das Naturgesetz als Vernunfteinsicht
Den Inhalt der unmittelbaren sittlichen Vernunfteinsicht, des natürlichen Gewissens, bilden die elementaren (primären, erstrangigen) sittlichen Prinzipien. Unter diesen sagt das oberste: Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden (oder: die rechte Ordnung einhalten im Sinne von Thomas’ rectitudinem servare, sich menschenwürdig verhalten im Sinne von Suarez’ honestum est faciendum). Sobald Erfahrung und Vernunftentfaltung dem Einzelmenschen das Erfassen des Begriffs- und Urteilssinnes ermöglichen, sind gleicherweise unmittelbar einsichtig folgende Prinzipien, betreffend seine Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zu Gott: halte Maß; gib jedem das Seine; tue anderen nicht, was du nicht willst, daß sie dir tun; bewahre das das gesellschaftliche Zusammenleben ermöglichende Verhalten; die Eltern sind zu achten; der rechtmäßigen Obrigkeit ist zu gehorchen; Verträge sind zu halten; Gott ist die gebührende Ehre zu erweisen. Unmittelbar einsichtig sind auch noch (sekundären, zweitrangigen) Prinzipien, die eine etwas weiter gehende Überlegung hinsichtlich der Natur des Menschen und der Ordnung des Gemeinschaftslebens voraussetzen, eine Überlegung, die sich schon der voller entwickelnden Vernunft des jungen Menschen mit der Ausweitung seiner Erfahrung aufdrängt. Es sind die sittlichen Wahrheiten, daß Diebstahl und Lüge, Ehebruch und Unzucht in sich böse sind. Dieser Bereich der sekundären Prinzipien bildet nach Thomas v. Aq. und Suarez den Inhalt des Dekalogs, ausgenommen das dritte Gebot, das positives göttliches Gesetz ist.
Anders als die erwähnten elementaren sind die angewandten (tertiären, drittrangigen) Prinzipien der Mehrheit der Menschen nicht unmittelbar einsichtig, vielmehr beruhen sie auf schlußfolgernder Anwendung der ersteren auf die jeweils besonderen Umstände zum Zweck der Erkenntnis der geforderten sittlichen Verhaltensweisen. 99
Das Recht
Das Recht ist … für das rechtswissenschaftliche wie auch für das sonstige Denken Ordnung des zweckbestimmten Verhaltens im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die einem zweckbestimmten Verhalten zugrunde liegenden Zwecke können vielfältiger Art sein. Eine Gruppe von Zwecken hebt sich dadurch heraus, daß sie auf Grund sittlicher Verantwortung anzustreben sind. Zwecke können, wie wir bei der Ermittlung des Seinsgrundes der Sittlichkeit ermittelt haben, in der menschlichen Natur vorgezeichnet, also existentielle Zwecke sein und begründen dann Verantwortlichkeiten. Es sind Zwecke, die zu erfüllen der Mensch sittlich verpflichtet ist. Verantwortung in einer Sache begründet kraft ihres sittlichen Wesens den Anspruch auf Achtung derselben durch einen jeden, der selbst auf Grund seiner Natur der Verantwortung fähig ist. Für jeden, für den existentielle Zwecke Verantwortlichkeit begründen, bedingen sie Ansprüche auf die Möglichkeit, ihnen genügen zu können, und zwar in erster Linie durch Ausschluß der Behinderung durch andere, mit anderen Worten: Zuständigkeiten zu einem Verhalten in Selbstbestimmung. Diese Zuständigkeiten sind Rechte.
Das Recht hat daher seinen Ursprung in den existentiellen Zwecken des Menschen. Rechtsträger sind Einzelpersonen und Gemeinschaftspersonen; denn das Gemeinwohl, das, wie wir zeigten, selbst ein existentieller menschlicher Zweck ist, begründet Verantwortlichkeiten der Gemeinschaft als solcher und weist ihr daher einen Bereich eigener Wirksamkeit kraft dieses Zweckes zu. In einem wahren Sinn ist somit, um ein berühmtes Wort von Ihering zu gebrauchen, der Zweck der Schöpfer des Rechts. Mit dieser Stellung desZweckes in der Begründung des Rechts […] eignet der traditionellen Naturrechtsethik ein teleologischer Wesenszug. 223f
Mit den existenziellen Zwecken ergibt sich uns der Begriff der Verantwortung als der die Ethik und die Rechtsphilosophie verbindende Begriff: die mit den existenziellen Zwecken auferlegte sittliche Verantwortung begründet die ursprünglichen einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Rechtsbefugnisse. Fragt man: „Verantwortlichkeit vor wem“, so ist zunächst zu denken an die Verantwortlichkeit des Menschen vor sich selbst in seiner Personwürde und Menschenwürde. Der Sprachgebrauch weiß sehr genau um diese Verantwortlichkeit, da er sagt, der Mensch ist sich bestimmte Verhaltungsweisen „schuldig“. […] Selbstverständlich besteht der letzte Grund der Verantwortung des Menschen in der Unausweichlichkeit der Rechenschaft vor seinem Schöpfer. 224
Es ist eine allgemein verbreitete Idee, daß das Sittengesetz eine Art göttlichen Diktates ist, das Gott unter Blitz und Donner verkündete, ein Joch, das er dem Nacken des Menschen auferlegte. Je mehr der Mensch fühlt, daß ein Teil seines Wesens gegen das Sittengesetz rebelliert, desto leichter fühlt er sich zu dieser Auffassung geneigt. Und sie wird bestärkt durch eine Ethik und Erziehung, die dem Sittengesetz eine vorwiegend oder ausschließlich theologische Begründung geben und den Eindruck erwecken, daß Gott das Sittengesetz dem von ihm geschaffenen Menschen durch eine willkürliche Entscheidung als unumschränkter Gesetzgeber vorgeschrieben hat. Tatsächlich steht jedoch solch eine Annahme im Widerspruch zur Offenbarungslehre über die Schöpfung und über die Art und Weise, wie der Schöpfer (causa prima) seinen Willen der Natur auferlegt […] 69f
Da es der Schöpfer ist, der diese Verantwortlichkeiten den Einzelmenschen und Gemeinschaften durch die in ihrer Natur vorgezeichneten Zwecke zuweist, hat das Recht seinen Ursprung letztlich in Gott. In diesem Sinne spricht man vom „natürlichen und göttlichen Recht“ als ein und derselben Sache. Eine solche Feststellung überschreitet nicht die Grenze der Rechtsphilosophie, solange das Recht nicht direkt aus dem göttlichen Willen abgeleitet wird. […] Nur wenn ein persönlicher Gott als Schöpfer und Gesetzgeber anerkannt wird, besitzt die „Macht des Rechtes“ ihre ganz bestimmte Geltung, sonst besteht kein zwingender Grund, warum nicht „das Recht der Macht“ auf die eine oder andere Weise die Herrschaft beanspruchen sollte. Die Heiligkeit des Rechts, von der wir zu sprechen gewohnt sind, hat keinen wirklichen Sinn ohne die Existenz eines persönlichen Gottes. 224f
Die Verwirklichung der existentiellen Zwecke des Menschen ist durch seine gesellschaftliche Verbundenheit bedingt: das war … das Ergebnis der Untersuchung der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen bei ihrem Streben nach dem Vollmenschentum. Wir fanden die gesellschaftliche Kooperation in der menschlichen Natur selbst vorgezeichnet, zugleich aber auch als einen der wichtigsten Zwecke dieser Kooperation die Sicherung der einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Bereiche der Eigenverantwortung und damit der Eigenzuständigkeit auf Grund existentieller Zwecke vor Übergriffen von außen. Diese Sicherung ist gegenüber Versuchen gewaltsamer Verletzung von Zuständigkeitsbereichen nur durch Gewalt möglich. Wir finden somit schon im Ursprunge des Rechts die Erzwingbarkeit damit verbunden. Wir können somit zusammenfassend sagen: Die Zwecke, die in der menschlichen Natur vorgezeichnet sind, begründen Verantwortlichkeiten für Einzelmenschen und Gemeinschaften und damit Ansprüche auf die ungehinderte Erfüllung dieser Verantwortlichkeiten sowie auf den Schutz dieser Ansprüche, wenn notwendig, durch Gewalt.
Im Rückblick auf das bisher Dargelegte ergibt sich uns ein allgemeinster Begriff vom Wesen des Rechts: Recht ist Ordnung der Zuständigkeiten zum Handeln in Selbstbestimmung. Das Recht besteht in verbürgten Zuständigkeiten im Sinne des vor Übergriffen durch andere gesicherten Bevollmächtigtseins, etwas zu tun, zu haben oder zu fordern, also zu einem Handeln in Selbstbestimmung. Recht ist in seinem Grundwesen Berechtigung, Befugnis zu einem Handeln. Damit bleibt unsere Definition in Verbindung mit dem allgemein menschlichen Bewußtsein, das beim Recht zunächst an Berechtigung denkt. […] Weil Berechtigung, ist jedes Recht eine Art von Herrschaftsmacht. Nicht minder ist der erwähnte zweite Wesenszug des Rechts, der der Ordnung, einer, der ihm auch nach dem gemeinmenschlichen Bewußtsein zukommt. Das Recht besteht in Zuständigkeiten als einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Vollmachten, denen es eigen ist, daß sie übergriffe durch andere ausschließen. Es ist eine Ordnung der gegenseitigen Abgrenzung von Zuständigkeiten sowie der Verbürgung des durch diese Zuständigkeiten geforderten Verhaltens aller gegenüber den durch sie Bevollmächtigten. Dieses Verhalten ist das zwischenmenschliche sowie das Verhalten im gesellschaftlichen Zusammenleben; darauf beruht der dritte Wesenszug des Rechts: es ist gesellschaftlicher Natur. 226
Die wissenschaftlich-philosophische Analyse hat uns die existentiellen Zwecke als die Begründung der Zuständigkeiten, die das Wesen des Rechts ausmachen, erwiesen. So ergibt sich uns die engere Wesensbestimmung des Rechts, die unser oberstes Rechtsprinzip sowie unser Kriterium des Rechts einschließt: Das Recht ist die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen im Einklang mit den existentiellen menschlichen Zwecken.
In vielen Begriffsbestimmungen des Rechts ist dieses nur als Ordnung der äußeren Begrenzungen von Zuständigkeiten, Wertstrebungen, Freiheiten gesehen. Für eine auf die Natur des Menschen begründete Rechtsauffassung wie die unsrige erweisen sich diese Zuständigkeiten, Freiheiten, Berechtigungen, kurz, die ursprünglichen einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Rechte als ihrem Wesen nach innerlich begrenzt. Denn erstens geht die Vollmacht, worin ein Recht besteht, nicht über den Zweck hinaus, in dem sie begründet ist. Das Recht des Menschen auf freie Religionsausübung ermächtigt ihn nicht, andere gegen ihre Überzeugung zu zwingen, sich seiner eigenen Religionsausübung anzuschließen. Zweitens sind die Rechte begrenzt zufolge der Achtung der Rechte anderer, die in den gleichen existentiellen Zwecken aller begründet sind. Das Recht der Selbsterhaltung ermächtigt auch im Falle äußerster Gefahr nicht zur direkten Tötung eines anderen, z. B. des schiffbrüchigen Mannes, der mit einem anderen auf einem Balken treibt und mit ihm Lebensmittel teilen muß, die nicht für beide ausreichen, bis Hilfe erwartet werden kann. Drittens bestehen alle Rechte, die einzelmenschlichen wie die gesellschaftlichen, weil die Verwirklichung der existentiellen Zwecke nur in gesellschaftlicher Verbundenheit möglich ist, in unlöslicher Beziehung zur Ordnung der Gesellschaft im ganzen: sosehr die einzelnen Rechtsbefugnisse Herrschaftsmacht darstellen, ist alles Recht sozialen Wesens […], weshalb eine nur auf sich selbst beschränkte Geltung irgendeines Rechts ohne soziale Verpflichtung ausgeschlossen ist. Ergebnis: Es gibt kein unbedingtes Recht eines Einzelmenschen oder einer Gemeinschaft.
Weil in sittlichen Verantwortlichkeiten begründet, sind die natürlichen Rechte unverletzlich und unveräußerlich. Die Ausübung der Rechte kann verhindert werden, das hebt jedoch die Rechte selbst nicht auf: Sie sind unverletzlich. Es ist jedem klar, daß, wenn ihm sein Eigentum gestohlen wird, sein Eigentumsrecht fortdauert und daß er einen Anspruch auf die Wiedergewinnung der Eigentumssache besitzt. Der Mensch kann seine ursprünglichen Zwecke auch nicht aufgeben, weil er die sie begründenden sittlichen Pflichten nicht abtun kann. Die Eltern können nicht auf das Recht, ihre Kinder zu erziehen, verzichten. Sie können diese Aufgabe ganz oder teilweise anderen übertragen, aber ihre Verantwortung, das darauf beruhende Recht selbst, ist unveräußerlich. Diein Frage stehende Pflicht fällt auf die Eltern zurück, soweit die Erziehung durch die Personen, an die die Erziehungsaufgabe übertragen wurde, dem Zwecke nicht entspricht, in dem das Recht der Eltern gründet.
In der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit des Rechts wird die doppelte Beziehung des Rechts zur Pflicht ersichtlich. Rechte sind erstens mit Pflichten verbunden, die in den diesen Rechten zugrunde liegenden Zwecken wurzeln; die Rechte des einen Menschen legen, zweitens, jedem anderen Menschen die Pflicht auf, dieselben zu achten. Das Recht umschließt daher Rechtsvollmachten, d. h. auf Rechte begründete Ansprüche, und Rechtspflichten, das sind Pflichten mit Bezug auf Rechtsansprüche; dies sind Verpflichtungen der Gerechtigkeit, zu deren besonderem Wesen es gehört, daß ihre Erfüllung erzwingbar ist. Demnach ist Ordnung der Gesellschaft in ihren Grundzügen eine solche von Rechtsverhältnissen. 227f
Was die Person selbst angeht, können in einer Gesellschaft mit vollentwickeltem Rechtsbewußtsein Rechte nur Ansprüche auf Dienstleistungen begründen und nur insoweit, als solche Dienstleistungen nicht im Widerspruche zu existentiellen Zwecken stehen. Es gibt daher kein Recht auf widersittliche Handlungen einer Person, z. B. auf Handlungen wider die eigene religiöse Überzeugung; kein Vertrag und kein Gerichtshof vermag solche „Rechtsansprüche“ in wirkliches Recht zu verwandeln. Jeder Arbeitsvertrag enthält aus dem angegebenen Grunde die unausgesprochene Vertragsbedingung, daß die Person des Arbeiters und seine in existentiellen Zwecken begründeten Verantwortlichkeiten geachtet werden; es ist daher eine Verkehrung der natürlichen Rechtsordnung, wenn ein Wirtschaftssystem wie der individualistische oder staatssozialistische Kapitalismus dem Arbeiter Bedingungen aufzwingt, die ihm die Erfüllung seiner Pflichten gegenüber seiner Familie unmöglich machen, sei es durch Überbeanspruchung seiner Kräfte oder durch Unterentlohnung […] 228f
Das unmittelbare sittlich-rechtliche Bewußtsein des Menschen selbst unterrichtet ihn über die Grundforderungen der Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen durch das sittliche Naturgesetz, die natürliche Gewissenseinsicht in die allgemeinsten sittlich-rechtlichen Prinzipien. Das natürliche Gewissen ist nicht nur Pflicht- und Wertgewissen, sondern auch im eigentlichsten Sinn Rechtsgewissen. Dem rechtlichen Apriori des sittlichen Naturgesetzes … gehören Prinzipien an wie diese: Gib jedem das Seine (suum cuique tribuere); tue anderen nicht, was du nicht willst, daß man dir tue; der rechtmäßigen Obrigkeit ist zu gehorchen; die gesellschaftlichen Übeltäter sind zu bestrafen; Verträge sind zu halten (pacta sunt servanda). Es sind die Rechtsprinzipien, die die gleichen Grundrechte aller menschlichen Personen, die Befehlsgewalt der gesetzgebenden Autorität, das Recht der Erzwingung der Rechtsordnung, die Geltung vertraglicher Rechte als Voraussetzung der gesellschaftlichen Kooperation in der nationalen (Volkswirtschaft) und internationalen Gemeinschaft (Völkerrecht) begründen. Wir haben … gesagt, der traditionellen Naturrechtslehre eigne ein teleologischer Wesenszug; aus dem Gesagten folgt, daß ihr intuitionistischer Wesenszug, wonach unmittelbar einsichtige allgemeine Rechtsprinzipien kraft intuitiver Vernunfterkenntnis erfaßt werden, nicht minder ausgeprägt ist.
Die unmittelbare Einsichtigkeit des rechtlichen Apriori als Teil des Naturgesetzes bedeutet einen doppelten Wesenszug für das Recht. Unmittelbar einsichtig ist, erstens, für den Menschen mit vollentwickelter Vernunft, daß es sittlich verfehlt ist, unzweifelhafte Rechte anderer zu verletzen; unmittelbar einsichtig ist, zweitens, für jedermann, daß er, wenn er im Besitz von Rechten ist, einen Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten anderer hat, das nicht nur von deren gutem Willen abhängig ist. Die Zahlung einer Geldschuld kann erzwungen werden, nicht aber der Beitrag zu einem caritativen Werk. Das rechtliche Apriori läßt keinen Zweifel darüber, daß in diesem Sinne Rechte Berechtigungen bedeuten. Ebenso steht außer Zweifel, daß das rechtliche Apriori, genau so wie das sittliche, nur allgemeine Prinzipien enthält und nicht ein ins einzelne gehendes Normensystem oder ein für alle Zeiten gültiges Rechtssystem. Es befähigt aber zum Erfassen der besonderen Rechtsverpflichtungen unter einfachen Bedingungen und damit der gesellschaftlichen Ordnung in ihren Grundbeziehungen […]
Die obersten Rechtsprinzipien sind somit der Teil des Naturgesetzes, der sich auf die gesellschaftliche Ordnung bezieht. 233
Das Recht bildet demnach das Minimum von Sittlichkeit, das für den Bestand der Gesellschaft notwendig ist. 234
Aus dem dargelegten sittlichen Wesen des Rechts ergeben sich als Folgerungen:
1. Kraft seiner Begründung auf das Naturgesetz als Quelle und das damit verbundene Sollen ist das Naturrecht wesentlich ein Inbegriff von Normen. Philosophisch hat sich uns die sittliche Verantwortung als der verbindende Begriff erwiesen, der von der Sittlichkeit zum Recht führt (die bloße Naturtatsache immanenter Zwecke für sich allein wäre noch keine Rechtsnorm noch könnte sie eine solche begründen): Die aus der menschlichen Natur erhobenen existentiellen Zwecke sind Gegenstand sittlicher Verpflichtung und daher verbunden mit dem Anspruch auf die Ermöglichung ihrer Erfüllung durch eine diese Ermöglichung verbürgende Ordnung der zwischenmenschlichen und der gesellschaftlichen Beziehungen.
2. Wirkliches Recht kann es daher im Widerspruch zum Naturgesetz, dem natürlichen Sittengesetz, nicht geben. Wenn ein Rechtsgesetz mit existentiellen Zwecken des Menschen unvereinbar ist, steht es im Widerspruch zum sittlichen Wesen des Rechts. Die Naturrechtslehre hat darum z. B. immer daran festgehalten, daß die Rechtssetzungsgewalt, soweit sie sich zu jenen Zwecken in Widerspruch setzt, usurpiert ist, der wirklichen Rechtsgrundlage entbehrt, keine sittliche Gehorsamspflicht begründet und daß der Widerstand sittlich gerechtfertigt ist.
3. Verschieden von solch angemaßten, innerlich nichtigen Rechten ist der Mißbrauch von wirklichen Rechten. Dieser besteht in der Ausübung eines Rechts zu einem seinem inneren Zweck widersprechenden oder sonst zu einem in Widerspruch zum Naturgesetz stehenden Zweck. Ein solcher Mißbrauch hebt das Recht nicht auf; aber seine Ausübung kann, soweit sie die Rechte anderer beeinträchtigt, beschränkt werden. Mißbrauch des Privateigentums z. B. hebt, auch wenn dadurch das Sittengesetz verletzt wird, das Eigentumsrecht selbst innerhalb der angegebenen Grenzen nicht auf; niemand erwirbt daher einen Rechtstitel zur Aneignung mißbrauchten Eigentums. Der Mißbrauch des Körpers in schwer gefährlichen Sportunternehmungen beraubt niemand des Rechtes auf seinen eigenen Körper. Der Grund, warum Rechtsmißbrauch das Recht nicht aufhebt, besteht darin, daß es die Wesensfunktion des Rechtes bildet, die Möglichkeit der Ausübung sittlicher Eigenverantwortung und damit Bereiche der Freiheit zu verbürgen. Der Gebrauch, den jemand von dieser Freiheit macht, ist Sache seiner eigenen persönlichen Verantwortung. Würde das Recht durch Mißbrauch aufgehoben, dann wäre ja die Möglichkeit zu eigener Verantwortung beseitigt, wogegen das Recht dem Menschen gerade diese Möglichkeit zu gewährleisten hat, nämlich trotz eines Versagens neuerdings auf die Erfüllung der je in Frage stehenden Verantwortung und Verpflichtung und damit auf die wesenhafte Selbsterfüllung abzuzielen. Natürlich ist jede Ausübung von Rechten, die Rechte anderer oder solche der Gemeinschaft verletzt, der Möglichkeit zwangsweiser Einschränkung unterworfen. Unsere Behauptung über das Fortbestehen mißbrauchter Rechte kann nicht so gedeutet werden, daß der Mensch ein „Recht“ zu Handlungen wider das Sittengesetz besäße. Er hat nur ein Recht auf den Schutz vor Übergriffen anderer in Bereiche, die Sache seiner sittlichen Verantwortung sind. Der weitaus größere Teil des sittlichen Lebens ist in der Tat privater Natur. Sittlichkeitswidriges Verhalten im privaten Bereich fällt außerhalb des Rechtsbereiches, der, wie gezeigt … auf das Ordnen gesellschaftlicher Beziehungen beschränkt ist. 234f
Die Arteigenheit des Rechtes liegt darin, daß es eine Regel des äußeren Verhaltens darstellt und die Ermächtigung zur Herbeiführung des geforderten Verhaltens durch Gewaltanwendung gewährt. Das Recht unterscheidet sich daher von der Sittlichkeit in vierfacher Hinsicht: Es bezieht sich, erstens, nur auf äußere Verhaltensweisen im gesellschaftlichen Leben, zweitens, auf inhaltlich bestimmte Verpflichtungen, es ermächtigt, drittens, zur Erzwingung des davon geforderten Verhaltens, und ermächtigt, viertens, zur Normsetzung durch die Gesellschaft zwecks Begründung der Rechtssicherheit. Das Recht betrifft, erstens, nur das äußere Verhalten, nicht die innere Gesinnung, die für das sittliche Verhalten wesentlich ist. Die gesellschaftliche Ordnung, die den Zweck des Rechtes bildet, ist gewährleistet, wenn das äußere Verhalten der Gesellschaftsglieder mit den Rechtspflichten im Einklang steht. Die gesellschaftliche Ordnung hängt nicht davon ab, ob das Motiv dieses Verhaltens die Achtung für andere oder die Furcht vor Strafe ist. Gewiß, die Vollendung der öffentlichen Ordnung hängt auch von der inneren Gesinnung ab, die die Menschen zu williger Erfüllung von Pflichten, die aus der Rechtsordnung entspringen, veranlaßt. Und das Gemeinwohl ist gewiß viel vollkommener verwirklicht, wenn eine Gesellschaft mehr von der Liebe zur Gerechtigkeit beherrscht ist als von der Furcht vor der Polizei, d. h., wenn die Rechtsordnung Kraft erhält durch die sittliche Gesinnung und Haltung der Gesellschaftsglieder.
Rechte bedeuten, zweitens, inhaltlich bestimmte Ansprüche von Einzel- und Verbandspersonen, begründen daher inhaltlich bestimmte Verpflichtungen auf seiten aller andern, diesen Ansprüchen zu entsprechen. Sie sind inhaltlich bestimmt nach Art und Maß …, nämlich als ein suum (das jemandem Zustehende, Gehörige). Der Rechtsanspruch eines jeden auf die körperliche Unversehrtheit legt dem Autofahrer im Straßenverkehr ganz bestimmte Rechtspflichten auf zum Unterschied von der sittlichen Verpflichtung, einem Hilfsbedürftigen eine Fahrgelegenheit anzubieten. Das suum kann einen naturrechtlichen (z. B. eine Forderung der Menschenrechte), einen vertragsrechtlichen (Vereinbarung von Leistung und Gegenleistung) oder einen positivrechtlichen Rechtsgrund haben.
Das vom Recht geforderte äußere Verhalten muß, drittens, gesichert sein, wenn die gesellschaftliche Ordnung bestehen soll. Daher ist mit dem Recht wesenhaft die Ermächtigung zur Verbürgung dieses Verhaltens vermittels physischen Zwangs als Aufgabe der gesellschaftlichen Kooperation verbunden. Thomas v. Aq. und Hegel treffen sich in der Betonung der Ermächtigung zur Zwangsanwendung als einem wesenhaften Bestandteil des Rechts (ebenso auch in der Betonung, daß sie nicht sein alleiniges Wesen ausmache), und zwar beide mit der gleichen Begründung: Sie ist notwendig wegen des rechtswidrigen Verhaltens von Gesellschaftsgliedern. Gerade aus diesem Grunde ist jedoch, wie Hegel ausführt, Zwang nicht das Grundwesen des Rechts. Zwang ist mit dem Recht verbunden, sagt er, weil der Gewalt mit Gewalt begegnet werden muß, falls sie ein Recht verletzt; jedoch den Zwang zum Wesen des Rechts zu machen „heißt, es an einer Folge auffassen, welche erst auf dem Umwege des Unrechts eintritt“. Dieses Argument scheint unbestreitbar zu sein. Es legt die logische Wurzel in den Irrtümern der Zwangstheorien der individualistischen und kollektivistischen positivistischen Rechtsphilosophie bloß, die das Recht ganz und gar mit dem staatlichen Zwangsnormensystem identifizieren. 237-239
Das Gemeinwohl
Die Gesellschaft, so sahen wir, findet ihren Seinsgrund und ihre Seinsordnung in der Natur des Menschen: ihren Seinsgrund in der Menschennatur mit ihrer Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsfähigkeit bei der Erreichung des in ihr selbst vorgezeichneten vollmenschlichen Seins, ihre Seinsordnung in den von der Individual-, Sozial- und Personnatur des Menschen geforderten Voraussetzungen für dieses vollmenschliche Sein. Folglich ist der Zweck der Gesellschaft die Hilfe, die alle für die eigenverantwortliche Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben benötigen. Da diese Hilfe durch die Verbundenheit aller Glieder der gesellschaftlichen Einheit ermöglicht, aber auch von allen benötigt wird, heißt sie Gemeinwohl oder Gemeinnutzen oder Sozialwohl.
Aus der Natur der Gesellschaft, wie sie sich in unserer Analyse darstellt, ergibt sich auch sofort die erste weitere Bestimmung des Gemeinwohls als der dem Einzelmenschen durch sie zu ermöglichenden Hilfe. Denn ontologisch und metaphysisch hat sich zwar die Natur des Menschen als ergänzungsbedürftig erwiesen, jedoch gleicherweise ganz und gar bestimmt zur eigenverantwortlichen Verwirklichung der in ihr vorgezeichneten existentiellen Zwecke: Der Mensch bedarf für das vollmenschliche Sein der gesellschaftlichen Verbundenheit, sein vollmenschliches Sein hängt aber wesentlich von seiner Eigenverantwortlichkeit und Eigentätigkeit bei Erfüllung der im vollmenschlichen Sein gelegenen Forderungen ab. Zur Veranschaulichung das schon einmal erwähnte Beispiel: Das Tier kann mit allem Notwendigen versorgt werden, ohne daß die von seiner Natur geforderte Vollwirklichkeit seines Seins beeinträchtigt wäre. Anders der Mensch: Ihm kann nicht in ähnlicher Weise alles Notwendige (und dann auch die Arbeitsleistung) zugewiesen werden, weil das vollmenschliche Sein wesensmäßig an Eigenverantwortung und Eigenwirksamkeit gebunden, d. h. das der Person ist. Daraus folgt für das ontologische und metaphysische Wesen des Gemeinwohls: Obwohl begründet auf die Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsfähigkeit der Individuen, besteht es primär nicht in einer stückweisen Zusammenlegung von Gütern und Leistungen in einen gemeinsamen Fonds durch die Individuen, und nicht in der einfachen Zuteilung von Gütern aus gemeinsamen Vorräten, die durch Einschuß von Gütern und Leistungen der Gesellschaftsglieder in einen solchen Fonds gebildet sind. Vielmehr besteht das Gemeinwohl in der durch die gesellschaftliche Verbundenheit zu erzielenden Ermöglichung der eigenverantwortlichen und eigenkräftigen Erfüllung derden Gesellschaftsgliedern in den existentiellen Zwecken vorgezeichneten Lebensaufgaben. Das Gemeinwohl kann demnach nur Hilfe für den erwähnten Zweck sein und kann keine Vollwirklichkeit werden, sobald mehr damit erstrebt wird. Zur weiteren Veranschaulichung mit dem eben gebrauchten Beispiel: Die Fremdversorgung beeinträchtigt nicht das Haustier in seinem natureigenen Wesen, wohl aber der „Versorgungsstaat“ das natureigene Wesen des Menschen, weil er dem Menschen einen Bereich der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wegnimmt; da er daher den Menschen in höchsten Gütern schädigt, ist er trotz höchster Leistungen „sozialer Sicherheit“ gemeinwohlwidrig. 189f
Eine dritte unmittelbare Folgerung aus dem Seinsgrund und der Seinsordnung der Gesellschaft betrifft die Grundfunktionen des Gemeinwohls. Es sind zwei. Die erste besteht in der Abwehr der von den niedrigen Triebanlagen der Menschennatur drohenden Störungen der die Voraussetzungen für die vollmenschliche Existenz bildenden Ordnung des Zusammenlebens. Dazu gehört somit vor allem die Sicherung der Gesellschaftsglieder vor der Behinderung in der Erfüllung ihrer Lebensaufgaben durch andere; nur durch die gesellschaftliche Kooperation können solche Übergriffe abgewehrt werden. Diese Abwehr ist die eine Seite der Hilfe, die das Gemeinwohl für die Gesellschaftsglieder darstellt: die Begründung der Friedensordnung. Dabei handelt es sich sozusagen um eine negative Funktion, die vor allem durch das Recht mit seiner Zwangsgewalt gegenüber asozialen Gesellschaftsgliedern erfüllt wird. Die zweite ganz und gar positive Grundfunktion des Gemeinwohls betrifft die Ermöglichung der vollmenschlichen Existenz für die Glieder der Gesellschaft: die Begründung der Wohlfahrtsordnung. Dabei ist Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsfähigkeit des Einzelmenschen vielseitig, dieser daher, wie unsere metaphysische und ontologische Analyse der Gesellschaft zeigte, vielfältig gebunden an gesellschaftliche Einheiten bei der Erreichung seines vollmenschlichen Seins. Im Seinsgrund und in der Seinsordnung der Gesellschaft selbst finden wir daher auch eine Vielfalt existentieller gesellschaftlicher Zwecke vor, an die die seelische, geistige, sittliche, religiöse, kulturelle, wirtschaftliche, soziale Entfaltung zum vollmenschlichen Sein geknüpft ist. Beim Begriff des Gemeinwohls und der sein Wesen bildenden Hilfe ist daher keineswegs nur an den Staat und die politische Gemeinschaft zu denken, sondern ebenso an Familie und Volk, Nachbarschafts- und Berufsgemeinschaft, Religionsgemeinschaft und Völkergemeinschaft. 190f
Mit zwei Gründen, einem personaler und einem sozialer Art, haben wir gezeigt, daß das Gemeinwohl nicht in der allgemeinen Gleichheit der Anteilnahme der Gesellschaftsglieder an den Früchten der gesellschaftlichen Kooperation bestehen kann. Zum Wesen des Gemeinwohls gehört aber die Verhältnismäßigkeit dieser Anteilnahme. Dies ebenso aus zwei Gründen, einem personaler und einem sozialer Art. Der letztere besteht darin, daß die Mitwirkung aller zur Erreichung der Vollwirklichkeit des Gemeinwohls gleicherweise notwendig ist; die Leistung des Erdarbeiters ist so unerläßlich wie die des Industriedirektors, die eine hängt von der anderen ab. Der zweite Grund ist die allen Gesellschaftsgliedern gemeinsame wesenhafte Natur, ihre Personnatur, so daß ihr Beitrag zum Gesamtergebnis der gesellschaftlichen Kooperation nicht nur nach äußeren Maßstäben gemessen werden darf wie die Arbeit von Maschinen, sondern nach den mit den existentiellen Zwecken allen Menschen gleicherweise gestellten Aufgaben, deren Erfüllung zu ermöglichen in der Sozialnatur des Menschen als existentieller Zweck vorgezeichnet ist. Es sind demnach die soziale wie die personale Seite in der Vollverwirklichung des Gemeinwohls, die Natur der Gesellschaft wie die der menschlichen Person, die die verhältnismäßige Anteilnahme aller Gesellschaftsglieder an den Früchten der gesellschaftlichen Kooperation fordern und eine unverhältnismäßige Verschiedenheit materieller und kultureller Existenz der gesellschaftlichen Gruppen verpönen. 202
Die bisherige Analyse des Gemeinwohls hat gezeigt, daß es ganz und gar das Wesen des Ergänzenden und Subsidiären besitzt: Es ist die Hilfe, die die Menschen aus ihrer gesellschaftlichen Kooperation für die Erfüllung der in ihren existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben gewinnen; es ist kein Selbstzweck. Die Schlußfolgerungen daraus sind von größter Bedeutung angesichts der individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftspolitik, die in keiner anderen Hinsicht so abwegig ist wie in dieser. Die individualistische Sozialtheorie engt die Hilfsstellung des Gemeinwohls auf die Sicherung des freien Spiels der Interessen ein. Im kollektivistischen Denken hat das Gemeinwohl nicht nur eine Hilfsstellung, sondern ist der beherrschende Zweck der menschlichen Existenz. Tatsächlich hat das Gemeinwohl nur eine Hilfsstellung, aber eine, die sich auf die ganze menschliche Existenz erstreckt, da der Mensch für die Erfüllung aller in seinen existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben der Hilfe der gesellschaftlichen Kooperation bedarf. Daraus folgt, daß das Gemeinwohl keine Wirklichkeit sein kann, soweit seine Ausweitung auf Kosten der in diesen Zwecken vorgezeichneten Entfaltung der menschlichen Person gesucht wird. 212
Da die verschiedenen existentiellen Zwecke, zu deren Verwirklichung der Mensch der gesellschaftlichen Ergänzung bedarf, verschiedene Formen gesellschaftlicher Verbindung und daher Arten von Sozialzwecken bedingen, ist das Gemeinwohl seinem Wesen nach pluralistisch. Diese Eigenzwecke der Sozialeinheiten begründen ihre Eigenverantwortung und daher Eigenständigkeit in der Wahrnehmung ihres eigenen Gemeinwohls. Der Seinsgrund des Gemeinwohls erweist daher den ihm wesenseigenen Pluralismus als Autonomie der Gemeinschaften im Dienste existentieller Zwecke. Die kleineren und größeren Gemeinschaften mit naturgegebenen Zwecken sind unter anderem die Familie, die Nachbarschaftsgemeinschaft, die Berufsgemeinschaft, der Staat, die größeren innerstaatlichen und überstaatlichen regionalen Einheiten, die Völkergemeinschaft, jede mit ihrem besonderen Gemeinwohl. Dazu kommen Vereinigungen, die auf frei gewählte Zwecke begründet sind, wie die auf verschiedene kulturelle, wirtschaftliche und soziale Ziele abgestellten, z. B. karitative Vereinigungen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Tierschutzvereine. 215f
Demnach liegt im pluralistischen Wesen des Gemeinwohles eine Über- und Unterordnung der Gemeinschaften beschlossen, deren engere oder umfassendere Zuständigkeiten durch ihre Zwecke bestimmt sind. Jede ist im Bereiche ihrer eigenen Zwecke autonom, jedoch der größeren Gesellschaft untergeordnet, soweit deren umfassenderer Zweck in Frage steht. 216
Die pluralistische Seinsordnung des Gemeinwohls begründet … die Subsidiaritätsordnung mit der Autonomie und Hierarchie von Gemeinwohlzuständigkeiten. Das Subsidiaritätsprinzip ist daher, wie alle naturrechtlichen Sozialprinzipien, zuerst Seinsprinzip und dadurch auch Ordnungsprinzip. 217