• Zur Hauptnavigation springen
  • Skip to main content
  • Zur Hauptsidebar springen

scholarium

  • Formate
    • Buch
    • Kurs
    • Scholien
    • Vortrag
    • Termine
    • Salon
    • Seminar
    • Digitale Bibliothek
    • Podcast
  • Themen
    • Austrian School
    • Geopolitik
    • Lebensphilosophie
    • Vermögensanlage
    • Unternehmertum
    • Freie Bildung
    • Kryptowährungen
    • Freie Privatstädte
  • Studieren
  • Investieren
  • Login

Wiener Schule der Ethik: Christian von Ehrenfels

Rahim Taghizadegan am 3. September 2015

Der österreichische Philosoph der Brentano Schule, der parallel zur
subjektiven Wertlehre der Wiener Schule der Ökonomik eine subjektive
Ethik entwickeln wollte. Er gilt auch als Vorläufer der Gestalttheorie
und -psychologie.

Christian von Ehrenfels (geb. 1859 in Wien; gest. 1932 in Lichtenau)

Ausgewählte Werke:

  • System der Werttheorie. Allgemeine Werttheorie, Psychologie des Begehrens, Bd. 1. Leipzig: O. R. Reisland, 1897
  • System der Werttheorie. Grundzüge der Ethik, Bd. 2. Leipzig: O. R. Reisland, 1898
  • Grundbegriffe der Ethik. In: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens: Einzel-Darstellungen für Gebildete aller Stände, begründet von Dr. L. Loewenfeld, und Dr. H. Kurella, Bd. 8. Wiesbaden: J. F. Bergmann, 1907

System der Werttheorie: Allgemeine Werttheorie, Psychologie des Begehrens

Die Ethik steckt vielfach noch tief in der Schule jener alten Griechen und setzt sich, statt von einer psychologisch begründeten Werttheorie auszugehen, die sogenannte Güterlehre zum Ziel – eine äußerliche und oft willkürliche Aufzählung und Rangsbestimmung ethischer und sonstiger Wertobjecte, bei welcher besten Falles jene von Alters her überlieferten Erfahrungen zu holen sind, die wir als „Lebensweisheit“ zu bezeichnen pflegen und meistenteils erst dann deuten und schätzen lernen, bis wir sie uns selbständig und auf eigene Kosten erworben haben. – Vielfach auch herrscht noch jener metaphysisch-mystische Dogmatismus, für welchen gerade der Schöpfer der „Kritik der reinen Vernunft“ auf ethischem Gebiete den Styl angegeben hat. (S. XII-XIII)

Weiters habe ich der österreichischen ökonomischen Werttheoretiker zu gedenken. […] Von Friedrich v. Wieser (dz. Professor der Nationalökonomie an der deutschen Universität in Prag) sowie auch von Robert Meyer (dz. Professor der Nationalökonomie an der Universität in Wien und Ministerialrath im k. k. Finanzministerium) habe ich außerdem durch mündlichen und brieflichen Verkehr mannigfache Förderung erfahren. (S. XV-XVI)

Nicht deswegen begehren wir die Dinge, weil wir jene mystische, unfassbare Essenz „Wert” in ihnen erkennen, sondern deswegen sprechen wir den Dingen „Wert” zu, weil wir sie begehren. (S. 2)[…] als die Stärke oder Intensität von Strebungen und Willensacten zu bezeichnen pflegt. Einen solchen Act nennt man um desto intensiver, einen je größeren Widerstand er zu besiegen vermag. Unter dem Widerstand aber ist hier nichts anderes zu verstehen, als Unlustgefühl, welches man, um zu dem angestrebten Zwecke zu gelangen, auf sich zu nehmen genötigt ist. (S. 37)[…] das Maß jener Unlust, welche dazwischentreten müsste, um das Streben oder Wollen eben aufzuheben, proportional ist dem Maße der relativen Glücksförderung überhaupt, welche jenes mit sich bringt. Denn damit ein Streben und Wollen vereitelt werde, ist es nötig, dass es, selbst eintretend, keinen glücklicheren Gemütszustand herbeiführe, als derjenige ist, welcher sich bei dessen Ausbleiben einstellt. […] Es ist also die relative Glückszunahme jener Unlust proportional, und diese, wie dargelegt, der Stärke des Wollens und Strebens, woraus sich ergibt, dass diese letztere auch direct durch die relative Glücksförderung gemessen werden kann. (S. 38)

Allgemein kann beobachtet werden, dass die Tendenz, das Subjective, Relative und zeitlich und räumlich Specialisirte als ein Objectives, Absolutes und streng Allgemeines zu deuten, im menschlichen Denken stets den ersten und gleichsam natürlichen Ansatz bietet, in einer Richtung, von welcher sachgemäßere Reflexion und weiterer Ueberblick erst allmälig und oft spät ablenken. Es ist bekannt, wie schwer es fällt, den naiv Denkenden von der Subjectivität der Sinnesqualitäten zu überzeugen; wie hartnäckig das Menschengeschlecht an der Vorstellung der Erde als des im Centrum des Weltalls ruhenden Körpers festhielt; wie oft man sich selbst dabei ertappt, die Begriffe von zeitlich lang und kurz, räumlich groß und klein oder oben und unten als absolute zu behandeln; welch unermessliche Zal von Fehlschlüssen aller Art aus dem einseitigen Festhalten eines individuellen Standpunktes, also aus unberechtigten Verallgemeinerungen sich herleitet. Dass in ähnlicher Weise wie das Gebiet des Physischen auch dasjenige des Psychischen, speciell des Fühlens und Begehrens und der abhängigen Werterscheinungen unter jenem hervortretenden Zug des naiven Denkens zunächst irrig und mit vielfachen unbeabsichtigten und unbewussten Fictionen behandelt und gedeutet worden sei (in unberechtigter Analogie etwa zum Gebiete des Urteils, auf welchem ein streng allgemein Gültiges, Absolutes – die Wahrheit – thatsächlich vorliegt,) ist eine von vorne herein höchst plausible Annahme, welche die Nötigung zu einer weitgehenden Correctur tief eingewurzelter Anschauungen und Ueberzeugungen auch auf dem Wertgebiete als nichts Befremdliches mehr erscheinen lässt. (S. 45f)

Wenn Jemand den Irrtum als solchen begehrte und die Erkenntniss „hasste” oder verabscheute, so könnte man bei Läugnung eines absoluten Wertbegriffes allerdings hierin noch nichts Unsinniges, oder dem Unsinnigen Analoges erblicken, wol aber, wenn er jenem Begehren auch thatsächlich Folge leistete. Zunächst ist es klar, welch hohen Nutzen die Erkenntniss, und welch große Schädlichkeit der Irrtum in Bezug auf die Erfüllung jeglichen anderen Begehrens besitzt, welches die Anstrengung von „Mitteln zum Zweck” erfordert. Wer also den Irrtum als solchen anstrebte, und die Erkenntnis als solche flöhe, der verfolgte hiemit ein Ziel, welches ihn der unerlässlichen Grundbedingung zur Erfüllung aller seiner übrigen Begehrungen beraubte. Er könnte dieß somit bei richtiger Einsicht nur dann, wenn jene Vorliebe zum Irrtum und jene Aversion gegen die Erkenntniss stärker wären als alle seine übrigen Begehrungen. Dass aber eine derartige Monstrosität zwar logisch denkbar, psychologisch aber ebensowenig möglich ist wie etwa physiologisch ein Mensch mit sechs Köpfen, bedarf wol keiner weiteren Erläuterung. Jeder empirisch mögliche Mensch, welcher den Irrtum thatsächlich anstrebte, dürfte daher mit demselben Recht als verrückt bezeichnet werden, wie etwa ein reicher Mann, der für drei taube Nüsse sein ganzes Vermögen zum Tausch böte. Außerdem trüge jenes Streben nach dem Irrtum die Unerfüllbarkeit in sich; denn den Irrtum kann als solchen nur derjenige erkennen, welcher die Wahrheit besitzt; wer also nach dem Irrtum strebte, gewänne hiebei nur das Gegenteil, nämlich Erkenntniss. (S. 47f)

[…] die erste dieser Unterklassen mit den unvermittelten Werten zu einer anderen Hauptclasse vereinigen, welche alle jene Werte umfasst, die sich auf ein Ganzes entweder um dieses Ganzen oder um eines oder mehrerer seiner Teile willen beziehen, und am entsprechendsten als die Classe der Eigenwerte benannt werden kann. Den Eigenwerten stehen dann die zwei letzten Unterklassen der vermittelten Werte, die rein causal und die gemischt constitutiv und causal vermittelten gegenüber, welche man, mit Hervorholung des praktisch weit bedeutsameren Momentes der causalen Vermittlung, die ihnen beiden zukommt, am zweckmäßigsten als Wirkungswerte bezeichnet. Dieß ergibt nun eine Werteinteilungnach folgendem Schema:

 (S. 77)

VII. Die Bemessung der Wirkungswerte. (Das vorliegende Capitel bietet im Wesentlichen eine Ausführung der österreichischen ökonomischen Wertlehre.) […] So z.B. ist der Wert des Süßwasservorrats an Bord eines einsamen Schiffes auf hoher See gleich dem Werte des Lebens der Bemannung, welche dem Untergang verfiele, falls jener verloren gienge. […] Die von der Existenz des Wirkungswertes (Wasservorrat) abhängigen Eigenwerte (die Werte, von denen die Arbeit und die rechtzeitige Abfahrt sich als vermittelte Werte herleiten) sind verschieden von dem Stammwerte (Lebenerhaltung der Bemannung) des Wirkungswertes. Aehnlich kann etwa der Vorrat an Schiffszwieback auf hoher See in seinem Werte demjenigen des Lebens der Bemannung gleichkommen, im Hafen dagegen erreicht er – bei Vernachlässigung der Einbringungs- und eventuellen Verzögerungskosten – nur den Wert des Geldes, welches für seine Beschaffung am Markte ausgelegt werden muss. Es ist klar, dass das bestimmende Moment hier die Ersetzbarkeit der Wirkungswerte abgibt. Unersetzbare Wirkungswerte (d.h. also die Wirkungswerte unersetzbarer Objecte) sind, gleich den constitutiv vermittelten Werten, schlechthin ihren Stammwerten gleich; ersetzbare Wirkungswerte können an Größe ihre Stammwerte niemals übertreffen, wol aber erheblich hinter ihnen zurückbleiben. Zur Untersuchung der einschlägigen Verhältnisse ist es nötig, die Größe der von den Wirkungswerten voraussichtlich causirten Eigenwerte, die Größe ihrer Stammwerte also mit einem eigenen Namen zu benennen. Als der dem Sprachgebrauch nächstliegende bietet sich hiebei die Bezeichnung des Nutzens. Nur pflegt man diese gemeiniglich in engerer als der hier geforderten Fassung zu gebrauchen. Der Nutzen wird immer vom Standpunkte des Subjectes des Wirkungswertes ausgesagt, und zwar nur von solchen Wirkungswerten, deren Stammwerte sich als für das Subject egoistische betrachten lassen. Nach der gewöhnlichen Auffassung ist mir z.B. zwar das Geld, welches ich zum eigenen Vergnügen auslege, von Nutzen, nicht aber dasjenige, das ich dem Bettler schenke und welches wol diesem, nicht aber mir Nutzen bringt. Es ist daher für unsern Zweck nötig, entweder den Begriff des Nutzens derart zu erweitern, dass z.B. auch das für die Bedürfnisse Anderer ausgelegte Geld als für mich nutzbringend betrachtet werden kann, oder aber für den erweiterten Begriff eine neue Bezeichnung zu suchen. Wir wälen, um dem ,,Nutzen” seine gewohnte Bedeutung belassen zu können, den letzteren Weg, unter Anlehnung an die sprachübliche Zusammenstellung „zu nutz und fromm”, und bezeichnen unter dem „Frommen” streng allgemein die Größe des Stammwertes eines Wirkungswertes, so dass dann der Nutzen als eine Unterclasse des Frommens erscheint. (S. 78ff)[…] wo dann consequent der Begriff des Grenzfrommens zu bilden ist. […] 1. Dem den menschlichen Wertbeziehungen zugrunde liegende Begehrungsvermögen und somit auch jenen selbst, – oder, was hiemit gleichbedeutend ist, dem menschlichen Bedarfe steht immer nur eine endlich begrenzte Menge von zweckdienlichen Objecten irgend welcher Art, also immer nur ein endlich begrenzter Vorrat gegenüber. (Nur die Begrenztheit des Vorrates ermöglicht die Bildung des Begriffes von Grenznutzen und -frommen.) 2. Werden Stammwerte irgend einer Kategorie durch aufeinander folgende Acte des Verbrauches gleicher Gegenstände verwirklicht, so verwirklichen im allgemeinen die ersten Verbrauchsacte größere Werte als die nächstfolgenden. (Wenn z.B. jemand, der dem Hungertod nahe ist, durch ein bestimmtes Quantum Nahrung in entsprechender Zeit wieder vollständig hergestellt wird, so wird er durch die ersten Genussacte den höchsten „Stammwert” verwirklichen, nämlich sein Leben sichern, durch die nächstfolgenden stufenweise immer geringere, etwa seine temporäre Gesundheit, sein physisches Wolbefinden, zuletzt nur mehr einen Gaumengenuss. Hiebei steht es nicht in seinem Belieben, die Stufenreihe umzukehren und etwa mit dem bloßen Gaumengenuss zu beginnen und mit der Lebensrettung zu schließen. Analog verhält es sich fast überall dort, wo bestimmte ,,Bedürfnisse” durch schrittweisen Verbrauch eines „Vorrates” verwirklicht werden.) 3. Oft können gleiche Gegenstände zur Verwirklichung sehr verschiedener „Stammwerte” herbeigezogen werden. (Man kann ein Stück Brot zur eigenen Sättigung, zur Sättigung von anderen Menschen, zur Ernährung eines Thieres, zum Reinigen eines Zeichenpapieres u.s.w. verwenden; die mannigfache Verwendbarkeit des Eisens, der Steinkohle, des Holzes und ähnlicher „Productionsgüter” ist bekannt.) 4. Wo ein Vorrat von gleichen oder unter einander ersetzbaren Gegenständen durch aufeinander folgende Acte in irgend einer Weise zweckdienlich „verbraucht” wird, werden daher doch in den seltensten Fällen durch die einzelnen Verbrauchsacte gleich große Werte verwirklicht werden können. Hieraus ergibt sich die Forderung der Ausnützung des Vorrates auf die zweckdienlichste Weise, d.h. zur Verwirklichung der höchstmöglichen Wertsumme. Diese Forderung erfüllt sich in der überwiegenden Mehrzal der Fälle, und zwar, wenn der Verbrauch des Vorrates nach der unter 2. beleuchteten Art erfolgt, aus der Natur der Sache, von selbst, wenn aber nach der unter 3. gekennzeichneten, vermöge des vernünftigen, wirtschaftlichen Gebahrens der Menschen und ihrer Verfügungsgewalt über die verschiedenen Vorräte von Verbrauchsgegenständen. Sobald aber jene Forderung erfüllt ist, sind die Bedingungen zur Anwendung der Wertbemessung nach dem „Grenznutzen”, resp. „Grenzfrommen” gegeben. […] überall dort, wo der Vorrat den Bedarf übersteigt, das Grenzfrommen und mithin auch der Wert des Ueberschusses gleich Null sein muss. (S. 86)

Es gibt z.B. Menschen, welche sich ehrlich einbilden, große Kunstliebhaber zu sein, während sie in Wirklichkeit nur darauf Wert legen, für solche gehalten zu werden; und es ist möglich, dass ein solcher etwa Musik hören zu wünschen glaubt, während er thatsächlich nur begehrt, in dem Concerte als Besucher von anderen gesehen zu werden. […] Ein anderer Fall ist der, in welchem dem thatsächlich gleichgültigen Erfolg einer um ihrer selbst willen gewerteten Handlung Eigenwert, dieser letzteren aber statt ihres thatsächlichen Eigenwertes nur Wirkungswert zugeschrieben wird, wie wenn z.B. ein Bergsteiger sich einbildet, umwillen der Aussicht eine halsbrecherische Klettertour zu unternehmen, die er thatsächlich um ihrer selbst willen ausführt. […] Der eingebildete Musikliebhaber kann, eben auf Grund seiner ehrlichen Einbildung, einmal auch in einer fremden Stadt, wo er unbemerkt bleibt, ein Concertbillet lösen, und dieses kann sich am Abend als gefälscht erweisen. Er ist dann einem doppelten Wertirrtum erlegen, findet aber vielleicht wider Erwarten doch seine Rechnung dabei, indem ihm, zu Hause angelangt, Gelegenheit geboten ist, das ganze Erlebniss seinen Bekannten aufzutischen, woraus er viel mehr Befriedigung schöpft, als ihm das Concert in der fremden Stadt bereitet hätte. (S. 105f)

Die Wertirrtümer der ersten Kategorie geben Anlass zur Aufstellung des Terminus des subjectiven Wertes. Wo ein Object durch Vermittlung eines irrigen Urteils wertgehalten wird, dort liegt dennoch eine thatsächliche Wertung vor, und dieser Thatsache gibt man dadurch Ausdruck, dass man dem Objecte zwar Wert, aber nur einen subjectiven, zuerkennt. Wenn man im Gegensatze hiezu von objectiven Werten spricht, so verwendet man diesen Terminus in anderer Weise als sonst häufig und auch etwa in diesen Untersuchungen, da er dem absoluten Werte gleichgesetzt wird. Unter objectivem Werte hat man dagegen hier nicht einen von der Existenz eines Subjectes unabhängigen Wert zu verstehen, sondern nur einen Wert, welcher auf Grund einer thatsächlich vorhandenen und nicht durch irrige Urteile vermittelten Wertung einem thatsächlich existirenden Objecte zugesprochen wird. So besitzt etwa für einen abergläubischen Kranken ein Amulett nur subjectiven, ein wirksames Heilmittel dagegen sowol subjectiven als auch objectiven Wert. Ein Wertirrturn der zweiten Kategorie dagegen begründet auch keinen subjectiven Wert, weil hier die Thatsache der Wertung fehlt. Für den eingebildeten Musikliebhaber hat die Musik nur vermeintlichen, nicht subjectiven Wert. (S. 106f)

Alles, was vorstellbar ist, sogar das anerkannt Unsinnige, kann in einzelnen Fällen für den Menschen Eigenwert, oder Eigenunwert erlangen. Dennoch ist es möglich, gewisse Gruppen realer Objecte herauszuheben, welche für die große Mehrheit der menschlichen Individuen jene Stelle einnehmen. Den ersten Platz beanspruchen hier die Gefühle der Lust und Unlust. Denn wenn es auch unrichtig ist und bestritten werden musste, dass alles menschliche Begehren auf die Erzeugung resp. Vermehrung von eigener Lust oder die Vernichtung resp. Verminderung von eigener Unlust gerichtet sei – so kann doch nicht geläugnet werden, dass solchen egoistischen Acten des Begehrens die allerweiteste Verbreitung und höchste Wirksamkeit im menschlichen Leben zukomme. Eigene Lust ist der vornehmste Eigenwert, eigene Unlust der vornehmste Eigenunwert. – An zweiter Stelle stehen dann andere, eigene (d.h. von dem wertenden Individuum für sich selbst begehrte) psychische Phänomene, wie z.B. Sinneseindrücke verschiedener Art, wahre Urteile (Erkenntniss), ästhetische Eindrücke u.s.w. Im großen Durchschnitt sind den Menschen diejenigen psychischen Phänomene, welche die normalen Lebensfunctionen der Selbst- und Arterhaltung begleiten, von Eigenwert: Athmen, Schauen, Hören, Essen, Trinken, Bewegung, mäßige Arbeit, Zeugen und Aufziehen von Nachkommen – auch unabhängig von der daraus erwarteten Lust – aber nach ihrer psychischen Seite vorgestellt als Erlebnisse des betreffenden Individuums. – An zweiter Stelle, nach den eigenen psychischen Phänomenen, bieten die fremden, d.h. die Phänomene Anderer, Wertobjecte. Und zwar werden normaler Weise diejenigen Phänomene, welche man für sich selbst begehrt und verabscheut, in gleichem Sinne, jedoch in geringerem Maße auch für Andere bewertet. Das gegensätzliche Verhalten (bei den im engeren Sinne diabolischen Naturen) ist nur ausnahmsweise anzutreffen. Man kann die den eigenen entsprechenden fremden Eigenwerte und -unwerte kurz als die sympathischen (resp. antipathischen) bezeichnen. Außer diesen gibt es jedoch auf dem Gebiete der fremden psychischen Phänomene noch eine zweite Gruppe von Eigenwerten resp. -unwerten, welche jene an Bedeutung oft überwiegt. Den meisten Menschen ist die Achtung der eigenen Persönlichkeit von Seiten Anderer – mag sie sich nun auf Liebe oder Furcht gründen – sowie überhaupt jede Wirkung der eigenen Persönlichkeit, welche in irgend einem Sinne als Fortsetzung derselben betrachtet werden kann, von hohem Eigenwert, die Missachtung oder Verachtung, sowie die Wirkungslosigkeit der eigenen Individualität, von Unwert. – Fügen wir nun noch hinzu, dass die genannten Gruppen von Eigenwerten und -unwerten, namentlich aber die sympathischen (resp. antipathischen) sich nicht nur auf andere Menschen, sondern auf alle psychischen oder als psychisch gedachten Wesen, also auch auf Thiere und angenommene übermenschliche Wesen beziehen können, so haben wir den Kreis dessen, was für den Menschen im Allgemeinen Eigenwert oder Eigenunwert erlangt, ziemlich erschöpft. Als auffällig dürfte es vielleicht erscheinen, dass nur psychische Realitäten sich hierbei angeführt finden. Die Erfahrung bestätigt jedoch diese Exclusivität des menschlichen Interesses auf das entschiedenste. Ist es auch nicht unmöglich, dass wir an einem als unpsychisch gedachten Dinge directen Anteil nehmen, so zält dieß doch zu den seltensten Ausnahmsfällen. Einer unpsychischen Welt für sich vermag der Mensch im allgemeinen weder Wert noch Unwert beizulegen. (S. 110ff)

Versuche, mittelst Strafen nach dem Gesetz der Gefühlsübertragung zu wirken, sind meist nur bei tiefstehenden Intellecten von Erfolg begleitet. Es überträgt sich da die Unlust an der Strafe auf die Ursache, die gestrafte That. Bei etwas ausgebildeteren Intellecten jedoch und wo nicht große Liebe und Hingebung für den Strafenden vorhanden, überträgt sich der Unwille statt auf die gestrafte That vielmehr auf den andern Teil der Ursache – den Strafenden selbst, welcher statt der That nun um der Strafe willen gehasst wird. Auch Belohnungen (welche nach unserer Definition als Specialfälle des Zwanges anzusehen sind) wirken in derselben Weise durch Gewöhnung und Entwöhnung, aber nur unvollkommen durch Gefühlsübertragung. Der Zwang ist die auffälligste, wenn auch nicht die erfolgreichste Einwirkung von Mensch auf Mensch, diejenige, welche auf primären Culturstufen und bei niedriger geistiger Ausbildung allein verstanden und mit Zweckbewusstsein ausgeübt wird. (S. 123f)

Die Einwirkung durch das Beispiel gründet sich vornehmlich auf den Nachahmungstrieb. (S. 124)

Man kann, hierauf Bezug nehmend, geradezu von einer psychischen Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen sprechen und in ihr den Grund erkennen, der es ermöglicht, dass Wertungen, welche für die Existenz des Individuums und seiner Nachkommen verhängnissvoll werden, dennoch häufig genug im Kampfe ums Dasein mit anderen Wertungen den Sieg behalten. (S. 131)

Die Begrenztheit der Lebenskraft ist es somit auch, welche den letzten Erklärungsgrund für den zwischen den verschiedenen Wertungen obwaltenden Kampf ums Dasein abgibt. (S. 149)

Jede Wertung ist eine Gefühlsdisposition, und die Bildung einer jeden Gefühlsdisposition nimmt die Assimilationsfähigkeit, also die Lebenskraft in Anspruch. Der Mensch vermag Wertungen nicht in unbegrenzter Zal und nicht in unbegrenztem Maße oder Intensitätsgrade in sich auszubilden und zu beherbergen. Darum ist das bloße Vorhandensein einer Wertung in einem begehrenden Individuum schon ein Hinderniss für das Entstehen und Anwachsen anderer Wertungen, darum besitzt jede Wertung an sich schon die Tendenz, die anderen Wertungen zu verdrängen, und darum nimmt der Entwicklungsprocess der Wertungen ähnlich wie derjenige der Thier- und Pflanzenindividuen und -arten naturgemäß die Formen des Kampfes um einen in beschränktem Maße vorhandenen Vorrat von Lebensbedingungen an, welcher „Kampf ums Dasein” jenem der Individuen und ihrer leiblichen Nachkommen umsomehr sich annähert, als überdieß jeder Wertung – ähnlich wie dem Einzelindividuum der Zeugungstrieb – die Tendenz zukommt, sich durch die Wirkung des Beispiels auf andere Individuen zu übertragen und dadurch anzuwachsen. (S. 149)[…] den abgeleiteten Werten entgegengesetzten Werttypus. – Wir nennen jene Eigenwerte – weil sie in ihrer Existenz davon abhängig sind, dass sie zugleich im Sinne einer andern Wertung Wirkungswerte abgeben – abhängige Eigenwerte. Der Process dagegen, durch welchen sie ihrer für ihre Existenz bedingenden Eigenschaft als Wirkungswerte verlustig gehen, soll kurz – da der Wirkungswert sich aus dem Frommen herleitet – als Entfrommung bezeichnet werden. Unter entfrommten Werten sind somit solche abhängige Eigenwerte zu verstehen, welche ihre Eigenschaft als Wirkungswerte aus irgend einem Grunde eingebüßt haben und deshalb dem Untergange verfallen sind. – Das allmälige Absterben und der Todeskampf entfrommter Wertungen ist ein typischer Process von erschütternder Tragik, welcher sich in den großen Wandlungsperioden der Menschheitsgeschichte mit unerbittlicher Strenge vollzieht. (S. 154f)

Dass alle organischen Neubildungen, welche sich allmälig entwickeln und dann constant vererben, im Kampf ums Dasein einen positiven Vorteil bringen, wird gewöhnlich behauptet und wurde hier bestritten. Dass die Geweihe den Rehen und Hirschen irgend einen Vorteil im Kampf ums Dasein bringen müssen, ist gewiss nicht zu läugnen; dieser Vorteil könnte aber ebensogut ein negativer sein, nicht in dem Sinne eines Nachteils natürlich, sondern in demjenigen eines nicht durch positive Functionen wirkenden Vorteils; – kurz: der Vorteil der alljährlichen Geweihbildung bei Rehen und Hirschen könnte möglicher Weise einzig und allein darin bestehen, dass hiedurch ein Ueberschuss an Lebenskraft, welchen vielleicht jene Arten besitzen, in unschädlicher Weise consumirt wird. (S. 162)

Wenn unsere intellectuelle Kraft nicht abnimmt, und wenn die Entwicklung des Animalischen eine bestimmte Richtung einhält, so gehen wir der Bestimmung entgegen, unseren eigenen Entwicklungsgang immer klarer zu erkennen und ausschließlicher und entschiedener zu werten. Was dieß zu bedeuten hat, kann man sich an einem drastischen Beispiel vergegenwärtigen: Wir kennen den Bienen- und Ameisenstaat mit seiner complicirten Verfassung und den vielen zweckdienlichen Institutionen, welche den Anschein haben, als hätte eine organisirende Intelligenz von hoher Ausbildung, mit weitausschauendem Zweckbewusstsein und einer unserer menschlichen vollkommen analogen Wertung des Allgemeinwoles, dieß alles so geordnet. Dennoch zeigt es sich bei näherer Beobachtung, dass die Einzelindividuen jener staatlichen Gemeinschaften auf Grund zalreicher niedriger Einzelimpulse handeln und von der hohen Zweckdienlichkeit ihres eigenen Gebahrens kein Bewusstsein besitzen. – Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass wir Menschen uns gegenwärtig in einer analogen Lage befinden. Dann werden unsere Nachkommen dahin gelangen, so wie wir in den Ameisenstaat, in unsere Institutionen hineinzublicken – mit dem Bewusstsein und der Wertung von Zielen, in deren Dienste wir gegenwärtig wirken, ohne sie zu kennen. (S. 174)

Die angenehmeren Vorstellungen erhalten einen Kraftzuschuss im Kampf um die Enge des Bewusstseins. (S. 190)

Demnach gliedert sich die specielle Wertlehre zunächst nur in zwei Teildisciplinen, in die Ökonomik, welche die sachlichen Wirkungswerte behandelt, und in die Theorie von den menschlichen Wirkungswerten, von denen jedoch nur die ethischen (welche zugleich auch Eigenwerte darstellen können) eine speciell werttheoretische Betrachtung erfordern, oder mindestens bisher veranlasst haben, da nur bei ihnen, in dem allgemeinen Bedürfniss und Bewusstsein einer Beeinflussung ihres zur Wirkung gelangenden Quantums, der Anlass zur Wertgebung (vgl. § 23) in weiteren Kreisen geboten ist. [..] Es wäre darum verfehlt, etwa der ökonomischen und ethischen Werttheorie eine ästhetische, eine scientifische, hygienische u.s.w. zur Seite zu stellen. Kunst, Wissenschaft, Gesundheit zählen – in gewisser Wortbedeutung verstanden – mit zu jenem großen Complex von Eigenwerten, welche den ökonomischen sowol wie den ethischen Wirkungswerten ihr Dasein verleihen. Die Kenntnisse verlangen. […] Nur die Rechtslehre, welche sich mit der zwangsweisen Hintanhaltung gemeinschädlicher und Herbeiführung gemeinnützlicher Handlungen befasst, verlangt außer den ethischen und ökonomischen, auf welche sie sich stützt, noch specielle Wertuntersuchungen. (S. 268f)

System der Werttheorie: Grundzüge der Ethik[…] die psychologische Untersuchung der ethischen Thatbestände. Nur eine wissenschaftliche Durchforschung jenes Phänomenengebietes, welches man in der Sprache des täglichen Lebens ziemlich übereinstimmend als dasjenige des Ethischen bezeichnet, kann darüber Aufschluss gehen, ob hier die nötigen Bedingungen für eine Ethik als absolut normativer Disciplin vorliegen, oder vielmehr eine so weitgehende Zurückhaltung, wie sie im Sinne der historisch-descriptiven Richtung liegt, geboten sei. – Darum soll hier vorläufig die Ethik als eine Psychologie der sittlichen Wertthatsachen aufgefasst und betrieben werden – vorläufig nur. (S. 5)

Man kann […] einen Begriff des Gemeinwoles auch bilden, in welchem man nicht unmittelbar auf das Gefühl, sondern in erster Linie auf das Begehren der Gesammtheit Bezug nimmt. Zwei menschliche Begehrungen können allgemein entweder auf das gleiche oder auf verschiedene Ziele gerichtet sein. Sind sie auf verschiedene Ziele gerichtet, so können diese Ziele von einander vollkommen unabhängig realisirt werden, sie können sich in ihrer Realisirung fordern oder aber auch hemmen und sogar ausschließen. Denkt man sich nun die Gesammtheit aller menschlichen Begehrungen irgend eines Culturgebietes (welches eventuell auch die ganze Menschheit umfassen könnte) zusammengestellt und nach ihrer relativen Größe sowol wie nach ihrer Richtung auf die verschiedenen Ziele fixirt, so erscheint die Aufgabe nicht undurchführbar, jene Begehrungen, welche auf miteinander irgendwie collidirende oder sich fordernde resp. identische Ziele gerichtet sind, zu compensiren und hieraus eine Resultante zu construiren, ähnlich wie die Resultante mechanischer Kräfte. Das Ergebniss einer solchen Compensation wäre dann als Ausdruck des Gesammtstrebens eine gewisse Zal auf vollkommen disparate Ziele gerichteter resultirender Begehrungen von verschiedenster Größe. Die besonders kräftigen, aus Summirung einer großen Zal auf identische oder doch nahe verwandte Ziele gerichteter Einzelbegehrungen hervorgegangenen Resultanten würden dann als Ausdruck des Begehrens der betreffenden Gesammtheit zu gelten haben. […] Wegen der […] Beziehungen zwischen Fühlen und Begehren lässt sich allerdings vermuten, dass der auf solche Art gewonnene Ausdruck des Gesammtbegehrens bei seiner praktischen Durchführung von demjenigen des Gesammtwoles im Sinne des Lust-Unlustcalcüls nicht erheblich differiren würde. (S. 45)

Wir können das Gesammtwol auch als Gesundheit der Gesammtheit fassen und unter Gesundheit einen Begriff denken, welcher weder auf das Phänomen des Begehrens noch auf die Gefühle der Lust und Unlust Bezug nimmt. Dass ein solcher Begriff nicht nur möglich sei, sondern thatsächlich bereits besteht und vielfach angewendet wird, wurde bereits daraus erwiesen, dass es uns vollkommen geläufig ist, nicht etwa nur der Thier-, sondern auch der im allgemeinen für unbeseelt gehaltenen Pflanzenwelt Gesundheit oder ihr Gegenteil, Krankheit zuzusprechen. (S. 46)[…] höchstmöglichen physischen Gesundheit der Gesammtheit […] Psychische Gesundheit heißt harmonisches Prosperiren aller seelischen Kräfte und Dispositionen, größtmögliche Fülle des psychischen Lebens in größtmöglicher Zweckmäßigkeit zur Selbst- und Arterhaltung, ohne dass hiebei etwa ein Vorwiegen der Lust über die Unlust oder des erfüllten Begehrens über das unerfüllte besonders gefordert werden müsste. Somit sehen wir, wie sich jene dritte Deutung des Gesammtwoles als größtmöglicher Gesundheit der Gesammtheit selbst wieder sowol von physischer als auch von psychischer Seite her fassen lässt. (S. 47)

Es müssen unter allen Verhältnissen die starken Geister und Charaktere – d.h. diejenigen, welchen in besonderem Maße die Fähigkeit zukommt, den Typus ihrer Individualität ihrer Umgebung aufzudrücken – die ethischen Wertungen im Sinne ihrer eigenen Interessen beeinflussen; […] (Diese ethische Machtstellung der starken Individualitäten bietet ein Analogon zu der wirtschaftlichen Machtstellung der kaufkräftigen Individuen. Wie der Güterpreis die Norm für die Güterproduction abgibt, so wird die Ausbildung menschlicher Charaktere wesentlich durch die ethischen Wertungen beeinflusst. Wie bezüglich des Preises, so liegt bezüglich der ethischen Wertungen die Voraussetzung nahe, dass in ihnen sich der Durchschnitt der Wirkungswertungen aller Beteiligten kundgebe. Wie dort, so ist hier jene Voraussetzung irrig (Vgl. hierüber F. v. Wieser „Der natürliche Werth”, namentlich S. 50 ff. sowie die dort citirten Autoren). Spiegelt sich in dem Preise die Wertschätzung der wirtschaftlich Mächtigen, d.h. Reichen, so in den ethischen Wertungen – in der specifischen „Moral” eines Wertungsgebietes – die Wertschätzung der „Starken im Geiste.” Die ethischen Beziehungen wurzeln jedoch noch viel tiefer als die analogen wirtschaftlichen, da sie nicht wie diese an eine bestimmte Eigentumsordnung gebunden, sondern in der menschlichen Natur begründet sind.) – Um das Dargelegte nur an einem einzigen Beispiele zu veranschaulichen, sei hier auf die überhohe ethische Wertung hingewiesen, welche die knechtische Treue bei Völkerschaften genießt, die sich in ihrem gesammten geistigen Gehaben dem Einfluss einer herrschenden Classe unterordnen. (S. 80)

Der erwähnte und zu erklärende Parallelismus zwischen ethischen Eigen- und Wirkungswerten findet sich indessen häufig auch dort, wo ein Wirkungswert resp. -unwert der betreffenden Objecte zwar thatsächlich vorliegt, jedoch von den Wertenden weder erkannt noch geahnt wird. So sehen wir z. B. den jungfräulichen Stolz und die Schamhaftigkeit auch bei solchen Völkerschaften ethisch hochgehalten, deren Kenntnisse oder auch nur Associationen gewiss nicht hinreichen, den Wirkungswert jener Eigenschaften für das Aufkommen eines kräftigen Nachwuchses auch nur annähernd zu ermessen. (Dieser Wirkungswert ergibt sich auch für uns vielmehr durch historischen und ethnographischen Vergleich, als durch Erkenntniss der einschlägigen, höchst verwickelten Causalbeziehungen.) – In solchen Fällen sind die ethischen Wertungen durch Spontaneität und Stammesselection zu erklären. Ein geringes Maß der betreffenden für die Arterhaltung günstigen Wertung stellte sich vermöge der allgemeinen Variationsfähigkeit ein und führte zu einer entsprechenden Kräftigung der hochgehaltenen resp. Hemmung der verabscheuten Eigenschaften. Der auf solche Art im Kampf ums Dasein geförderte Stamm vergrößerte sich und wiederholte den Vorgang bis zur Consolidirung der ethischen Wertung auf einer bestimmten Höhe. (S. 81)

Die meisten ethischen Wertungen erlöschen thatsächlich nach ihrer Entfrommung, allerdings in einem Process, der sich oft über viele Generationen erstreckt. […] (Ein Beispiel hiefür, welches bis in unsere Tage fortwirkt, bietet etwa das allmälige Absterben der ethischen Hochhaltung der sogenannten Rittertugenden, welche mit dem Aufhören des Feudalsystems und Fehdewesens, d.h. des Kriegführens im Kleinen, ihren Wirkungswert eingebüßt haben.) Ebensowenig indessen wie die ethischen Eigenwerte ausnahmslos aus Wirkungswerten hervorgegangen sind, ebensowenig verfallen sie mit ihrer Entfrommung ausnahmslos dem Untergange. Wie die mannigfachsten Luxusorgane, so können sich auch ethische Wertungen nach dem Typus der Erstarrung auf unbestimmte Zeit forterhalten. Thatsächlich sehen wir denn auch eine veraltete, „entfrommte” Moral lange Zeit in Ständen oder Völkerschaften fortleben, denen die Gunst der Verhältnisse den Kampf ums Dasein erleichtert und die Forterhaltung anspruchsvoller Luxusgebilde gestattet. […] (So ist etwa für das Volk der Inder die ethische Hochschätzung des Selbstverstümmlers keine entfrommte Wertung, da ja der Selbstverstümmler den religiösen Bedürfnissen des Volkes thatsächlich entgegenkommt, mithin einen Wirkungswert darstellt. Dagegen fällt jene ethische Wertung zusammt den religiösen Bedürfnissen, denen sie entstammt, unter den Typus der Erstarrung – oder in ihren extravagantesten Formen sogar der Entartung.)  (S. 82f)

Wie gewisse Gegenstände von allerhöchstem Nutzen, beispielsweise Luft und Wasser, wirtschaftlich als wertlos bezeichnet werden müssen, so werden auch gewisse Objecte von allerhöchstem Frommen, wie beispielsweise der Selbsterhaltungs- und der Fortpflanzungstrieb, welche ihrer Natur nach – als Gefühlsdispositionen – in die Kategorie des ethisch Gewerteten fallen könnten, dennoch weder als Eigen- noch als Wirkungswerte hochgehalten, und zwar darum, weil sie sich vermöge der herrschenden Naturgesetze bei den Menschen in solcher Verbreitung und Intensität erzeugen, dass sie im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenlebens niemals in zu geringem Maße vorhanden sind, während dieß beispielsweise von den ethisch gewerteten Arten der Menschenliebe gewiss nicht behauptet werden kann. In wirtschaftlicher Terminologie ausgedrückt: Der Vorrat bleibt hinter dem Bedarf bei den Trieben zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung niemals – bei der allgemeinen Menschenliebe stets sehr weit zurück; daher der Unterschied in der Wertschätzung. (S. 86)

Ferners ist, schon wegen der individuellen Verschiedenheiten der Menschen überhaupt, große Verbreitung mittelmäßiger moralischer Dispositionen ohne Cumulirung in einigen wenigen Hervorragenden nicht denkbar. (S. 88)[…] einem gewissen „Vorrat” an moralischen Gefühlsdispositionen die Tendenz zur Bethätigung in größtmöglichem Frommen thatsächlich innewohnt. Die Menschen nämlich, welche jene Gefühlsdispositionen besitzen, werden sie naturgemäß dort bethätigen, wo sie die vom Standpunkte jener Gefühlsdispositionen aus höchststehenden Werte für realisirbar halten. Der Mitleidige wird dort eher und mit größerer Energie eingreifen, wo er die größere Not – der Wahrheitsliebende, wo er den tieferen Irrtum zu erkennen glaubt; der Ehrliche wird dem Eide eine größere Bedeutung zumessen als einer Aussage im Gesprächston, und der Pflichtgetreue sein Amt im Staate mit noch peinlicherer Gewissenhaftigkeit verwalten als etwa dasjenige in einer Privatvereinigung u.s.w. – Aus diesen und allen analogen Entscheidungen aber ergibt sich die Tendenz der moralischen Dispositionen, sich – Irrtümer, Unkenntniss und zufällige Ungunst der Verhältnisse abgerechnet – in einer Art zu bethätigen, welche, vom Standpunkte des Gesammtwoles aus betrachtet, die größte Befriedigung schafft – also das höchste Maß an Eigenwerten verwirklicht. Hieraus ergibt sich weiter als notwendige Folgerung, dass mit einer gradweisen Vergrößerung des „Vorrates” (analog wie auf wirtschaftlichem Gebiete) nicht eine gleichmäßige, sondern eine stetig abnehmende Vermehrung des Gesammtfrommens Schritt hält. (S. 89f)

Während bei stetiger Zunahme der moralischen Gefühlsdispositionen jeder weitere Zuwachs ein um so geringeres Grenzfrommen mit sich bringen würde, gilt bezüglich der Zunahme unmoralischer Gefühlsdispositionen das genaue Gegenteil. Denkt man sich die Zal der etwa in unseren Gemeinwesen lebenden Schufte und Mordbrenner verzehnfacht, so ist leicht abzusehen, dass diese dann – vermöge der überaus erschwerten Überwachung – einen weit größeren als den zehnfachen Schaden von heute anrichten würden. (S. 91)

Ein volkspsychologischer Vergleich aber zeigt, dass jene Mäßigkeit zu Zeiten der griechischen Tragiker viel weniger entwickelt war als heute, und dass daher jedenfalls ihr Grenzfrommen seither abgenommen hat, vielleicht ganz verschwunden ist. (S. 95)

Je nach verschiedener Auffassung werden die Ansichten darüber auseinander gehen, ob eine Genossenschaft, welcher im übrigen alle Merkmale der Rechtsgenossenschaft zukommen, bei welcher jedoch die durch die Strafgepflogenheiten gestützten Normen des Verhaltens keine moralischen Maximen sind, noch als Rechtsgenossenschaft zu betrachten sei oder nicht. So etwa könnte eine Räuberbande eine bestimmte Strafe für jeden einzelnen aus ihrer Mitte aussetzen, welcher eine günstige Gelegenheit zu rauben unbenützt vorüber gehen ließe. Die durch diese Strafandrohung gestützte Norm des Verhaltens ist, wie leicht ersichtlich, das genaue Gegenteil einer moralischen Maxime. Ob man aus diesem Grunde der Räuberbande den Charakter einer Rechtsgenossenschaft abzusprechen hat, oder nicht, ist eine Frage terminologischer Festsetzung, bei welcher vielleicht nach beiden Richtungen hin gleich starke Instanzen sich geltend machen lassen. Denn wenn auch angesichts des angeführten Beispieles die Mehrzal sich negativ entscheiden würde, so würde es doch unabsehbare Schwierigkeiten mit sich bringen, wollte man nur jene thatsächlichen und codificirten Strafgepflogenheiten, welche im Sinne ethischer Maximen wirksam sind, als Rechtssätze anerkennen. In diesem Falle wären die langwierigsten und oft vermöge unseres mangelhaften Einblickes in die socialen Beziehungen gar nicht abzuschließende Untersuchungen notwendig, ehe man gewisse thatsächlich giltige, codificirte Strafgepflogenheiten selbst der Culturstaaten als Rechtssätze bezeichnen dürfte. Es ist daher am zweckmäßigsten, zwei Begriffe der Rechtsgenossenschaft und mithin auch des Rechtes anzuerkennen: den der positiven Rechtsgenossenschaft und des positiven Rechtes, welcher nicht darnach fragt, ob die aufgestellten Normen ethischen Maximen conform sind oder nicht, und denjenigen der moralischen Rechtsgenossenschaft und des moralischen Rechtes, welcher jene Forderung erhebt. (S. 129)

Es ist fraglich, ob auch nur die fundamentalsten Sätze des Strafrechtes, etwa die Strafe auf den Mord, sich in einer aller moralischen Gefühlsreactionen baren Gesellschaft durchführen und aufrecht erhalten ließen. Der Mord würde in einer solchen Gesellschaft so häufig begangen werden, die Bereitwilligkeit zur Dingfestmachung und Bestrafung der Mörder würde – da ja alle altruistischen Motive fehlten, und auch auf die Einhaltung eines betreffenden Versprechens nicht zu zälen wäre – so oft versagen, dass sich die Strafandrohung selbst wol bald als eine fictive erweisen würde. Wie nun ein moralischer Fortschritt jener Gesellschaft die Durchführung eines Strafgesetzes gegen den Mord erst ermöglichen würde, so ermöglicht jeder bedeutende allgemeine moralische Fortschritt die Aufnahme neuer Verhaltungsnormen unter die Gesetze des Rechtes und der Sitte, und so ist umgekehrt im allgemeinen auch jede beabsichtigte Neuschöpfung auf den Gebieten des Rechtes und der Sitte von einem äquivalenten Fortschritt in der allgemeinen Moralität abhängig. – Die Verkennung dieser Wahrheit wird häufig verhängnissvoll, indem so manche „Weltverbesserer” ohne Anspannung und Anrufung moralischer Kräfte die menschliche Gesellschaft durch bloße Decretirung von Gesetzen saniren zu können glauben, welche dann natürlich regelmäßig als frommer Wunsch auf dem Papier stehen bleiben. (S. 139f)

So glauben etwa Viele den socialen Wirkungswert der sexuell asketischen Triebe durch den Hinweis darauf bestreiten zu können, dass, „wenn alle Menschen so beschaffen wären” – dann die Menschheit aussterben müsste. – Aber dieß steht thatsächlich gar nicht in Frage; es ist gar keine Gefahr vorhanden, dass jene Dispositionen sich auf alle oder auch nur auf die Mehrzal der Menschen verbreiten; die Frage ist nur, ob unter gegebenen Verhältnissen die Menschen mit jenen asketischen Dispositionen dem Wole der Gesammtheit einen höheren Nutzen bringen, als die sexuell Begehrlichen unter übrigens gleichen Umständen; und diese Frage muss angesichts der Empirie oft entschieden bejaht werden. (S. 228)

Allerdings erscheinen wenig Sätze so selbstverständlich wie der, dass die Welt doch um so viel schöner wäre, wenn es mehr gute und weniger schlechte Menschen gäbe. Diejenigen, welche diesen Satz mit soviel Bestimmtheit aussprechen, bedenken jedoch nicht, dass das Menschengeschlecht nur über ein bestimmtes Maß von Lebenskraft verfügt, und dass ihre Betrachtung mithin möglicher Weise etwa derjenigen gleich zu achten ist, welche der Phantasie sich auszumalen anheimstellt, um wie viel schöner die Welt wäre, wenn der Mensch Flügel hätte. – Wol ergibt sich hiebei, wenn man über einen ungemessenen Vorrat von Lebenskraft verfügt, ein höchst anziehendes Bild – weniger aber, wenn man sich etwa die Aufgabe vorsetzt, es müsse jenes Flugorgan aus den vorhandenen Lebenskräften erzeugt, und der übrige Organismus dabei so umgeformt werden, dass er mit dem zurückbleibenden geringeren Maße noch lebensfähig sei. Als erste Forderung würde sich jedenfalls eine bedeutende Reduction des Großhirns einstellen, und nach Durchführung sämmtlicher hieraus erfolgender Consequenzen würde das Ergebniss sicherlich weniger einem Engel, als – einem Vogel gleich sehen. – Eine ähnliche Enttäuschung nun könnte auch demjenigen drohen, welcher mit der der Menscheit nun einmal verfügbaren Lebenskraft das Verhältniss zwischen den moralischen, den amoralischen (d.h. moralisch indifferenten) und den unmoralischen Gefühlsdispositionen zu Gunsten der ersteren und zu Ungunsten der letzteren wesentlich zu modificiren versuchte. Dieß wird besonders einleuchten, wenn man bedenkt, dass die moralischen Dispositionen durchgängig in Bezug auf Lebenskraft sehr anspruchsvolle Fähigkeiten sind, die unmoralischen aber zum weitaus größten Teil im Mangel an jenen moralischen, also in einer partiellen Gemüttsschwäche bestehen. Alle Arten von Liebe erfordern ein lebhaftes sich Hineindenken und Hineinfühlen in fremde Wesen – auf Grund von oft recht dürftigen Sinnesdaten (etwa einem bedruckten Blatt Papier, welches von dem wirtschaftlichen Elend eines Districtes berichtet); – dass ein solches Miterleben und Mitfühlen im Vergleich zum stumpfen Egoismus ein bedeutendes Mehr an Lebenskraft consumirt, ist wol einleuchtend. Ähnlich aber verhält es sich mit den übrigen moralischen Dispositionen. Wer also mit der vorhandenen Lebenskraft die moralischen Eigenschaften wesentlich zu vermehren versuchte, der müsste die übrigen zur gesunden Entwicklung des Lebens vielleicht unentbehrlichen Fähigkeiten um ein entsprechendes reduciren, und das Ergehniss wäre vielleicht nicht ein in psychischer und physischer Schönheit erblühendes, glückseliges Geschlecht, welches den Himmel auf die Erde versetzte, sondern eine anämische, nervös überreizte Gesellschaft, welche aus Übermaß von Mitleidigkelt und Pflichtgefühl den naiven Lebensmut und die unverfrorene Lebenslust eingebüßt hätte und an Pessimismus und moralischer Hyperästhesie allmälig dahinsiechte. – Was aber die unmoralischen Dispositionen betrifft, welche nicht in einem Mangel, sondern in positiven Fähigkeiten beruhen, und deren Einschränkung mithin zu allermeist den Anschein der Förderlichkeit für das Gesammtinteresse an sich tragen könnte, so ist zu bedenken, dass sie in dem Lebensprocess der menschlichen Gesellschaft (ähnlich wie viele der sogenannten schädlichen Thiere im Haushalte der Natur) mannigfache Functionen verrichten, und ihre vollkommene Streichung oder wesentliche Reducirung von Nachwirkungen begleitet sein könnte, welche sich bei unserer unvollkommenen Kenntniss von den sociologischen Zusammenhängen gar nicht ermessen und vorausbestimmen lassen. So z.B. kann große moralische Verruchtheit an relativ wenigen Ausnahmsindividuen ohne Zweifel als Contrasterscheinung moralisch fordernd wirken; zugleich wirkt sie festigend auf die Solidarität und die gemeinen Schutzmassregeln der moralisch Gutgesinnten, belebt das psychologische Interesse, gibt der Phantasie Nahrung und Anregung u.s.w. (S. 230f)

Die sicherste Gewähr für inneren Frieden wird unter den normal Veranlagten derjenige sich erringen, welcher sich bestrebt, den Gang der Entwicklung, wie er durch die Natur der Dinge gegeben ist, klar und unbefangen zu erkennen (dem Weltenliede gleichsam seinen Klang abzulauschen) – und das Erkannte aus vollster Seele zu lieben. Wer, von dieser Überzeugung durchdrungen, der Stimme des individualethischen Gewissens folgt, der wird – weit entfernt von der promethidenhaften Überhebung, welche einen „moralischen Standpunkt” selbst der Welt zum Trotz festhalten zu können vermeint – in der Liebe zu dem Gange der Entwicklung, so wie er thatsächlich ist, die individual vornehmste ethische Kraft erblicken, und mithin das Reale als solches heilig halten. (S. 254f)

In Bezug auf die übrigen Wissenschaften also wird die „Psychologie der ethischen Wertthatsachen”, wie sie hier ausgeführt wurde, als theoretisch-praktische Disciplin zu betrachten sein. (S. 257)

Aufgabe der praktischen Ethik ist somit die Taxirung sämmtlicher herrschender socialer Verhaltungsregulatoren auf ihre Zielmäßigkeit hin und die Conception neuer, zielmäßiger, an Stelle der überlebten, zielwidrigen. (S. 258)

Insoferne umschließt die praktische Ethik auch die Politik und die National- resp. Socialökonomik. (S. 259)

Unsere Ablehnung der absoluten Werthypothese schließt die Auffassung der praktischen Ethik als einer absolut normativen Disciplin mit Imperativen von streng allgemein verpflichtender Kraft aus. Wol aber unterscheiden sich die Imperative der praktischen Ethik von denjenigen aller übrigen praktischen Disciplinen dadurch, dass sie eine nahezu allgemeine thatsächliche Wirksamkeit besitzen. Die Wirksamkeit der Imperative der Pädagogik, der Therapeutik, der Brückenbaukunde ist an die Voraussetzung eines gewissen thatsächlichen Begehrens gebunden, und für denjenigen nicht vorhanden, der gar nicht den Wunsch und die Absicht besitzt, einen Menschen zu erziehen, zu heilen, oder eine Brücke zu bauen; deren gibt es aber viele, so dass von jenen Imperativen jeder nur für einen beschränkten Kreis unter den Menschen Geltung besitzt. Die Wirksamkeit der Imperative der praktischen Ethik ist nun allerdings auch an die Voraussetzung gewisser thatsächlicher Begehrungen gebunden – welche im Verlaufe dieser Untersuchungen wiederholt namhaft gemacht wurden –; diese übergeordneten Begehrungen aber unterscheiden sich von denjenigen der anderen praktischen Disciplinen dadurch, dass sie, wenn auch nicht überall in gleicher Vollzal und Kraft, doch zu Teilen ausnahmslos in jedem normal entwickelten, zur Entfaltung seiner Anlagen gereiften Menschen vorhanden sind, und zwar nicht nur bezüglich seines eigenen, sondern auch bezüglich des Verhaltens aller seiner Mitmenschen – in welch letzterer Hinsicht die übrigen praktischen Disciplinen gar kein Analogon besitzen, indem kein Unbeteiligter von dem anderen verlangt, er solle Pädagog, Arzt oder Brückenbauer werden – dagegen ein Jeder von einem Jeden, dass er die Forderungen der Ethik erfülle. – Mit Bezug auf diese doppelte, nahezu ausnahmslose Allgemeinheit der thatsächlichen Geltung aber könnte man die Imperative der Ethik und ihre übergeordneten Wertungen als ,,empirisch” oder „physisch” absolute bezeichnen – analog wie man der nur durch unmittelbare Einsicht oder Deduction zugänglichen ,,logischen” die durch Induction erreichbare „empirische” oder ,,physische” Gewissheit zur Seite stellt. (S. 260f)

Grundbegriffe der Ethik

Aufgabe der Ethik ist die intellektuelle Belehrung des Willens zum sittlich Guten, – nicht etwa dessen Erweckung. – Der Wille zum sittlich Guten ist in erster Linie Ergebnis der angeborenen Veranlagung, – in zweiter der Erziehung. Und in der Erziehung selbst sind die Wirkungen der sittlichen Ermahnungen verschwindend klein gegen diejenigen der Lebensführung, des Beispiels, der Suggestion. (S. 3)

Den Gegenstand der Ethik und der Moral bilden gewisse Billigungen und Missbilligungen, die wir mit einem umfassenden Ausdruck die sittlichen nennen und die jedem bekannt sind, der die Gefühle der moralischen Anerkennung oder Entrüstung – sei es gegen sich selbst oder gegen andere gerichtet – in eigener Erfahrung erlebt hat. (S. 3)

Die gemeinsame Quelle von moralischem Imperativ und ethischer Wertung ist daraus zu erkennen, dass beide Arten der Billigung und Missbilligung von denselben Prinzipien geleitet werden. Und zwar wird – hier wie dort – missbilligt das Gemeinschädliche, dagegen gebilligt das, was für die Gemeinschaft, das heisst also für das Wohl der Gesamtheit, wertvoll ist. Was gemeinschädliche Kategorien von Handlungen (z.B. Mord und Diebstahl), was gemeinschädliche Charaktereigenschaften sind (z.B. Grausamkeit, Teilnahmslosigkeit gegen fremdes Wohl und Wehe, Falschheit, als Freude am Lügen und Irreführen) – bedarf keiner weiteren Erläuterung, – wenn festgehalten wird, dass die Gemeinschädlichkeit nur die Regel betrifft und Ausnahmen nicht ausschliesst. (So z.B. kann der Mord – etwa an einer gemeinschädlichen Person – und die Grausamkeit des Mörders ausnahmsweise gemeinnützig wirken, ohne doch darum schon moralisch zu werden.) […] Nur das Nützliche ist zugleich wertvoll, welches, in bezug auf den Nutzen, den es stiften könnte, selten vorkommt, so dass es der hegenden und mehrenden Fürsorge derer bedarf, die an seinem Dasein interessiert sind. […] In ähnlicher Weise sind der Nahrungstrieb, der Selbsterhaltungstrieb, der Geschlechtstrieb, der Erwerbstrieb, sowie die diesen Trieben entsprechenden Kategorien von Handlungen, trotz ihres hohen, ja unermesslichen Nutzens für das Wohl der Gesamtheit, sittlich wertlos, weil sie in dem für das Wohl der Gesamtheit erforderlichen Mass, ja oft sogar im Übermass gegeben sind. Dagegen sind Menschenliebe, Wahrheitsliebe, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, sowie die ihnen entsprechenden Kategorien von Handlungen, sittlich wertvoll. Denn im Interesse des Wohles der Gesamtheit wäre es zu wünschen, dass diese Charaktereigenschaften und die ihnen entsprechenden Kategorien von Handlungen – die wir von nun an, zur Unterscheidung von dem nur Gemeinnützlichen, als gemeinförderlich bezeichnen wollen – noch viel häufiger vorkämen, als dies tatsächlich der Fall ist. Sie bedürfen daher von seiten der Gesamtheit einer hegenden und mehrenden Sorgfalt. Und der Ausdruck dieser Sorgfalt ist eben die sittliche Billigung und eventuell Hochschätzung. (S. 5f)

Als moralisch verdienstlich bezeichnet man die Handlungen, welche, ausgeführt, einen hohen Grad der Billigung – also Hochschätzung oder gar Bewunderung – erwecken, und deren Unterlassung daher gar keiner oder nur geringer Missbilligung unterliegt. […] Als moralische Pflicht bezeichnet man die Handlungen, welche, ausgeführt, nur einen geringen Grad der Billigung erwecken, deren Unterlassung aber eine intensive Missbilligung herausfordert. […] Moralisch indifferent heisst das, was weder zu einer sittlichen Billigung noch Missbilligung Anlass bietet. Vom moralisch Indifferenten zu unterscheiden ist das Amoralische, welches einer Kategorie angehört, auf die sittliche Billigung und Missbilligung überhaupt keine Anwendung finden, – wie z.B. angeborene Gesundheit, intellektuelle Begabung, Erkenntnis und Irrtum. (S. 7)

Die Moral ist bis zu gewissem Grade für Männer und Frauen, für Personen im jugendlichen, im reifen, im Greisenalter, für Angehörige der verschiedenen Stände differenziert. (S. 9)

Im Gegensatze zu allen derartigen retardierenden Tendenzen besteht die biologisch wichtigste Aufgabe auf dem Gebiete von Moral, Sitte und Recht darin, dort, wo das Geltende den tatsächlichen Werten widerstreitet, das aufzufinden, was den Bedürfnissen der Gegenwart und der anbrechenden Zukunft in Wirklichkeit entspricht, und dem in dieser Beziehung Aufstrebenden zum Durchbruch und zum Siege zu verhelfen. (S. 20)

Unter dem Natürlichen versteht man nun in erster Linie dasjenige an menschlichen Erzeugnissen und Einrichtungen, und speziell auch an Moral, Sitte und Recht, was jenem festen Grundstock biologischer Werte förderlich, oder auf dessen richtige Erkenntnis fundiert ist, – während man als unnatürlich das bezeichnet, was dem so definierten Natürlichen widerstreitet. […] Verwandt mit dieser, und deswegen zur Verwechslung doppelt gefährlich, ist die Bedeutung des Natürlichen als des Ursprünglichen, möglichst Primitiven, ja – des Tierischen im Gegensatz zum künstlich oder verkünstelt Menschlichen. […] Die Sitten der gegenwärtig wild lebenden Völker aber sind oft das dem normal Natürlichen Allerentgegengesetzteste, – nämlich Degenerationserscheinungen von auf den Aussterbeetat gesetzten Menschenstämmen. Die normal natürliche Sitte ist zugleich eine gesund natürliche, weil sie das verlangt, was für die Gesundheit der Gesamtheit am zweckdienlichsten ist. (S. 21f)

Dagegen geben sich in den Ausdrücken „Naturrecht” – auch „Menschenrecht” – „natürliche Sitte und Moral” auch gegenwärtig noch oft Nachklänge der von der Geschichte und Biologie längst widerlegten Annahme eines goldenen, paradiesischen Zeitalters in ferner Vergangenheit kund, – Reste von der Überzeugung, dass die eigentliche und tiefste Natur des Menschen durchaus gut und moralisch sei, und dass es bei aller ethischen Reformarbeit bloss darauf ankomme, das Unverdorbene im Menschen wieder zu erwecken und zur Geltung zu bringen. Oft endlich versteht man unter dem Natürlichen das, was den tatsächlichen biologischen Werten angemessen ist, – auch wenn es nicht jenem – früher näher charakterisierten – dauernden Grundstock derselben zugehört. – Wir wollen dies im folgenden nicht als das Natürliche, sondern als das Richtige oder Hygienische in Moral, Sitte und Recht bezeichnen, welchem somit das Falsche, für das Wohl der Gesamtheit Schädliche, Unhygienische gegenübersteht. Nach unserer Terminologie kann also das Unnatürliche (das dem normal Natürlichen Entgegengesetzte) in Moral, Sitte und Recht unter gewissen Voraussetzungen zugleich das Richtige sein, – aber niemals dauernd, sondern immer nur für bestimmte, zeitlich begrenzte Phasen der Entwicklung. (So z.B. der Despotismus, die Askese, die Sklaverei.) Die metaphorische (also nur bildlich zu verstehende) „Richtigkeit oder Unrichtigkeit” von Moral, Sitte und Recht ist somit – im Gegensatz zur eigentlichen (logischen) Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung – eine relative, das heisst an wechselnde Bedingungen gebundene, und daher zeitlich und örtlich oft wechselnde. […] Nicht relativ dagegen, – oder mindestens keinem relativen Wechsel unterworfen, sondern mit der Natur des Menschen gegeben und mit dieser dauernd verknüpft, – ist das normal Natürliche in Moral, Sitte und Recht, – und das Richtige, insoweit es sich mit diesem Natürlichen deckt. (S. 22f)

So z.B. war für die erste Hälfte des Mittelalters die christliche Hochschätzung der Mönchstugenden sicher zu Recht bestehend, und der Einwand durchaus hinfällig, dass bei allgemeiner Verbreitung dieser Tugenden – zu denen ja auch die absolute sexuale Abstinenz zählt – die Menschheit auf den Aussterbeetat gesetzt würde. (Die Gefahr hierfür war nämlich – dank der Intensität des Sexualtriebes – auch durch die überschwenglichste sittliche Hochschätzung der mönchischen Keuschheit mit nichten nahe gerückt, – wohl aber war die erzieherische Einwirkung der vollkommen Abstinenten auf ihre Umgebung eine sehr heilsame.) Dagegen wäre es damals ebenso unsinnig gewesen wie heute, die absolute sexuale Abstinenz zum Gegenstand eines moralischen Imperatives machen zu wollen und (wie etwa Leo Tolstojes versucht) alle menschlichen Fortpflanzungsakte mit moralischer Verurteilung zu belegen. (S. 24)

Schon Aristoteles hat darauf hingewiesen, dass der ethische Durchschnittstypus – die für die Allgemeinheit zu erwünschende Veranlagung – inbezug auf die einzelnen Gefühls- und Willensdispositionen stets ein Mittel zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel darstelle. – Und tatsächlich können ja auch die ethisch höchststehenden Dispositionen – wie z.B. allgemeine Menschenliebe, Wahrheitsliebe – an einzelnen Individuen in einem Masse verwirklicht sein, dessen allgemeine Verbreitung zu einer biologisch unhaltbaren Verausgabung der Kräfte führen würde. (S. 24)

Erwägt man, dass – in unseren Kulturstaaten – die Kinder bis zur Erreichung der Mündigkeit fast ausnahmslos, in den oberen Klassen aber auch noch die jungen Männer und Frauen bis zur Volljährigkeit, durch die Arbeit anderer erhalten und ausgebildet werden, so gelangt man zur Erkenntnis, dass – in kaufmännischer Sprache ausgedrückt – jeder Arbeitsfähige in seiner eigenen Person eine Kapitalsinvestitur zu verwalten hat, deren bis zur Amortisation fortschreitende Fruchtbarmachung durch gemeinnützige Arbeitsleistungen er der Gesellschaft schuldet. – Hieraus ergibt sich nun für jeden Einzelnen unmittelbar schon die sozialmoralische Pflicht, seine eigene Leistungsfähigkeit im Dienste des Gesamtwohles nach Kräften zu hegen, womöglich zu steigern, jedenfalls sie möglichst lange zu erhalten und den ihr am besten entsprechenden Arten der Betätigung zuzuführen. – Dies ist es, was unter dem populären Ausdruck der „Pflichten des Einzelnen gegen sich selbst” allgemeine Anerkennung findet. (S. 28)

Ebenso muss zugestanden werden, dass jedes Individuum seine besonderen Nahrungs- und hygienischen Bedürfnisse besitzt. Gleichwohl liegt es keineswegs in der Willkür eines Menschen, sich selbst vorzuschreiben, welche Speisen für seine Ernährung, welche Lebensweise für seine Gesundheit am zuträglichsten seien. – Obwohl individuell differenziert, ist er hier doch an die Gesetze seiner eigenen Natur gebunden. Ja, er wird nicht einmal immer selbst das beste Urteil darüber besitzen, was für ihn das Gesündeste ist, sondern dessetwegen oft die Kenntnisse und Erfahrungen des Arztes zu Rate ziehen müssen. – Nicht anders verhält es sich mit dem, was uns individualmoralisch zuträglich ist. Obwohl von unserer Eigenart mit abhängig, ist es doch nicht unserer Willkür unterworfen. […] Oft fasst man den moralischen Individualismus in den Satz: – Pflicht eines jeden Menschen ist, – ohne irgendwelche Rücksichtnahme auf seine Umgebung – seine besonderen individuellen Fähigkeiten zu erforschen und sie zu möglichst vollkommener Ausbildung zu bringen. – „Und wenn diese individuellen Fähigkeiten in einer besonderen Veranlagung zum Hochstapler, zum Massenmörder – oder auch nur zum Faullenzer, zum Genussmenschen bestehen, – wie dann?” – Die Beantwortung dieser so naheliegenden Frage wird von den Vertretern des moralischen Individualismus mit bemerkenswerter Konsequenz umgangen; – würde sie ja doch diese voreiligen Moralisten zur Anerkennung der von der Sozialmoral abhängigen „Pflichten gegen uns selbst” zwingen und hiermit ihrer erträumten Selbstherrlichkeit ein jähes Ende bereiten! […] Da man allgemeine Normen nicht an individuelle Besonderheiten anpassen kann, so gibt es keine normative Individualmoral. Die normative Moral ist vielmehr identisch mit der richtigen (d.h. auf richtige Schätzung der biologischen Werte gegründeten Sozialmoral, – mit dem alleinigen Vorbehalt, dass es jedem Individuum freistehen müsse, an der Sozialmoral jene Modifikationen vorzunehmen, welche – nicht etwa seiner Willkür am meisten entsprechen – sondern die es vor dem Tribunal des Ewigen und Unerforschlichen zu verantworten vermag. – Diese individualmoralische Lizenz wird namentlich bedeutungsvoll in Zeiten moralischer Entwicklungsphasen, in denen ein Teil der von der Mehrzal noch aufrecht erhaltenen ethischen Wertungen und moralischen Imperative bereits als überlebt zu erkennen, – das Richtige aber, an dessen Stelle zu treten Berufene noch dunkel und strittig ist und sich noch auf die Gefolgschaft kleiner, zerklüfteter Parteien stützt. Hier wird es für den einen individualmoralisch geboten sein, sich an das überlieferte Alte zu klammern, – für den anderen sich auf das gefährliche Feld der ethischen Reform oder gar Revolution hinauszuwagen. Der Ethiker aber hat in diesem Falle auf der einen Seite die alte, überlebte Moral darzustellen, auf der anderen die aufstrebende, die er für die richtige hält, – und es dem Individuum zu überlassen, nach welcher es sich entscheide. (S. 29f)

Haupt-Sidebar

Jetzt Zugang erhalten!

Wenn Sie bereits Unterstützer sind, bitten wir Sie Ihr Passwort einmalig zurückzusetzen, um sich anmelden zu können. Mehr erfahren

Copyright © 2021 | scholarium

  • Datenschutzerklärung
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Inhalte
  • Studium