Der provokanteste Rothbard-Schüler.
Hans-Hermann Hoppe (geb. 1949 in Peine)
Ausgewähltes Werk:
- Economic Science and the Austrian Method, Ludwig von Mises Institute, Auburn, Alabama 1995, 7-27 (übersetzt von Eugen Maria Schulak).
Textauszüge (62 Fragmente):
Praxeologie und ökonomische Wissenschaft[1]
(1) Es ist hinreichend bekannt, dass die Österreichische Schule sich von anderen ökonomischen Traditionen – wie etwa der Historischen Schule, den Keynesianern, Monetaristen, Public Choice Theoretikern, Institutionalisten und Marxisten – grundlegend unterscheidet. Besonders deutlich zeigt sich dieser Unterschied in den ökonomischen Grundsätzen und Methoden. Ungeachtet dessen kommt es zeitweilig zu Allianzen zwischen den Austrians und speziell der Schule von Chicago sowie den Public-Choice-Leuten: Ludwig von Mises, Murray N. Rothbard, Milton Friedman und James Buchanan etwa findet man oft als Verbündete, wenn es darum geht, die Ökonomie des freien Marktes gegen seine „liberalen“ und sozialistischen Kritiker zu verteidigen.
(2) Doch wie wichtig solche gelegentlichen Einigungen aus taktischen und strategischen Gründen auch sein mögen, sie bleiben stets oberflächlich und decken die fundamentalen Unterschiede, die zwischen der Österreichischen Schule, vertreten durch Mises und Rothbard, und dem Rest nun einmal bestehen, bloß zu. Der ultimative Gegensatz, von dem alle Meinungsverschiedenheiten in der ökonomischen Theorie und Methode hergeleitet werden können – Meinungsverschiedenheiten etwa betreffend den Vorzügen eines Goldstandards versus einem „Geld aus Nichts“, Bankenfreiheit versus Zentralbank-System, Auswirkungen von Märkten auf die allgemeine Wohlfahrt versus staatliche Wohlfahrtsmaßnahmen, Kapitalismus versus Sozialismus, Zinsstrukturtheorie versus Konjunkturzyklustheorie – liegt in der Antwort auf die allererste Frage, die sich wohl jeder Ökonom stellen muss: Was ist der Gegenstand der Ökonomie, und um welche Art von Aussagen handelt es sich bei ökomischen Lehrsätzen?
(3) Die Antwort von Mises lautet, dass Ökonomie die Wissenschaft vom menschlichen Handeln ist. Dies klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich kontroversiell. Dann aber schreibt Mises hinsichtlich der Ökonomie als Wissenschaft folgendes: „Ihre Aussagen und Lehrsätze werden nicht aus der Erfahrung abgeleitet. Sie sind, wie jene der Logik und Mathematik, a priori. Sie unterliegen nicht der Verifikation und Falsifikation auf Grund von Erfahrungen und Fakten. Sie sind sowohl logisch als auch zeitlich früher als alles Begreifen von historischen Daten. Sie sind die notwendige Bedingung für jedes vernünftige Begreifen historischer Ereignisse.“[2]
(4) Um das Wissensgebiet der Ökonomie zu veranschaulichen und ihren Rang als reine Wissenschaft – eine Wissenschaft, die mehr noch mit der Logik als mit den empirischen Naturwissenschaften gemeinsam hat – angemessen zur Geltung zu bringen, schlägt Mises den Begriff „Praxeologie“ vor, was so viel wie „Logik des Handelns“ bedeutet.[3]
(5) Hierin unterscheiden sich die Anhänger der Österreichischen Schule – oder präziser die Anhänger von Mises – von allen anderen ökonomischen Schulen der Gegenwart: Dass sie Ökonomie als eine a priori Wissenschaft betrachten, als eine Wissenschaft, die Lehrsätze enthält, die als präzise logische Begründungen bestimmt sind. Alle anderen Schulen verstehen Ökonomie als eine empirische Wissenschaft, wie etwa die Physik, in der Hypothesen entwickelt werden, die ständig überprüft werden müssen. Demnach halten sie die Auffassung von Mises, dass ökonomische Lehrsätze existieren, die eindeutig als bewiesen gelten können, weil gezeigt werden kann, dass man sich in Widersprüche verwickelt, wenn man versucht, ihre Gültigkeit abzustreiten – Lehrsätze, wie etwa das Gesetz des Grenznutzens, das Gesetz des Ertrags, die Zeifpräferenztheorie der Zinses oder die Österreichische Konjunkturzyklus-Theorie – für unwissenschaftlich und dogmatisch.
(6) Die Ansicht von Mark Blaug, der für den erkenntnistheoretischen Mainstream hochgradig repräsentativ ist, illustriert diese nahezu universelle Opposition zum Denken der Österreichischer. Blaug sagt über Mises: „Seine Schriften über die Grundlagen der Ökonomie sind derart exzentrisch und idiosynkratisch, dass man sich nur wundern kann, dass sie überhaupt von irgend jemandem erstgenommen worden sind.“[4]
(7) Blaug liefert kein einziges Argument, um seinen Unmut zu begründen. Sein Kapitel über die Österreichische Schule endet schlicht mit dieser Aussage. Kann es sein, dass Blaug und andere das aprioristische Denken von Mises deshalb ablehnen, weil die argumentative Strenge einer aprioristischen Erkenntnistheorie für sie zu viel Beweiskraft hat?[5]
(8) Was hat Mises überhaupt dazu veranlasst, Ökonomie als a-priori-Wissenschaft zu bestimmen? Aus heutiger Sicht mag es überraschen, dass Mises seine Auffassung durchaus nicht als eine Abweichung von den im frühen 20. Jahrhundert üblichen Ansichten verstanden hat. Er hatte nicht die Absicht, den Ökonomen Vorschriften zu machen, die im Gegensatz zu dem stehen, was sie tatsächlich tun. Im Gegenteil: Mises sah seine Leistung als Wirtschaftsphilosoph darin, systematisch zu verdeutlichen, was ökonomische Wissenschaft tatsächlich ist und wie sie von nahezu jedem, der sich selbst als Ökonom bezeichnet, stillschweigend verstanden wird.
(9) In der Tat konnte Mises das früher bloß implizit vorhandene und unausgesprochene Wissen systematisch erklären. Dabei führte er einige konzeptionelle und terminologische Unterscheidungen ein, die, zumindest im englischsprachigen Raum, bislang unklar und unbekannt waren. Dennoch befand sich seine wissenschaftliche Position im Wesentlichen in voller Übereinstimmung mit der damals orthodoxen Sichtweise. Mainstream-Ökonomen wie Jean Baptiste Say, Nassau Senior oder John E. Cairnes verwendeten zwar nicht den Begriff „a priori“, beschrieben die Wissenschaft der Ökonomie aber in recht ähnlicher Art und Weise.
(10) Say schreibt: „Eine Abhandlung über politische Ökonomie … wird sich auf die Kundgebung von ein paar allgemeinen Gesetzmäßigkeiten beschränken, die nicht einmal die Unterstützung von Beweisen oder Erläuterungen benötigen; denn sie werden lediglich der Ausdruck dessen sein, was ohnehin jedermann weiß, arrangiert in einer Form, die geeignet ist, sie zu verstehen, sowohl in ihrem ganzen Umfang als auch in ihrem Verhältnis zueinander.“ Und „Immer dann, wenn die Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie, die ihre Basis ausmachen, strenge Deduktionen unleugbarer allgemeiner Fakten sind, ruhen sie auf einer unerschütterlichen Grundlage.“[6]
(11) Laut Nassau Senior bestehen „die Vorraussetzungen der Ökonomie aus ein paar allgemeinen Lehrsätzen, die das Ergebnis von Beobachtungen oder eines Bewusstseins sind und die kaum eines Beweises oder selbst einer formellen Erklärung bedürfen, da nahezu jeder Mensch, der sie hört, zugeben muss, dass sie ihm gedanklich vertraut oder sie in seinem bisherigen Wissen zumindest enthalten sind; und seine Schlussfolgerungen sind dann beinahe ebenso allgemein gültig, und, wenn er sie genau durchdacht hat, auch ebenso sicher wie seine Prämissen.“ Ökonomen sollten sich dessen „bewusst sein, dass die Wissenschaft mehr am Denken als an der Beobachtung hängt und dass ihre vornehmliche Problematik nicht in der Erhebung von Fakten, sondern im Gebrauch der Begriffe besteht.“[7]
(12) Und John E. Cairnes bemerkt, dass während „die Menschheit kein unmittelbares Wissen von den letzten physikalischen Prinzipien hat“ … „der Ökonom mit einem Wissen von den letzten Ursachen beginnt.“ … „Der Ökonom kann demnach als jemand betrachtet werden, der bereits am Anfang seiner Forschungen im Besitz jener letzten Prinzipien ist, die all jene Phänomene, welche den Gegenstand seiner Untersuchung ausmachen, steuern, eine Entdeckung, die im Fall physikalischer Ermittlungen für den Fragesteller wohl die schwierigste Aufgabe wäre.“ „Vermutungen wären [in der Wissenschaft der Ökonomie] offenkundig unangebracht, insofern, als wir in unserem Bewusstsein und im Zeugnis unserer Sinne … einen direkten und einfachen Beweis für all das besitzen, was wir zu wissen wünschen. Dementsprechend braucht es im Rahmen der politischen Ökonomie zur Entdeckung der letzten Gründe und Gesetze auch keine Hypothesen.“[8]
(13) Menger, Böhm-Bawerk und Wieser, die Vorgänger von Mises, waren der gleichen Ansicht: Sie beschrieben die Wissenschaft der Ökonomie als eine Disziplin, deren Lehrsätze – im Unterschied zu jenen der Naturwissenschaften – als letzte Begründungen bestimmt werden können. Sie machten dies, wie gesagt, ohne die Terminologie zu verwenden, die Mises benutzt hat.[9]
(14) Letztlich hielt man auch die erkenntnistheoretische Beschreibung der Ökonomie von Mises für durchaus konventionell und mit Sicherheit nicht für idiosynkratisch, wie dies Blaug behauptet hat. Lionel Robbins` Buch The Nature and Significance of Economic Science, das erstmals 1932 erschien, ist nichts anderes als eine Art abgespeckte Version von Mises` Beschreibung der Ökonomie als Praxeologie. Es wurde vom Berufsstand der Ökonomen respektiert und galt sogar nahezu 20 Jahre lang als Leitstern auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie.
(15) In der Tat hebt Robbins in seiner Einleitung Mises als die maßgebliche Quelle seiner eigenen erkenntnistheoretischen Position deutlich hervor. Mises und Richard von Strigl – dessen Position von jener von Mises im Wesentlichen nicht zu unterscheiden ist[10] – werden im Text zustimmend zitiert, und zwar öfter als irgendjemand anders.[11]
(16) Doch wie aufschlussreich dies alles zur Beurteilung der gegenwärtigen Sitution auch sein mag, das ist bloß der historische Hintergrund. Was war die grundsätzliche Überlegung, die dazu führte, dass die klassischen Ökonomen ihre Wissenschaft für gänzlich anders als die Naturwissenschaften hielten? Und warum hat Mises diesen Unterschied noch einmal ausdrücklich als einen Unterschied zwischen einer a priori Wissenschaft und einer aposteriori Wissenschaft rekonstruiert? Es war die Erkenntnis, dass in jenen beiden Forschungsfeldern der Prozess der Validierung – jener Prozess, der dazu dient, herauszufinden, ob Lehrsätze wahr sind oder nicht – grundsätzlich verschieden ist.
(17) Richten wir unser Augenmerk einmal kurz auf die Naturwissenschaften. Wie können wir wissen, was die Konsequenzen sein werden, wenn wir ein von Natur aus gegebenes Material speziellen Untersuchungen unterziehen, sagen wir einmal, wenn wir es mit einem anderen Material vermischen? Offensichtlich können wir vorher nicht wissen, was geschehen wird, bevor wir es tatsächlich ausprobiert haben. Wir können freilich eine Vorhersage machen. Aber eine solche Vorhersage ist hypothetisch und es sind Beobachtungen erforderlich, um herauszufinden, ob wir auf der richtigen oder auf der falschen Fährte sind.
(18) Darüber hinaus, selbst wenn wir bereits irgendein definitives Ergebnis beobachtet haben, beispielsweise, dass die Vermischung zweier Materialien zu einer Explosion führt, können wir sicher sein, dass dieses Ergebnis immer und ausnahmslos auftreten wird? Noch einmal, die Antwort ist nein. Unsere Vorhersagen werden immer noch, und noch dazu dauerhaft, hypothetisch sein. Denn es ist möglich, dass eine Explosion immer nur dann erfolgt, wenn bestimmte andere Bedingungen – A, B und C – erfüllt sind. Um herauszufinden, ob dies der Fall ist oder nicht und um welche anderen Bedingungen es sich überhaupt handelt, müssen wir sie einem endlosen Prozess von Versuch und Irrtum unterziehen. Dies hilft uns, unser Wissen über den Anwendungsbereich unserer ursprünglich hypothetischen Vorhersage zunehmend zu verbessern.
(19) Wenden wir uns nun einigen typischen ökonomischen Lehrsätzen zu. Betrachten wir etwa den Prozess der Validierung anhand eines Lehrsatzes wie dem folgenden: Immer dann, wenn zwei Personen (A und B) sich auf einen freiwilligen Tauschakt einlassen, müssen beide erwarten, von diesem zu profitieren. Sie müssen für die zu tauschenden Güter und Dienstleistungen verkehrte Präferenzordnungen haben, so dass A dasjenige, was er von B erhält, höher bewertet als das, was er B dafür gibt; und B muss die zu tauschenden Dinge genau umgekehrt bewerten.
(20) Oder prüfen wir folgenden Lehrsatz: Immer dann, wenn ein Tauschakt nicht freiwillig, sondern erzwungen ist, profitiert eine Partei auf Kosten der anderen.
(21) Oder das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens: Immer dann, wenn der Vorrat eines Gutes um eine zusätzliche Einheit zunimmt und vorausgesetzt, dass jede Einheit den gleichen Gebrauchswert hat, muss der Wert, der dieser Einheit zugemessen wird, abnehmen. Denn diese zusätzliche Einheit kann nur als ein Mittel zur Erlangung eines Zieles zum Einsatz kommen, das als weniger nützlich erachtet wird als das am geringsten bewertete Ziel, das sich mit einer Einheit diesen Gutes befriedigen ließ, als die Versorgung noch um eine Einheit knapper war.
(22) Oder nehmen wir Ricardos Gesetz der Vereinigung: Wenn von zwei Produzenten A in der Produktion von zwei Arten von Gütern produktiver ist als B, dann können sie immer noch in eine wechselseitig profitable Arbeitsteilung eintreten. Dies ist deshalb so, weil die materielle Gesamtproduktivität höher ist, wenn sich A auf die Produktion eines Gutes spezialisiert, das er kostengünstiger produzieren kann, als wenn beide, A und B, beide Güter separat und voneinander unabhängig produzieren würden.
(23) Oder ein anderes Beispiel: Immer dann, wenn gesetzliche Mindestlöhne erzwungen werden, die höher als die existierenden Marktlöhne sind, bringt dies unfreiwillige Arbeitslosigkeit mit sich.
(24) Oder als letztes Beispiel: Immer dann, wenn die Geldmenge erhöht wird, während die Nachfrage nach Geld, das als verfügbare Barreserve gehalten wird, unverändert bleibt, wird die Kaufkraft des Geldes sinken.
(25) Wenn wir solche Lehrsätze betrachten: Ist der Prozess der Validierung, der nötig ist, um sie als wahr oder falsch zu begründen, der gleiche, der nötig ist, um einen Lehrsatz in den Naturwissenschaften zu begründen? Sind diese Lehrsätze ebenso hypothetisch wie solche über die Effekte, die sich aus dem Zusammenmischen zweier natürlicher Materialien ergeben? Müssen wir diese ökonomischen Lehrsätze ununterbrochen an Beobachtungen testen? Und erfordert es einen niemals endenden Prozess von Versuch und Irrtum, um die ganze Spannbreite der Anwendungen dieser Lehrsätze herauszufinden, um so nach und nach unser Wissen zu verbessern, wie wir es im Fall der Naturwissenschaften gesehen haben?
(26) Es ist völlig offensichtlich – zumindest war es dies für die meisten Ökonomen der letzten vierzig Jahre – dass die Antwort auf diese Fragen ein klares und unmissverständliches Nein ist. Dass A und B erwarten müssen, zu profitieren, und dass sie umgekehrte Präferenzordnungen haben, folgt aus unserem Verständnis davon, was einen Tauschakt eigentlich ausmacht. Und dasselbe ist der Fall, wenn wir die Konsequenzen eines erzwungenen Tausches bedenken. Es ist unvorstellbar, dass solche Dinge einmal anders sein könnten: So war es bereits vor einer Million von Jahren und so wird es auch in einer Million von Jahren sein. Der Anwendungsbereich dieser Lehrsätze ist ebenso ein für allemal klar: Sie sind wahr, wann immer etwas ein freiwilliger Tausch oder eben ein erzwungener Tausch ist, und das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.
(27) Bei all den anderen angeführten Beispielen verhält es sich ebenso. Dass der Grenznutzen einer zusätzlichen Einheit bei der Versorgung mit homogenen Gütern fallen muss, folgt aus der unbestreitbaren Tatsache, dass jede handelnde Person immer das vorzieht, was sie mehr befriedigt im Unterschied zu dem, was sie weniger befriedigt. Es ist einfach absurd zu glauben, dass unentwegtes Testen erforderlich sein soll, um einen solchen Lehrsatz zu beweisen.
(28) Ricardos Gesetz der Vereinigung nebst seiner ein für allemal gültigen Eingrenzung seines Anwendungsbereichs folgt, ebenso logisch, schon allein aus dem Vorliegen der beschriebenen Situation: Wenn sich A und B, so wie angegeben, unterscheiden und es demzufolge für die produzierten Güter eine technologische Austausch-Rate gibt (eine solche Rate für A und eine solche für B), dann muss, wenn beide in die beschriebene Arbeitsteilung eintreten, der produzierte materielle Output größer sein, als er sonst sein würde. Jede andere Schlussfolgerung ist logisch fehlerhaft.
(29) Das gleiche gilt auch für die Konsequenzen, die sich aus gesetzlichen Mindestlöhnen oder einem Ansteigen der Geldmenge ergeben. Die Folgen, die in der bloßen Beschreibung der Ausgangssituation bereits logisch enthalten sind, sind eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Abnahme der Kaufkraft des Geldes. Es ist in der Tat absurd, diese Vorhersagen als hypothetisch zu betrachten und zu glauben, dass ihre Gültigkeit nicht unabhängig von der Beobachtung bewiesen werden könnte, denn das heißt letztlich nichts anders, als dass man tatsächlich gesetzliche Mindestlöhne ausprobiert oder mehr Geld druckt und zusieht, was in der Folge geschieht.
(30) Um eine Analogie zu benutzen: Das wäre gerade so, wie wenn man den Lehrsatz von Pythagoras beweisen wollte, indem man die Seiten und Winkel von Dreiecken misst. Müsste nicht jemand, der solche Anstrengungen unternimmt, seine Handlungsweise näher erläutern? Und ist nicht der Gedanke, dass ökonomische Lehrsätze empirisch getestet werden müssen, ein Zeichen völliger intellektueller Verwirrtheit?
(31) Mises hat diesen offensichtlichen Unterschied zwischen Ökonomie und empirischen Wissenschaften nicht bloß festgestellt. Er hat uns dabei geholfen, die Natur und das Wesen dieses Unterschiedes tiefer zu verstehen und hat erklärt, wie und warum eine so einzigartige Disziplin wie die Ökonomie, die uns etwas über die Realität zu lehren versteht, ohne dass dabei Beobachtungen erforderlich sind, überhaupt möglich sein kann. Diese Leistung von Mises kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
(32) Um seine Erklärungen besser zu verstehen, müssen wir eine Exkursion in das Gebiet der Philosophie unternehmen, oder präziser: wir müssen uns in das Gebiet der Erkenntnistheorie oder Epistemologie begeben. Insbesondere gilt es die Erkenntnistheorie von Immanuel Kant ins Auge zu fassen, die er am vollkommensten in seiner Kritik der reinen Vernunft dargelegt hat. Das Konzept der Praxeologie ist eindeutig von Kant beeinflusst. Das heißt aber nicht, dass Mises bloß ein gewöhnlicher und schlichter Kantianer gewesen wäre. Es ist eine Tatsache, und das werde ich später noch herausstreichen, dass Mises die Kantsche Erkenntnistheorie über Kant hinaus weiterentwickelt hat. Mises hat die Kantsche Philosophie auf eine Art und Weise verfeinert, die bis auf den heutigen Tag von orthodoxen Kantianern völlig ignoriert wird. Die zentralen konzeptionellen und terminologischen Unterscheidungen jedoch hat Mises sehr wohl von Kant übernommen, so wie auch einige seiner grundlegenden Einsichten in die Natur des menschlichen Wissens. Deswegen müssen wir uns Kant zuwenden.
(33) Kant hat im Zuge seiner Kritik am klassischen Empirismus, speziell an jenem von David Hume, die Vorstellung entwickelt, dass alle unsere Aussagen in zweifacher Weise klassifiziert werden können: Sie können einerseits analytisch oder synthetisch sein, andererseits a priori oder a posteriori. Die Bedeutung dieser Unterscheidungen ist in aller Kürze die folgende: Aussagen sind dann analytisch, wenn das Mittel der formale Logik ausreichend dafür ist, herauszufinden, ob sie wahr sind oder nicht; anderenfalls handelt es sich um synthetische Aussagen. Und Aussagen sind immer dann a posteriori, wenn Beobachtungen erforderlich sind, um ihre Wahrheit zu begründen oder zumindest zu bekräftigen. Wenn Beobachtungen nicht erforderlich sind, sind diese Aussagen a priori.
(34) Das typische Kennzeichen der Kantschen Erkenntnistheorie ist die Behauptung, dass es wahre synthetische Aussagen a priori gibt – und weil Mises sich dieser Behauptung anschließt, kann er zurecht als Kantianer bezeichnet werden. Synthetische Aussagen a priori sind solche, deren Wahrheitswert sicher und einwandfrei festgestellt werden kann, obwohl die Mittel der formalen Logik dazu nicht ausreichen (sehr wohl aber notwendig sind) und obwohl Beobachtungen gleichfalls nicht erforderlich sind.
(35) Folgt man Kant, so liefert die Mathematik wie die Logik ausreichend Beispiele für solche wahren synthetischen Sätzen a priori. Kant glaubte auch, dass das fundamentale Gesetz der Kausalität – die Aussage, dass es zeitlich unveränderliche Handlungsgründe gibt und jedes Ereignis in ein Netzwerk solcher Gründen eingebettet ist – eine solche wahre synthetische Aussage a priori ist.
(36) Es ist hier nicht der Ort, um wirklich ins Detail zu gehen und näher zu erläutern, wie Kant seine Sichtweise gerechtfertigt hat.[12] Ein paar Bemerkungen und Hinweise müssen genügen. Als erstes stellt sich die Frage: Wie kann die Wahrheit solcher Aussagen festgestellt werden, wenn die formale Logik dafür nicht ausreicht und Beobachtungen gegenstandslos und überflüssig sind? Kants Antwort ist, dass sich die Wahrheit aus selbst-evidenten (unmittelbar einleuchtenden) Axiomen ergibt.
(37) Was macht diese Axiome selbst-evident? Kant antwortet, dass sie nicht in einem psychologischen Sinne evident oder offensichtlich sind, so dass wir uns ihrer sogleich und unverzüglich bewusst sein könnten. Ganz im Gegenteil: Kant besteht darauf, dass es für gewöhnlich weitaus mühsamer ist solche Axiome zu entdecken als so manche empirische Wahrheit, wie etwa, dass die Blätter der Bäume grün sind. Selbst-evident, so Kant, sind diese Axiome deshalb, weil man ihre Wahrheit nicht abstreiten kann, ohne sich selbst zu widersprechen. Das bedeutet, dass man bei dem Versuch, sie abzustreiten, implizit ihre Wahrheit eingesteht.
(38) Wie finden wir solche Axiome? Indem wir über uns selbst nachdenken, schreibt Kant, indem wir uns selbst als Gegenstand der Forschung betrachten. Dass die Wahrheit synthetischer Sätze a priori letztlich auf innerer, auf dem Weg der Reflexion entstandener Erfahrung beruht, erklärt auch, warum sie unter Umständen den Status von notwendig wahren Sätzen erreichen können. Beobachtende Erfahrung kann die Dinge nur dann deutlich machen, wenn sie tatsächlich stattfinden, und in diesen Dingen ist nichts, das uns verrät, warum sie so sein müssen, wie sie sind. Im Gegensatz dazu, schreibt Kant, kann unsere Vernunft aber die Dinge auch so verstehen, wie sie notwendig sind, weil „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt.“[13]
(39) In all dem folgt Mises Kant. Wie eingangs erwähnt, fügt Mises jedoch noch eine äußerst wichtige Einsicht hinzu, von der Kant selbst nur eine vage Vorstellung hatte. Ein allgemein verbreiteter Streit unter Kantianern war ja die Frage, ob diese Philosophie nicht den Anschein erweckt, also ob sie irgendeine Art von Idealismus miteinbeziehen würde. Denn wenn dem so ist, wie Kant es sieht, wenn wahre synthetische Sätze a priori Aussagen darüber sind, wie unser Verstand arbeitet und notwendigerweise arbeiten muss, wie kann dann erklärt werden, dass solche verstandesmäßigen Kategorien der Realität auch angemessen sind? Wie lässt sich etwa erklären, dass die Realität mit dem Gesetz der Kausalität übereinstimmt, wenn letzteres als ein Gesetz verstanden werden muss, das mit den Operationen unseres Verstandes übereinstimmen muss? Müssen wir nicht die absurde idealistische Behauptung aufstellen, dass dies nur deshalb möglich ist, weil die Realität von unserem Verstand erst eigentlich erschaffen wird? Nicht, dass man mich hier falsch versteht: Ich glaube nicht, dass eine derartige Anklage gegen den Kantianismus gerechtfertigt ist[14], obwohl zweifellos Kant selbst in manchen seiner Formulierungen dieser Anschuldigung einige Glaubhaftigkeit gegeben hat.
(40) Fassen wir zum Beispiel folgende programmatische Aussage von Kant ins Auge: „So far it has been assumed that our knowledge had to conform to observational reality“; instead it should be assumed „that observational reality conform to our knowledge.“[15]
(41) Mises lieferte die Lösung für dieses Problem. Es ist wahr, wie Kant sagt, dass wahre synthetische Sätze a priori auf selbst-evidenten Axiomen begründet sind und dass diese Axiome viel eher als Reflexionen über uns selbst verstanden werden müssen, als dass sie in irgend einer bedeutsamen Weise als „beobachtbar“ gelten könnten. Doch wir müssen einen Schritt weiter gehen. Wir müssen begreifen, dass derart notwendige Wahrheiten nicht bloß Kategorien unseres Verstandes sind, sondern unser Verstand sich in einer handelnden Person befindet. Wir müssen die Kategorien unseres Verstandes letztlich als etwas auffassen, das in den Kategorien unseres Handelns begründet ist. Sobald dies zugegeben wird, sind alle idealistischen Vorstellungen sogleich verschwunden. Stattdessen wird eine Erkenntnistheorie, welche die Existenz von wahren synthetischen Sätzen a priori behauptet, zu einer realistischen Erkenntnistheorie. Ist einmal klar, dass jene Sätze letztlich in den Kategorien unseres Handelns begründet sind, so ist die Kluft zwischen dem Geistigen und der realen, äußeren, physischen Welt überbrückt. Als Kategorien des Handelns müssen sie ebenso geistig wie auch für die Realität charakteristisch sein. Handlungen sind der Grund dafür, dass Verstand und Realität miteinander in Verbindung stehen.
(42) Kant hat diese Lösung angedeutet. So dachte er etwa, dass die Mathematik in unserer Kenntnis des Sinns und der Bedeutung von Wiederholungen, von sich wiederholenden Operationen begründet sein muss. Und ebenso wurde ihm, wenn auch nur vage, klar, dass das Gesetz der Kausalität unser Verständnis von dem, was es ist, bereits voraussetzt und bedeutet, dass wir handeln.[16]
(43) Doch erst Mises hebt diese Einsicht in den Vordergrund. Kausalität, so wurde ihm klar, ist eine Kategorie des Handelns. Handeln bedeutet, zu einem früheren Zeitpunkt einzugreifen, um zu einem späteren Zeitpunkt Resultate zu erzielen und deshalb muss jeder Handelnde die Existenz konstanter Handlungsursachen voraussetzen. Kausalität, so wie Mises sie versteht, ist die Voraussetzung allen Handelns.
(44) Mises ist nicht, so wie Kant, an der Erkenntnistheorie als solcher interessiert. Doch er findet, indem er das Handeln als eine Brücke zwischen unserem Verstand und der Außenwelt bestimmt, eine Lösung für das Kant´sche Problem, wie und auf welche Weise wahre synthetische Sätze a priori möglich sein können. Neben seinen Überlegungen zum Gesetz der Kausalität hat Mises auch noch überaus wertvolle Einsichten zur Letztbegründung anderer zentraler erkenntnistheoretischer Lehrsätze beigesteuert, wie etwa zum Satz vom Widerspruch, einen Eckpfeiler der Logik. Dadurch hat er der zukünftigen philosophischen Forschung einen Weg eröffnet, der, meines Wissens nach, noch kaum begangen wurde. Doch das Fachgebiet von Mises ist die Ökonomie, und deshalb muss ich das Problem, das Gesetz der Kausalität als eine a priori wahre Aussage im Detail zu erläutern, an dieser Stelle jetzt beiseite legen.[17]
(45) Mises hat nicht nur begriffen, dass die Erkenntnistheorie indirekt auf unserem reflexiven Wissen über unser Handeln beruht und deshalb a priori wahre Aussagen über die Realität für sich beanspruchen kann, sondern dass auch die Ökonomie diesen Anspruch für sich erheben kann, noch dazu in einer viel direkteren Art und Weise. Ökonomische Lehrsätze fließen direkt aus unserem reflexiv gewonnenen Wissen über das Handeln. Der Rang dieser Lehrsätze, als a priori wahre Aussagen über die Realität, leitet sich von dem Verständnis dessen ab, was Mises „das Axiom des Handelns“ nennt.
(46) Dieses Axiom, nämlich die Behauptung, dass Menschen handeln, erfüllt präzise all jene Anforderungen, die an einen wahren, synthetischen Lehrsatz a priori zu stellen sind. Es kann nicht abgeleugnet werden, dass dieser Lehrsatz wahr ist, weil das Leugen selbst als ein Handeln bestimmt werden muss, so dass sich die Wahrheit dieser Aussage im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr ungeschehen machen lässt. Und dieses Axiom ist auch nicht von Beobachtungen abgeleitet – beobachten lassen sich nur körperliche Bewegungen, nicht aber Handlungen – sondern hat seine Ursache im reflektierenden Verstand.
(47) Als etwas, das vielmehr verstanden als beobachtet werden muss, ist es dennoch ein Wissen über die Realität. Dies ist deshalb so, weil die begrifflichen Unterscheidungen, die in dieses Verständnis involviert sind, nichts weniger als jene Kategorien sind, die in der Wechselbeziehung des Verstandes mit der materiellen Welt tätig werden, und zwar mithilfe des eigenen physischen Körpers. Das Axiom des Handelns mit all seinen Implikationen ist sicherlich nicht selbst-evident in einem psychologischen Sinne, obwohl es, wenn einmal explizit gemacht, als eine unbestreitbare, wahre Aussage über etwas Reales und Existierendes verstanden werden kann.[18]
(48) Es ist zweifellos weder psychologisch evident noch beobachtbar, dass ein Handelnder mit jeder Handlung ein Ziel verfolgt. Ebenso ist weder evident noch beobachtbar, dass allein der Umstand, dass dieses Ziel von einem Handelnden verfolgt wird (gleichgültig um welches Ziel es sich auch handeln mag), erkennen lässt, dass er einen relativ höheren Wert darauf legt als auf jedes andere Handlungsziel, das er sich zu Beginn seiner Handlung ausdenken konnte.
(49) Es ist weder evident noch beobachtbar, dass ein Handelnder, um sein am höchsten bewertetes Ziel zu erreichen, zu einem früheren Zeitpunkt eingreifen muss, um zu einem späteren Zeitpunkt Resultate zu erzielen. Er kann freilich auch entscheiden, nicht einzugreifen, was aber ebenso als Eingriff gewertet werden muss. Weder evident noch beobachtbar ist weiters, dass solche Eingriffe immer und ausnahmslos die Verwendung knapper Mittel voraussetzen (zumindest den Körper des Handelnden, den Platz, auf dem er steht, und die Zeit, die sein Eingreifen beansprucht).
(50) Es ist weder selbst-evident noch kann beobachtet werden, dass diese Mittel für den Handelnden auch einen Wert darstellen – einen Wert, der von dem des Ziels ableitet ist – und dass der Handelnde die Verwendung dieser Mittel als wichtig betrachten muss, um sein Ziel tatsächlich zu erreichen; ebenso, dass Handlungen nur nacheinander ausgeführt werden können und immer eine Entscheidung oder Wahl erfordern. Das bedeutet, dass ein Handlungsziel, das zu einem gegebenen Zeitpunkt das am höchsten bewertete Resultat für den Handelnden verspricht, aufgegriffen und gleichzeitig das Streben nach anderen, weniger hoch bewerteten Zielen, hintangestellt wird.
(51) Es ist nicht automatisch klar oder beobachtbar, dass jede Handlung – als eine Folge dieses Wählen-Müssens und dieser Bevorzugung von Zielen unter Hintantstellung von anderen – ein Auf-Sich-Nehmen von Kosten bedeutet. So muss etwa, da man nicht alle Ziele gleichzeitig erreichen kann, der Wert, der dem am höchsten bewerteten alternativen Ziel (das nicht realisiert werden kann) zugemessen wird, aufgegeben oder dessen Realisation aufgeschoben werden, weil die Mittel, die notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen, in der Förderung eines anderen, noch höher bewerteten Ziels gebunden sind.
(52) Und schließlich ist es nicht einfach evident oder beobachtbar, dass ein Handelnder jedes Ziel am Ausgangspunkt seiner Handlung für wertvoller als die zu tragenden Kosten erachtet und für geeignet hält, einen Gewinn zu erzielen, was ein Resultat bedeutet, dessen Wert höher gereiht wird als jener der aufgegebenen Möglichkeiten. Und ebenso, dass jede Handlung stets von der Möglichkeit eines Verlustes bedroht ist, wenn, rückblickend betrachtet, der Handelnde zur Einsicht kommt, dass das Ergebnis, das tatsächlich erreicht wurde – im Gegensatz zu früheren Annahmen – für ihn einen geringeren Wert als die aufgegebenen Alternativen hat.
(53) All diese Kategorien – Werte, Ziele, Mittel, Wahl, Bevorzugung, Kosten, Gewinn und Verlust – sind im Axiom des Handelns enthalten. Doch dass jemand imstande ist, Beobachtungen im Rahmen dieser Kategorien richtig zu deuten, setzt voraus, dass er bereits weiß, was es heißt, zu handeln. Niemand außer ein Handelnder könnte diese Kategorien verstehen. Denn sie sind nicht „gegeben“ oder gewissermaßen bereit dazu, beobachtet zu werden, sondern die beobachtende Erfahrung ist von diesen Begriffen, während sie von einem Handelnden ausgelegt werden, gänzlich eingenommen. Die auf dem Weg der Überlegung stattfindende Rekonstruktion dieser Begriffe ist auch keine einfache, psychologisch selbst-evidente, intellektuelle Aufgabe, wie man an der langen Reihe von gescheiterten Versuchen, die Natur des Handelns zu verstehen, deutlich sehen kann.
(54) Es waren akribische intellektuelle Anstrengungen vonnöten, um erstmals klar zu erkennen, was später dann jedermann, der sich in die Zusammenhänge vertieft hat, sogleich als wahr erkennen kann: wahre synthetische Aussagen a priori, Lehrsätze, die unabhängig von Beobachtungen verifiziert und so auch nicht durch Beobachtungen, welche auch immer, falsifiziert werden können.
(55) Der Versuch, das Axiom des Handelns zu widerlegen, wäre selbst wiederum eine Handlung, die auf ein Ziel gerichtet ist, Mittel erfordert, andere Richtungen des Handelns ausschließt, Kosten verursacht, dem Handelnden die Möglichkeit gibt, sein gewünschtes Ziel zu erreichen oder nicht zu erreichen und so zu einem Gewinn oder Verlust führt.
(56) Der Besitz dieses Wissens, die Gültigkeit dieser Konzepte kann demnach niemals durch irgendeine zufällige Erfahrung bestritten oder falsifiziert werden, denn solche Einsichten abzustreiten oder zu falsifizieren würde ihre Existenz bereits zur Voraussetzung haben. Es ist eine Tatsache, dass eine Situation, in der diese Kategorien des Handelns aufhören würden zu existieren, niemals beobachtet werden kann, denn eine Beobachtung zu machen ist ebenso eine Handlung.
(57) Die großartige Einsicht von Mises war, dass das ökonomische Denken in genau diesem Verständnis des Handelns seine Grundlage hat und dass sich der Status der Ökonomie, als eine Art angewandte Logik, vom Status des Handlungs-Axioms, eines wahren, synthetischen Lehrsatzes a priori, ableitet. Die Marktgesetze, das Gesetz des sinkenden Grenznutzens, Ricardos Gesetz der Vereinigung, das Gesetz der Preiskontrolle und die Quantitäts-Theorie des Geldes – all die Beispiele für ökonomische Lehrsätze, die ich erwähnt habe – können aus diesem Axiom logisch abgeleitet werden. Und das ist auch der Grund dafür, warum es einem regelrecht lächerlich vorkommen muss, wenn jemand in der Tat behauptet, dass diese Lehrsätze von gleicher erkenntnistheoretischer Art sind wie jene der Naturwissenschaften. Dies anzunehmen und folglich auch zu fordern, dass sie zur Bestätigung ihrer Gültigkeit überprüft werden müssen, ist geradeso, wie wenn wir annehmen würden, dass wir uns, ohne ein mögliche Ergebnis zu wissen, auf einen Untersuchungsprozess einlassen müssen, um die Tatsache zu bestätigen, dass jemand tatsächlich ein Handelnder ist. In einem Wort: Es ist absurd.
(58) Die Praxeologie behauptet, dass ökonomische Lehrsätze, die einen Anspruch auf Wahrheit haben, stets solche sind, von denen auch bewiesen werden kann, dass sie mithilfe der formalen Logik erschließbar sind, und zwar aus dem unanfechtbar wahren, wesentlichen Wissen um die Bedeutung des Handelns.
(59) Im Speziellen setzt sich das ökonomische Denken aus Folgendem zusammen:
- dem Verständnis der Kategorien des Handelns und der Bedeutung von Veränderungen, die bei Werten, Präferenzen, beim Wissensstand, bei den Mitteln, den Kosten etc. auftreten;
- der Beschreibung einer Welt, in der die Kategorien des Handelns konkrete Bedeutung annehmen, in der bestimmte Menschen als Handelnde bezeichnet werden, die über bestimmte Gegenstände verfügen, die als die Mittel ihres Handelns festgelegt sind, mit bestimmten Zielen, die als Werte bezeichnet werden und bestimmten Dingen, die als Kosten aufgeführt sind. Dies könnte etwa die Beschreibung einer Robinson Crusoe Welt sein oder zumindest einer Welt mit mehr als einem Handelnden, in der zwischenmenschliche Beziehungen möglich sind; einer Welt des traditionellen Tauschhandels oder einer Welt, in der Geld als übliches Tauschmittel verwendet wird; einer Welt, in der es lediglich Grundbesitz, Arbeit und Zeit als Produktionsfaktoren gibt oder einer Welt mit Kapitalprodukten; einer Welt mit perfekt teil- oder unteilbaren, spezifischen oder unspezifischen Produktionsfaktoren oder einer Welt mit unterschiedlichen sozialen Institutionen, die bestimmte Handlungen als Aggressionen betrachten und mit körperlichen Strafen drohen etc.;
- einer logischen Ableitung der Konsequenzen, die sich aus der Durchführung einer näher beschriebenen Handlung innerhalb dieser Welt ergeben oder der Konsequenzen, die sich für einen bestimmten Handelnden ergeben, wenn die Situation in einer genau angegebenen Art und Weise verändert wird.
(60) Sofern sich im Verlauf der Deduktion kein Fehler eingeschlichen hat, sind die Schlussfolgerungen, die sich aus derartigen Argumentationen ergeben, a priori gültig, weil deren Gültigkeit letztlich auf nichts anderem als dem unleugbaren Handlungsaxiom beruht. Wenn die Situation und die Veränderungen, die eingeführt werden, fiktional oder bloß angenommen sind (so wie im Fall einer Robinson Crusoe Welt oder einer Welt mit nur unteilbaren oder ausschließlich spezifischen Produktionsfaktoren), dann sind die Schlussfolgerungen selbstverständlich nur in einer solchen „möglichen Welt“ a priori wahr. Wenn andererseits aber Situationen und Veränderungen von einem tatsächlich Handelnden tatsächlich erkannt, wahrgenommen und begrifflich gefasst werden, dann sind diese Schlussfolgerungen a priori wahre Aussagen über die Welt, so wie sie wirklich ist.[19]
(61) So verhält es sich mit der Ökonomie, wenn man sie als Praxeologie versteht. Und das ist auch der größte Unterschied zwischen den Austrians und ihren Berufskollegen: dass deren Behauptungen eben nicht aus dem Handlungsaxiom abgeleitet werden können oder sogar in einem eindeutigem Widerspruch zu Aussagen stehen, die aus dem Handlungsaxiom abgeleitet werden können.
(62) Selbst wenn über die Identifikation der Fakten und die Bewertung bestimmter Ereignisse, die als Ursachen und Wirkungen zusammenhängen, Einigkeit herrscht, so ist dieses Einverständnis bloß oberflächlich. Denn solche Ökonomen nehmen irrtümlicherweise an, dass ihre Aussagen gut überprüfte empirische Aussagen sind, während es sich in Wirklichkeit um wahre Aussagen a priori handelt.
[1] Der folgende Aufsatz beruht auf einer Vorlesung, die am Ludwig von Mises Institute gehalten wurden (Adcanced Instructional Conference on Austrian Economics, 21-27 Juni, 1987).
[2] vgl. Ludwig von Mises, Human Action, Henry Regnery, Chicago 1966, 32.
[3] Die erkenntnistheoretischen Arbeiten von Mises finden sich vor allem in Epistemological Problems of Economics (New York: New York University Press, 1981); Theory and History (Washington, D.C.: Ludwig von Mises Institute, 1985); The Ultimate Foundation of Economic Science (Kansas City, Kansas: Sheed Andrews and McMeel, 1978) und Human Action, Teil 1.
[4] Mark Blaug, The Methodology of Economics (Cambridge: Cambridge University Press, 1980), 93; ähnliche Äußerungen der Empörung findet sich in Paul Samuelson, Collected Scientific Papers, vol. 3 (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1972), 761.
[5] Ein anderer prominenter Kritiker der Praxeologie ist Terence W. Hutchison, The Significance and Basic Postulates of Economic Theory (London: Macmillan, 1938). Hutchison, wie Blaug Anhänger der Popper´schen Variante des Empirismus, ist mittlerweile, was die Aussichten auf eine fortschreitende Ökonomie unter der Leitung der Empirie betrifft, schon weitaus weniger enthusiastisch (so zum Beispiel in Knowledge and Ignorance in Economics [Chicago: University of Chicago Press, 1977]; and The Politics and Philosophy of Economics [New York: New York University Press, 1981]), dennoch sieht er keine Alternative zum Popper´schen Falsifikationismus. Eine Position und Entwicklung, die jener von Hutchison recht ähnlich ist, findet sich bei Hans Albert (dazu seine frühere Marktsoziologie und Entscheidungslogik [Neuwied: 1967]). Zur Kritik der empirischen Position siehe Hans-Hermann Hoppe, Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung (Opladen: 1983); Is Research Based on Causal Scientific Principles Possible in the Social Sciences?, in: Ratio 25, Nr.1 (1983); On Praxeology and the Praxeological Foundations of Epistemology and Ethics, in: Llewellyn H. Rockwell, Jr. (Hrsg.), The Meaning of Ludwig von Mises (Auburn, Alabama: Ludwig von Mises Institute, 1989).
[6] Jean-Baptiste Say, Treatise on Political Economy (New York: Augustus Kelley, [1880] 1964), XX, XXVI.
[7] Nassau Senior, An Outline of the Science of Political Economy (New York: Augustus Kelley, [1836] 1965), 2f., 5.
[8] John E. Cairnes, The Character and Logical Method of Political Economy (New York: Augustus Kelley, 1965), 83, 87, 89-90, 95-96.
[9] siehe Carl Menger, Untersuchungen über die Methoden der Sozialwissenschaften (Leipzig: 1883) sowie Die Irrtümer des Historismus in der Deutschen Nationalökonomie (Wien: 1884), Eugen von Böhm-Bawerk, Schriften, herausgegeben von F. X. Weiss (Wien: 1924); Friedrich von Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft (Tübingen: 1914) sowie Gesammelte Abhandlungen (Tübingen: 1929). Zu Mises` Bewertung seiner Vorgänger können seine Epistemological Problems of Economics, 17-22, herangezogen werden. Der Begriff „a priori“ in Verbindung mit ökonomischen Theoremen wird auch von Frank H. Knight benutzt; seinen erkenntnistheoretischen Schriften mangelt es jedoch an systematischer Strenge. Vergleiche dazu „What Is Truth in Economics“, in: Knight, On the History and Method of Economics (Chicago: University of Chicago Press, 1956) sowie „The Limitations of Scientific Method in Economics“, in: Knight, The Ethics of Competition (Chicago: University of Chicago Press, 1935).
[10] Richard von Strigl, Die ökonomischen Kategorien und die Organisation der Wirtschaft (Jena: 1923).
[11] Erwähnenswert ist, dass sich Robbins` erkenntnistheoretische Position, ähnlich wie jene Friedrich A. Hayeks, mit der Zeit zunehmend von jener von Mises entfernt hat, was vor allem auf den Einfluss Karl R. Poppers zurückzuführen ist, der ihr Kollege an der London School of Economics war. Siehe dazu Lionel Robbins, An Autobiography of an Economist (London: Macmillan, 1976); Hayeks Widerspruch zur Praxeologie von Mises wurde erst kürzlich in seiner „Einleitung“ zu Ludwig von Mises` Erinnerungen (Stuttgart: 1978) erneut dargestellt. Das gänzlich negative Urteil von Mises über Popper findet sich in The Ultimate Foundations of Economic Science, 70. Zur Verteidigung dieses Urteils siehe auch Hans H. Hoppe, Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1983), 48f.
[12] Eine brillante Interpretation und Rechtfertigung der aprioristischen Erkenntnistheorie von Kant findet sich in E. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus (Frankfurt am Main: 1968), speziell in Kapitel 3; dazu auch Hans-Hermann Hoppe, Handeln und Erkennen (Bern: 1976).
[13] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant, Werke, Bd.2, herausgegeben von W. Weischedel (Wiesbaden: 1956), 23.
[14] siehe dazu im Besonderen jene Arbeit von E. Kambartel, die in Fußnote 12 zitiert wurde; ebenso lehrreich ist die Kant-Interpretation des Biologen und Verhaltensforschers K. Lorenz, Vom Weltbild des Verhaltensforschers (München: 1964); derselbe, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens (Münschen: 1973). Bei einigen Anhängern der Österreichischen Schule ist die Kant-Interpretation von Ayn Rand überaus beliebt; siehe dazu Introduction to Objectivist Epistemology (New York: New American Library, 1979) sowie For the New Intellectual (New York: Random House, 1961). Rands Interpretation, die voll von pauschalen und denunziatorischen Äußerungen ist, zeichnet sich durch die völlige Abwesenheit jeglichen Quellenmaterials aus. Zu Rands arroganter Ignoranz Kant gegenüber siehe B. Goldberg, „Ayn Rand´s ‚For the New Intellectual‘“, New Individualist Review 1, Nr.3 (1961).
[15] Fußnote fehlt im Original (deshalb bleibt vorerst die englische Übersetzung bestehen)
[16] Zu Kants Interpretationen der Mathematik siehe H. Dingler, Philosophie der Logik und Mathematik (München: 1931); Paul Lorenzen, Einführung in die operative Logik und Mathematik (Frankfurt am Main: 1970); Ludwig Wittgenstein, Remarks on the Foundations of Mathematics (Cambridge, Mass.: M.I.T. Press, 1978); ebenso Kambartel, Erfahrung und Struktur, 118ff; eine ungewöhnlich sorgfältige und umsichtige Interpretation der Philosophie von Kant aus der Sichtweise der modernen Physik findet sich in P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik (Mannheim: 1967).
[17] Für weiterreichende und tiefergreifende Überlegungen siehe Hoppe „In Defense of Extreme Rationalism“.
[18] Dazu und zum Folgenden siehe Mises, Human Action, Kapitel IV,V.
[19] siehe dazu auch Hoppe, Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung, Kapitel 3.