Ethik, als Teil der praktischen Philosophie, zielt auf das richtige Handeln und damit auf das gute und gelingende Leben ab, auf das Glück des Einzelnen, die Eudämonie, die nur im Rahmen einer geglückten Gemeinschaft gelingen kann.
Aristoteles (geb. 384 v. Chr. in Stageira; gest. 322 v. Chr. in Chalkis)
Ausgewähltes Werk:
- Nikomachische Ethik. In: Ernst Grumach (Hrsg.). Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969
Nikomachische Ethik
Jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von „Gut“ als „das Ziel, zu dem alles strebt“. Dabei zeigt sich aber ein Unterschied zwischen Ziel und Ziel: das einemal ist es das reine Tätig-sein, das anderemal darüber hinaus das Ergebnis des Tätig-seins: das Werk. Wo es Ziele über das Tätig-sein hinaus gibt, da ist das Ergebnis naturgemäß wertvoller als das bloße Tätig-sein. Da es aber viele Formen des Handelns, des praktischen Könnens und des Wissens gibt, ergibt sich auch eine Vielzahl von Zielen: Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, der Schiffsbaukunst das Schiff, das Ziel der Kriegskunst: Sieg, der Wirtschaftsführung: Wohlstand. Überall nun, wo solche „Künste“ einem bestimmten Bereich untergeordnet sind (so ist z.B. der Reitkunst untergeordnet das Sattlerhandwerk und andere Handwerke, die Reitzeug herstellen, während die Reitkunst ihrerseits, wie das gesamt Kriegswesen, unter der Feldherrenkunst steht, und was dergleichen Unterordnungen mehr sind), da ist durchweg das Ziel der übergeordneten Kunst höheren Ranges, als das der untergeordneten: um des ersteren willen wird ja das letztere verfolgt. (1,1,5)
Nachdem also jede Erkenntnis und jeder Entschluß nach einem bestimmten Gut zielt, wollen wir wieder einsetzen mit der Frage: „Was ist das Ziel der Politik (politike) und welches ist das höchste von allen Gütern, die man durch Handeln erreichen kann?“ (1,2,7)
In seiner Benennung stimmen fast alle überein: „Das Glück“ – so sagen die Leute und so sagen die feineren Geister, wobei gutes Leben und gutes Handeln in eins gesetzt werden mit Glücklichsein. Aber was das Wesen des Glückes sei, darüber ist man unsicher und die Antwort der Menge lautet anders als die des Denkers. Die Menge stellt sich etwas Handgreifliches und Augenfälliges darunter vor, z.B. Lust, Wohlstand, Ehre: jeder etwas anderes. Bisweilen wechselt ein und derselbe Mensch seine Meinung: wird er krank, so sieht er das Glück in der Gesundheit, ist er arm, dann im Reichtum. … Einige aber dachten, es gebe neben den vielen greifbaren Gütern noch ein Gut, von selbständiger Existenz, das zugleich für all die genannten Güter die Ursache dafür sei, daß sie Güter sind. Alle vorgetragenen Ansichten zu prüfen ist wohl nicht sehr sinnvoll. Wir beschränken uns daher auf solche, die besonders weit verbreitet sind oder immerhin wissenschaftlichen Charakter haben. (1,2,7f)
Wir dürfen dabei nicht den Unterschied übersehen zwischen einer Darstellung, die von Grundgegebenheiten ausgeht und einer anderen, die an sie heranführt. So pflegte z.B. auch Platon sehr richtig die Frage zu stellen und zu forschen, ob der Weg von den Grundgegebenheiten her oder zu ihnen hin verlaufe – wie im Stadion von den Preisrichtern zur Wendemarke oder von dieser zurück. Man muss nämlich anfangen bei dem Bekannten. Dieses aber ist zweifach: bekannt für uns oder bekannt schlechthin. Wir müssen wohl ausgehen von dem was, uns bekannt ist. Daher muß bereits über eine edle Grundgewöhnung verfügen, wer mit Nutzen eine Vorlesung über das Edle, das Gerechte, kurzum über die Wissenschaft von der polis hören will. Ausgangspunkt ist nämlich das Daß, und wenn dieses in genügender Klarheit herauskommt, wird das Warum gar nicht mehr nötig sein. Ein Mensch mit sittlicher Grundhaltung kennt entweder schon Grundgegebenheiten oder er kann sie sich leicht geistig aneignen. Wer sie aber weder hat noch erfassen kann, der höre die Verse des Hesiod:
„Der vor allem ist gut, der selber alles bedenket,
Edel nenn ich auch jenen, der gutem Zuspruch gehorsam.
Aber wer selber nicht denkt und auch dem Wissen des andern
Taub sein Herz verschließt, der Mann ist nichtig und unnütz.” (1,2,8)
Doch nun zurück zu der Stelle, wo wir die Gedankenführung unterbrochen haben. Eine Meinung darüber, was oberster Wert und was Glück sei, gewinnt man wohl nicht ohne Grund aus den bekannten Lebensformen. In der Mehrzahl entscheiden sich die Leute, d.h. die besonders grobschlächtigen Naturen, für den Genuß und finden deshalb ihr Genügen an dem Leben des Genusses (a). Es gibt nämlich drei Hauptformen: erstens die soeben erwähnte (a), zweitens das Leben im Dienste der polis (b), drittens das Leben als Hingabe an die Philosophie (c). (1,3,8f)
(a) Die Vielen also bekunden ganz und gar ihren knechtischen Sinn, da sie sich ein animalisches Dasein aussuchen. Und doch bekommen sie einen Schein von Recht, weil es unter den Hochgestellten so manchen gibt, der ähnliche Passionen hat wie Sardanapal [der letzte König von Ninive]. (1,3,9)
(b) Edle und aktive Naturen entscheiden sich für die Ehre. Denn das ist im ganzen gesehen das Ziel eines Lebens für die polis. Doch ist dieses Ziel wohl etwas äußerlich und kann nicht als das gelten, was wir suchen. Hier liegt nämlich der Schwerpunkt mehr in dem, der die Ehre spendet, als in dem, der sie empfängt. Den obersten Wert aber erahnen wir als etwas was uns zu innerst zugeordnet und nicht leicht ablösbar ist. Außerdem ist anzunehmen, daß man nach Ehre strebt um sich des eigenen Wertes zu vergewissern. Deshalb sucht man von Urteilsfähigen geehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen, und zwar auf Grund der Tüchtigkeit. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Verhalten ganz klar, daß die Tüchtigkeit der höhere Wert ist, und man darf dann vielleicht eher in ihr das Ziel des Lebens für die polis erkennen. Und doch ist auch sie noch nicht ganz Ziel im vollen Sinn. Denn man kann sich die Möglichkeit vorstellen, daß jemand die Tüchtigkeit zwar hat, aber dabei schläft oder ein Leben lang untätig, ja darüber hinaus mit größtem Leid und Unglück beladen ist. Wer aber ein solches Leben führt, den wird niemand als glücklich bezeichnen, außer er möchte eine paradoxe Behauptung unter allen Umständen retten. (1,3,9)
(c) Die dritte Lebensform ist die Hingabe an die Philosophie. Darüber wird die Untersuchung später zu führen sein. (1,3,9)
Wenden wir uns nun zurück zu dem Gut, dem unser Fragen gilt, und suchen sein Wesen zu bestimmen. Sicherlich ist es jeweils ein anderes bei jeder Handlung und bei jedem praktischen Können: ein anderes in der Heilkunst, in der Feldherrnkunst, in den übrigen Künsten. Welches ist nun das eigentliche Gut einer jeden? Ist es nicht jenes, um dessentwillen alles andere unternommen wird? Bei der Heilkunst ist es die Gesundheit, bei der Feldherrnkunst der Sieg, bei der Baukunst das Haus, bei anderen jeweils etwas anderes. Kurzum: bei jeder Handlung und bei jedem Entschluß ist es das Ziel. Ihm gilt das gesamte sonstige Handeln der Menschen. Wenn es also für alle denkbaren Handlungen ein einziges Ziel gibt, so ist dies das Gut, das der Mensch durch sein Handeln erreichen kann. Gibt es dagegen mehrere Ziele, so sind diese die erreichbaren Güter. (1,5,12f)
Auf anderen Wegen ist somit der Gedankengang an derselben Stelle angelangt. Wir müssen nun versuchen, dies noch weiter zu klären. Es gibt offenkundig mehrere Ziele. Manche wählen wir um weitere Ziele willen, z.B. Geld, Flöten, überhaupt Werkzeuge. Nicht alle Ziele also sind Endziele. Das oberste Gut aber ist zweifellos ein Endziel. Daher der Schluß: wenn es nur ein einziges wirkliches Endziel gibt, so ist dies das gesuchte Gut, wenn aber mehrere, dann unter diesen das vollkommenste. Als vollkommener aber bezeichnen wir ein Gut, das rein für sich erstrebenswert ist gegenüber dem, das Mittel zu einem anderen ist. Ferner das, was niemals im Hinblick auf ein weiteres Ziel gewählt wird gegenüber dem, was sowohl an sich als auch zu Weiterem gewählt wird. Und als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das, was stets rein für sich gewählt wird und niemals zu einem anderen Zweck. (1,5,13)
Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck. Die Ehre hingegen und die Lust und die Einsicht und jegliche Tüchtigkeit wählen wir einmal um ihrer selbst willen – denn auch ohne weiteren Vorteil würden wir jeden dieser Werte für uns erwählen – sodann aber auch um des Glückes willen, indem wir annehmen, daß sie uns zum Glück führen. Das Glück aber wählt kein Mensch um jener Werte – und überhaupt um keines weiteren Zweckes willen. (1,5,13)
Zu demselben Ergebnis aber führt offenbar auch der Begriff der Autarkie. Denn bekanntlich genügt das oberste Gut für sich allein. Den Begriff „für sich allein genügend“ wenden wir aber nicht auf das von allen Bindungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben an, sondern auf das Leben in der Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der Frau, überhaupt den Freunden und Mitbürgern; denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft. Für diese Verflochtenheit muß aber eine bestimmte Grenze gezogen werden. Denn wenn man sie ausdehnt auf Vorfahren und Nachfahren und auf die Freunde der Freunde, so kommt man ins Endlose. Doch dies ist erst später zu untersuchen. Unter dem Begriff „für sich allein genügend“ verstehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert macht und nirgends einen Mangel offen läßt. Wir glauben, daß das Glück dieser Begriffsbestimmung entspricht und ferner, daß es erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf eine Linie mit den anderen gereiht. Denn es ist klar: bei einer solchen Einreihung würde sich sein Wert für uns durch das Hinzutreten auch nur des geringsten Gutes aus dieser Reihe erhöhen. Denn dieses Hinzutreten bedeutet ein Plus an Wert und das größere Gut ist jeweils erstrebenswerter. So erweist sich den das Glück als etwas Vollendetes, für sich allein Genügendes: es ist das Endziel des uns möglichen Handelns. (1,5,13f)
Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück und obersten Gut nur ein Gemeinplatz und es wird eine noch deutlichere Antwort auf die Frage nach seinem Wesen gewünscht. Dem kann entsprochen werden, indem man zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigentümliche Leistung ist. Wie nämlich für den Flötenkünstler und den Bildhauer und für jeden Handwerker oder Künstler, kurz überall da, wo Leistung und Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie man annehmen darf, der Wert und das Wohlgelungene beschlossen liegt, so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es überhaupt eine ihm eigentümliche Leistung gibt. Sollte es nun bestimmte Leistungen und Tätigkeiten für den Zimmermann oder Schuster geben, für den Menschen als Menschen aber keine, sondern sollte dieser zu stumpfer Trägheit geboren sein? Sollte nicht vielmehr so wie Auge, Hand, Fuß, kurz jeder Teil des Körpers seine besondere Funktion hat, auch für den Menschen über all diese Teilfunktionen hinaus eine bestimmte Leistung anzusetzen sein? Welche nun könnte das sein? Die bloße Funktion des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen. Gesucht wird aber, was nur dem Menschen eigentümlich ist. Auszuscheiden hat also das Leben, soweit es Ernährung und Wachstum ist. Als nächstes käme dann das Leben als Sinnesempfindung. Doch teilen wir auch dieses gemeinsam mit Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen. So bleibt schließlich nur das Leben als Wirken des rationalen Seelenteils. – Dieser aber ist anzusehen teils als Gehorsam übend gegenüber dem Rationalen, teils als das rationale Element besitzend und geistige Akte vollziehend. – Da aber auch dieses (auf dem rationalen Seelenteil beruhende) Leben in doppeltem Sinn zu verstehen ist, so müssen wir uns dafür entscheiden, daß das Leben als eigenständiges Tätig-sein gemeint ist, denn dies trifft offenbar den Sinn des Begriffes „Leben“ schärfer. (1,6,14)
Wir nehmen nun an, daß die dem Menschen eigentümliche Leistung ist: ein Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder jedenfalls nicht ohne dieses, und nehmen ferner an, daß die Leistung einer bestimmten Wesenheit und die einer bestimmten hervorragenden Wesenheit der Gattung nach dieselbe ist, z.B. die eines Kitharaspielers und die eines hervorragenden Kitharaspielers und so schlechthin in allen Fällen – es wird hierbei einfach das Plus, das in der Vorzüglichkeit der Leistung liegt, zu der Leistung hinzugefügt: Leistung des Kitharaspielers ist das Spielen des Instruments, Leistung des hervorragenden Kitharaspielers das vortreffliche Spielen. Ist das nun richtig und setzen wir als Aufgabe und Leistung des Menschen eine bestimmte Lebensform und als deren Inhalt ein Tätigsein und Wirken der Seele, gestützt auf ein rationales Element, als Leistung des hervorragenden Menschen dasselbe, aber in vollkommener und bedeutender Weise, und nehmen wir an, daß alles seine vollkommene Form gewinnt, wenn es sich im Sinne seines eigentümlichen Wesensvorzuges entfaltet, so gewinnen wir schließlich das Ergebnis: das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit. Gibt es aber mehrere Formen wesenhafter Tüchtigkeit, dann im Sinne der vorzüglichsten und vollendetsten. (1,6,14f)
Beizufügen ist noch: „in einem vollen Menschenleben“. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch nicht ein Tag oder eine kleine Zeitspanne den Menschen glücklich und selig. Dies also sei eine erste Skizze des obersten Gutes. (1,6,15)
Dem Gesagten ist noch beizufügen, daß von „sittlich wertvoll“ überhaupt nicht die Rede sein kann, wenn jemand keine Freude an edlem Handeln hat: niemand kann als gerecht bezeichnet werden, wenn er nicht Freude hat an gerechtem Tun, und niemand als großzügig ohne Freude am großzügigem Handeln. Und so ist es auch in den übrigen Fällen. Ist dies aber richtig, so sind sittliche Handlungen in sich freudevoll. Aber nicht nur dies, sondern auch wertvoll und schön und zwar beides im höchsten Grade, wenn anders der vollendete Repräsentant edlen Lebens zutreffend hierüber urteilt. Er tut es aber tatsächlich im eben ausgesprochenen Sinn. So ist also das Glück höchstes und schönstes und freudevollstes Gut und diese drei Begriffe lassen sich gar nicht trennen, wie es die bekannte Inschrift auf Delos möchte: „Schönster Schmuck ist gerecht sein. Bester Besitz die Gesundheit. Süßeste Freude ist dies: wenn man gewinnt, was man liebt.“ (1,9,17f)
Indes gehören zum Glück doch auch die äußeren Güter, wie wir gesagt haben. Denn es ist unmöglich, zum mindesten nicht leicht, durch edle Taten zu glänzen, wenn man über keine Hilfsmittel verfügt. Läßt sich doch vieles nur mit Hilfe von Freunden, von Geld und politischem Einfluß, also gleichsam durch Werkzeuge, erreichen. Ferner: es gibt gewisse Güter, deren Fehlen die reine Gestalt des Glücks trübt, zum Beispiel edle Geburt, prächtige Kinder, Schönheit; denn mit dem Glück des Mannes ist es schlecht bestellt, der ein ganz abstoßendes Äußeres oder eine niedrige Herkunft hat oder ganz allein im Leben steht und kinderlos ist. Noch weniger kann man von Glück sprechen, wenn jemand ganz schlechte Kinder oder Freunde besitzt oder gute durch den Tod verloren hat. Wie gesagt, gehören also zum Glück doch auch solch freundliche Umstände, weshalb denn manche die Gunst der äußeren Umstände auf eine Stufe stellen mit dem Glück – während andere der sittlichen Trefflichkeit diesen Platz geben. (1,9,18)
Daraus erwächst nun auch die Frage, ob man glücklich werden kann durch Lernen oder Gewöhnen oder sonstwie durch Übung oder ob uns das Glück zuteil wird durch eine Gabe der Gottheit oder etwa gar durch Zufall. Wenn es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, so kann folgerichtig auch das Glück eine Gabe der Gottheit sein und zwar um so eher, als es unter den menschlichen Gütern das wertvollste ist. Die Antwort darauf gehört allerdings mehr in eine andere Untersuchung. Doch ist soviel klar: selbst wenn uns das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethisches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampfpreis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchster Wert, göttlich und selig. (1,10,18f)
Vieles bringt der Zufall, unterschiedlich, Großes und Kleines. Das Kleine, sei es ein Glücksfall, sei es das Gegenteil, greift das Gleichgewicht des Lebens gewiß nicht an. Dagegen kann großes und häufig Auftretendes, sofern es sich zum Guten entwickelt, das Leben noch glücklicher machen – es ist ja nicht nur als solches dazu geschaffen, das Leben verschönern zu helfen, sondern es kann auch der Gebrauch, den man davon macht, Edles und Wertvolles zeitigen – schlägt es aber zum Gegenteil aus, so drückt und trübt es die Glücksempfindung; denn es bringt Kummer und hemmt so manchen Ansatz zur Tat. Und dennoch bricht auch darin der Glanz edler Haltung durch, wenn der Mensch zahlreiche schwere Schläge des Schicksals gelassen trägt, nicht aus stumpfen Sinn, sondern weil er edlen Blutes ist und großgesinnt. (1,11,21)
Wenn aber das Tätigsein dem Leben seinen Charakter gibt, wie wir gesagt haben, so kann ein glücklicher Mensch nicht ins Elend kommen, denn niemals, so dürfen wir erwarten, tut er etwas, was zu verabscheuen und minderwertig ist. Wir denken, dass der wirklich tüchtige und besonnene Mann jedwede Wendung des Lebens in vornehmer Haltung trägt und aus dem jeweils Gegebenen das denkbar Beste gestaltet. Er handelt wie etwa der große Feldherr: dieser holt aus dem Heer, das ihm zur Verfügung steht, das Beste heraus für die Entscheidung des Krieges; der tüchtige Schuster fertigt aus dem Leder, das er zur Hand hat, das schönste Schuhwerk, und so machen es die Handwerker alle. Ist das richtig, so kann der Glückliche allerdings niemals in Elend kommen, freilich aber auch nicht zur Vollform des Glückes, wenn ihn nämlich ein Los trifft wie König Priamos [der letzte König von Troja]. (1,11,21f)
Sein Wesen ist aber auch nicht fahrig und anfällig für Veränderung. Aus dem festen Zustand des Glücks wird ihn so leicht nichts verdrängen, und wenn, dann nicht ein gewöhnlicher Schlag des Schicksals, sondern nur ein harter und wiederholter. Andererseits kann er aus solchem Unglück auch nicht in kürzester Zeit wieder zurückfinden zum Glück, sondern wenn überhaupt, dann nur nach vielen und erfüllten Jahren, wenn ihm in ihrem Verlauf Erfolg und Ehre zuteil geworden ist. (1,11,21)
Was hindert also zu sagen: Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit tätig und dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausgestattet ist – und zwar nicht in einer zufälligen Zeitspanne, sondern so lange, daß das Leben seinen Vollsinn erreicht? Oder muß der Zusatz lauten: „Und wer diese Lebensform beibehalten und einen entsprechenden Tod haben wird“, da uns ja die Zukunft verschleiert ist und wir das Glück als Endziel setzen, als etwas in jedem Betracht, durch und durch Vollendetes? Steht dies fest, so werden wir als glückliche Menschen jene Lebenden bezeichnen dürfen, bei denen die genannten Elemente vorhanden sind und vorhanden sein werden – wir sagten „glückliche Menschen“: der Nachdruck liegt allerdings auf „Menschen“. (1,11,22)
Die Tüchtigkeit ist zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes (dianoëtische) und Vorzüge des Charakters (ethische). Die ersteren nun gewinnen Ursprung und Wachstum vorwiegend durch Lehre, weshalb sie Erfahrung und Zeit brauchen, die letzteren sind das Ergebnis von Gewöhnung. Daher auch der Name (ethisch, von ēthos), der sich mit einer leichten Variante von dem Begriff für Gewöhnung (ĕthos) herleitet. Somit ist auch klar, daß keiner der Charaktervorzüge uns von Natur eingeboren ist. Denn kein Naturding läßt sich in seiner Art umgewöhnen. Es ist in der Natur des Steines zu fallen. Keine Gewöhnung wird ihn zum Steigen bringen, selbst wenn man ihn daran gewöhnen wollte, indem man ihn unzähligemale in die Höhe wirft. Und das Feuer läßt sich nicht nach unten zwingen und keinem Ding, das von Natur in bestimmter Richtung festgelegt ist, kann man ein anderes Verhalten angewöhnen. Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die Natur, sondern es ist unsere Natur, fähig zu sein, sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung. (2,1,28)
Ferner: was von Natur in uns anwesend ist, davon bringen wir zunächst nur die Anlage mit und lassen dies dann erst später aktiv in Erscheinung treten. Ein klares Beispiel bietet die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung. Wir haben ja nicht durch wiederholte Akte des Sehens oder Hörens die Fähigkeit der Wahrnehmung bekommen, sondern umgekehrt: die Fähigkeit war da und dann haben wir sie benützt – nicht etwa infolge der Benützung erst erhalten. Die sittlichen Werte dagegen gewinnen wir erst, indem wir uns tätig bemühen. Bei Kunst und Handwerk ist es genauso. Denn was man erst lernen muß, bevor man es ausführen kann, das lernt man, indem man es ausführt: Baumeister wird man, indem man baut und Kitharakünstler, indem man das Instrument spielt. So werden wir auch gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen, indem wir besonnen, und tapfer, indem wir tapfer handeln. (2,1,28)
Desgleichen Geschicklichkeit in Kunst und Handwerk. Durch das Spielen der Kithara entstehen die guten und die schlechten Musiker. Entsprechend ist es bei den Baumeistern und allen übrigen Berufen. Werkgerechtes Bauen wird gute, das Gegenteil schlechte Baumeister hervorbringen. Wäre dem nicht so, so wäre der Lehrer überflüssig, und es gäbe nur geborene Könner und geborene Stümper. So ist es denn auch bei den sittlichen Werten. Denn durch das Verhalten in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die andern ungerecht. Und durch unser Verhalten in gefährlicher Lage, Gewöhnung an Angst oder Zuversicht, werden wir entweder tapfer oder feige. Dasselbe trifft zu bei den Regungen der Begierde und des Zorns: die einen werden besonnen und gelassen, die anderen hemmungslos und jähzornig, je nachdem sie sich so oder so in der entsprechenden Lage benehmen. Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung. Darum müssen wir unseren Handlungen einen bestimmten Wertcharakter erteilen, denn je nachdem sie sich gestalten, ergibt sich die entsprechende feste Grundhaltung. Ob wir also gleich von Jugend auf in dieser oder jener Richtung uns formen – darauf kommt nicht wenig an, sondern sehr viel, ja alles. (2,1,29)
Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht wie die anderen rein theoretisch – wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden. Sonst wäre dieses Philosophieren ja nutzlos. Daher müssen wir unser Augenmerk auf das Gebiet des Handelns richten, auf die Frage, wie wir die einzelnen Handlungen gestalten sollen, denn diese beeinflussen, wie wir gesagt haben, in entscheidender Weise das Wie der sich herausbildenden ethischen Grundhaltungen. (2,2,29)
Nun ist der Satz: „nach der richtigen Planung handeln“ allgemein anerkannt und sei (somit vorläufig) vorausgesetzt. Später soll dann darüber gesprochen werden, was das ist: „richtige Planung“ und in welcher Beziehung sie zu den (ethischen) Wesensvorzügen steht. Über das eine möge hierbei im vorhinein übereinstimmend festgestellt sein, daß von einer Untersuchung über ethische Fragen nur umrißhafte Gedankenführung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefordert werden darf. Wir haben ja schon eingangs ausgesprochen, daß die Form der Untersuchung, die wir verlangen dürfen, dem Erkenntnisgegenstand entsprechen muß. Im Bereich des Handelns aber und der Nützlichkeiten gibt es keine eigentliche Stabilität – übrigens auch nicht in Fragen der Gesundheit. Wenn dies aber schon bei übergreifenden Aussagen (in der Ethik) zutrifft, so kann Exaktheit noch viel weniger bei der Darstellung von Einzelfällen des Handelns vorhanden sein: diese fallen weder unter eine bestimmte „Technik“ noch Fachtradition. Der Handelnde ist im Gegenteil jeweils auf sich selbst gestellt und muß sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten, man denke nur an die Kunst des Arztes und des Steuermanns. (2,2,30)
Indes, auch wenn die gegenwärtige Untersuchung Schwierigkeiten dieser Art bietet, so muß man doch versuchen (ihr) Hilfe zu leisten. Als erste Erkenntnis nun ist festzuhalten die, daß alles, was irgendwie einen Wert darstellt, seiner Natur nach durch ein Zuviel oder ein Zuwenig zerstört werden kann. Wir sehen es – um weniger Augenfälliges durch greifbare Tatsachen zu klären – an der Kraft und der Gesundheit: die Körperstärke wird durch ein Zuviel an Sport genau so geschädigt wie durch ein Zuwenig. Übermaß in Speise und Trank richtet die Gesundheit ebenso zugrunde wie Unterernährung, während ein richtiges Maß sie erzeugt, steigert und erhält. Dasselbe ist nun der Fall bei der Besonnenheit, der Tapferkeit und den übrigen Wesensvorzügen. Wer vor allem davonläuft und sich fürchtet und nirgends ausharrt, wird ein Feigling. Wer überhaupt vor nichts Angst hat und auf alles losgeht, der wird ein sinnloser Draufgänger. Wer sich in jeden Genuß stürzt und sich nichts versagt, wird haltlos, wer jeden meidet wie die Spießer, wird stumpfsinnig. So wird denn besonnenes und mannhaftes Wesen durch das Zuviel und das Zuwenig zerstört, dagegen bewahrt, wenn man der rechten Mitte folgt. (2,2,30)
Folgendes sei als Ergebnis ausgesprochen: (a) sittliche Trefflichkeit entfaltet sich im Bereich von Lust und Unlust. (b) Sie wird durch dieselben Akte, aus denen sie entsteht, auch gemehrt und – wenn diese Akte sich nicht in derselben Weise wiederholen – auch zerstört. (c) Sie verwirklicht sich in demselben Umkreis, aus dem sie ihren Ursprung gewonnen hat. (2,3,32)
Nun könnte die Frage gestellt werden, wie es denn gemeint sei, wenn wir sagen, man müsse gerecht werden durch gerechtes Handeln und besonnen durch besonnenes Handeln. Denn gerechtes und besonnenes Handeln setze ja schon voraus, daß man gerecht und besonnen sei, genau so wie Leistungen in Grammatik und Musik bereits Vertrautheit damit voraussetzen. Oder trifft diese Annahme schon bei den fachlichen Leistungen gar nicht zu? Es ist ja immerhin möglich, in der Grammatik etwas zustande zu bringen aus Zufall oder mit fremder Hilfe, so daß man als wirklicher Könner erst dann gelten darf, wenn man selbständig auf grammatischem Gebiet in sachgerechter Weise etwas geleistet hat. Das aber bedeutet: gemäß der Grammatikkenntnis, über die man eigenständig verfügt. (2,3,32f)
Und ferner: es gibt gar keine Ähnlichkeit zwischen fachlichem Können und sittlichen Vorzügen. Denn was durch fachliches Können hervorgebracht wird, hat seinen Wert in sich selbst: da genügt es also, wenn das Werk einfach in charakteristischer Beschaffenheit schließlich da ist. Dagegen haben Handlungen im Bereich des Sittlichen nicht dann ohne weiteres den Charakter des Gerechten oder Besonnenen, wenn sie selbst einfach in charakteristischer Erscheinungsform auftreten, sondern es muß auch der handelnde Mensch selbst in einer ganz bestimmten Verfassung wirken. Er muß erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidung handeln, einer Entscheidung‚ die um der Sache selbst willen gefällt ist und drittens muß er mit fester und unerschütterlicher Sicherheit handeln. Für den Besitz fachlichen Könnens spielen diese Forderungen keine Rolle: da ist nur klares Wissen vonnöten. Für den Besitz sittlicher Vorzüge dagegen bedeutet das Wissen wenig oder nichts, wogegen auf die anderen Bedingungen nicht wenig, sondern schlechthin alles ankommt, jene Bedingungen, die verwirklicht werden, indem man häufig gerechte und besonnene Handlungen vollzieht. (2,3,33)
Man bezeichnet also Handlungen als gerecht und besonnen, wenn sie so sind, wie sie der gerechte oder besonnene Mensch vollbringen würde. Indes, gerecht und besonnen ist nicht ohne weiteres jeder, der solche Handlungen vollbringt: er muß sie auch im selben Geiste vollbringen wie die gerechten und besonnenen Menschen. Es ist also richtig, zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen, wenn er besonnen handelt. Ohne solches Handeln aber hat niemand auch nur die leiseste Aussicht, jemals ein sittlich wertvoller Mensch zu werden. (2,3,33)
Und dennoch handeln die meisten Menschen nicht so, sondern sie nehmen ihre Zuflucht zur Theorie, glauben „Philosophen“ zu sein und so zur sittlichen Tüchtigkeit zu gelangen. Sie halten es wie jene Kranken, die mit Eifer auf den Arzt hinhören, aber nichts von dem tun, was er anordnet. So wenig nun letztere durch ein solches Verfahren zur Gesundheit des Leibes kommen werden, so wenig die ersteren durch ein derartiges „Philosophieren“ zur Gesundheit der Seele. (2,3,34)
Unsere nächste Frage lautet nunmehr: was ist die sittliche Tüchtigkeit? Es gibt bekanntlich dreierlei seelische Phänomene: irrationale Regungen, Anlagen und feste Grundhaltungen. Zu einer dieser drei Klassen wird die sittliche Tüchtigkeit wohl gehören. Als „irrationale Regungen“ bezeichne ich die Begierde, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft, des Hasses, die Sehnsucht, die Mißgunst, das Mitleid – kurz Empfindungen, die von Lust oder Unlust begleitet werden. „Anlage“ ist das, wodurch wir als fähig bezeichnet werden, die irrationalen Regungen zu fühlen: wodurch wir z.B. fähig sind in Zorn oder Unlust zu geraten oder Mitleid zu fühlen. „Feste Grundhaltung“ ist etwas, kraft dessen wir uns den irrationalen Regungen gegenüber richtig oder unrichtig verhalten. Einer Zornesregung gegenüber ist z.B. unser Verhalten dann unrichtig, wenn wir sie zu heftig oder zu schwach empfinden, dagegen richtig, wenn es in einer gemäßigten Weise geschieht. Bei den anderen Regungen ist es ähnlich. (2,4,34)
Wenn nun also die sittlichen Werte weder irrationale Regungen noch Anlagen sind, so verbleibt nur noch, daß sie feste Grundhaltungen sind. (2,4,35)
Was die sittliche Tüchtigkeit der Gattung nach ist, haben wir somit festgestellt. Es gilt jedoch nicht nur einfach so auszusprechen, daß sie eine feste Grundhaltung ist, sondern auch zu bestimmen, von welcher Art diese Haltung ist. Man darf nun behaupten, daß jede Trefflichkeit ihrem Träger und dessen Leistung Rang verleiht. (2,5,35)
Es wird auch dadurch noch klarer werden, daß wir betrachten, welches das artbildende Merkmal der sittlichen Tüchtigkeit ist. Nun, man kann bei allem was ein Continuum und (in infinitum) teilbar ist, ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches fassen und zwar in der Beziehung auf das Ding selbst oder in der Beziehung auf uns, wobei unter „das Gleiche“ das Mittlere zu verstehen ist zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das, was von den beiden Enden gleichen Abstand hat und für alle Menschen eines ist und dasselbe. Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies jedoch ist nicht eines und dasselbe für alle. Ein Beispiel: Wenn der Wert 10 zu viel ist und der Wert 2 zu wenig, so gilt 6 als das Mittlere in bezug auf die Sache, denn es übertrifft den einen Wert um denselben Betrag, um den es hinter dem anderen zurückbleibt. Das ist das arithmetische Mittel. Das Mittlere jedoch in Hinsicht auf uns darf nicht so verstanden werden, denn wenn eine Eßration von 10 Minen für einen Einzelnen zu viel, eine solche von 2 Minen aber zu wenig ist, so wird deshalb der Trainer nicht gerade 6 Minen anordnen. Denn auch dieses Quantum könnte je nachdem zu groß oder zu klein sein. Für einen Milon [berühmter Sportler] ist das zu wenig, für einen Anfänger in Körperübungen dagegen zu viel. Ähnliches gilt für Wettlauf und Ringkampf. So meidet also jeder Sachkundige das Übermaß und das Zuwenig und sucht nach dem Mittleren und dieses wählt er, allerdings nicht das rein quantitativ Mittlere, sondern das Mittlere in der Beziehung auf uns. (2,5,35f)
Wenn also jede „Kunst” ihr Werk zur Vollendung dadurch bringt, daß sie auf das Mittlere blickt und ihr Werk diesem annähert – man pflegt daher beim Anblick vollendeter Kunstwerke zu urteilen: „hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen”, erkennt also an, daß ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mitte dagegen sie erhält – wenn also die bedeutenden Künstler bei ihrem Schaffen auf dieses Ausgewogene blicken, die sittliche Tüchtigkeit aber, hierin der Natur vergleichbar, genauer und besser waltet als jede Kunst, dann müssen wir schließen: sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab. Ich meine natürlich die Tüchtigkeit des Charakters. Denn diese entfaltet sich im Bereich der irrationalen Regungen und des Handelns und da gibt es das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere. Bei der Angst z.B. und beim Mut, beim Begehren, beim Zorn, beim Mitleid und überhaupt bei den Erlebnissen von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig und keines von beiden ist richtig. Dagegen diese Regungen zur rechten Zeit zu empfinden und den rechten Situationen und Menschen gegenüber, sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise – das ist jenes Mittlere, das ist das Beste, das ist die Leistung der sittlichen Tüchtigkeit. Ähnlich (wie bei den irrationalen Regungen) treffen wir das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere auf dem Gebiet des Handelns. Die sittliche Tüchtigkeit aber entfaltet sich eben auf dem Gebiet der irrationalen Regungen und des Handelns, wobei das Zuviel ein Fehler ist und das Zuwenig getadelt wird, das Mittlere aber ein Treffen des Richtigen ist und gelobt wird. Die beiden eben genannten Momente aber sind bezeichnend für die sittliche Tüchtigkeit. So ist denn die sittliche Tüchtigkeit eine Art von Mitte, insofern sie eben wesenhaft auf das Mittlere abzielt. (2,5,36)
So ist also sittliche Werthaftigkeit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in bezug auf uns ist, jener Mitte, die durch den richtigen Plan festgelegt ist, d.h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde. Sie ist Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind, und weiter: sie ist es dadurch, daß das Minderwertige teils hinter dem Richtigen zurückbleibt, teils darüber hinausschießt und zwar im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns – wohingegen die sittliche Tüchtigkeit das Mittlere zu finden weiß und sich dafür entscheidet. (2,6,37)
Es genügt jedoch nicht diese allgemeine Feststellung: man muß sie auch auf den Einzelfall anwenden. Denn bei ethischen Diskussionen sind allgemeine Aussagen verhältnismäßig leer, während die konkreten der Wahrheit näherkommen. Denn das Handeln besteht aus Einzelakten und mit diesen müssen die Aussagen im Einklang sein. (2,7,38)
Wir wollen das Einzelne nunmehr unserer Tabelle[1] entnehmen. Aus ihr sehen wir: in Hinsicht auf die Anwandlungen von Angst und Verwegenheit ist Tapferkeit die Mitte. Mit den Übersteigerungen steht es so: für das extreme Fehlen jeder Furchtempfindung gibt es keinen eigenen Ausdruck – ein solcher fehlt übrigens häufig. Wer maßlos verwegen ist, heißt sinnloser Draufgänger, wer übersteigerte Angst und ein Zuwenig an Mut hat, heißt feige. (2,7,38)
In Hinsicht auf die Empfindungen von Lust und Unlust – nicht alle sind gemeint, vor allem nicht alle Unlustempfindungen – ist Besonnenheit die rechte Mitte. Die Übersteigerung heißt Zügellosigkeit. Menschen mit mangelhafter Lustempfindung gibt es eigentlich nicht. Daher haben auch sie keinen eigenen Namen erhalten. Man mag sie als stumpfsinnig bezeichnen. (2,7,38)
In Hinsicht auf das Geben und Nehmen von Geld ist Großzügigkeit die Mitte. Das Zuviel und das Zuwenig heißt Verschwendungssucht und kleinliches Knausern. In beiden Fällen aber zeigt sich das Übermaß in entgegengesetzter Richtung: der Verschwender ist maßlos im Ausgeben und kärglich im Nehmen, der Knauserige ist maßlos im Nehmen und kärglich im Geben. Übrigens reden wir jetzt von den Dingen nur im Umriß und zusammendrängend und begnügen uns absichtlich damit. Später sollen genauere Bestimmungen folgen. (2,7,38)
Unser Verhältnis zum Geld kann auch noch andere Formen haben. Ein Mittleres ist die Großgeartetheit. Man bemerke den Unterschied zwischen großgeartet und großzügig. Im ersteren Fall handelt es sich um große Beträge, im letzteren um kleinere. Das übersteigerte Verhalten heißt Großmannssucht und Geschmacklosigkeit, das unzulängliche ist Engherzigkeit. Diese Formen des Übermaßes decken sich nicht mit denen, die bei der Großzügigkeit genannt worden sind. Über den Unterschied später. (2,7,38)
In Hinsicht auf Ehre und Unehre ist Hochsinnigkeit die Mitte. Das Zuviel pflegt man dummen Stolz zu nennen, das Zuwenig Engsinnigkeit. Wir haben nun soeben bemerkt, daß die Großzügigkeit in einem bestimmten Verhältnis zur Großgeartetheit steht: sie unterscheidet sich lediglich durch die kleineren Summen, die bei ihr in Frage stehen. Genau so aber verhält sich eine bestimmte Eigenschaft zur Hochsinnigkeit: diese letztere ist auf Ehre im Großen gerichtet, erstere dagegen ist es nur im Kleinen. Nach Ehre kann man nämlich in der richtigen, in übersteigerter und in unzulänglicher Weise verlangen. Wer das Maß dabei überschreitet, heißt geltungssüchtig, wer es unterschreitet, ist gegen Ansehen gefühllos. Für den Mittleren aber gibt es keinen eigenen Begriff. Auch für die entsprechenden Grundhaltungen fehlt ein solcher. Nur die des Geltungssüchtigen heißt Geltungssucht. Daher erheben die Träger des extremen Verhaltens Anspruch auf den Platz in der Mitte und auch wir selbst nennen den Mittleren bisweilen geltungssüchtig, bisweilen gleichgültig und loben das einemal den Geltungssüchtigen, ein andermal den Gleichgültigen. Aus welchem Grunde wir dies tun, werden wir im folgenden klären. Jetzt wollen wir die Untersuchung nach der Methode fortsetzen, die uns bisher geführt hat. (2,7,39)
Auch in Hinsicht auf die Zornesregung gibt es ein Zuviel, ein Zuwenig und die Mitte. Besondere Namen gebraucht man dafür eigentlich nicht. Doch wollen wir den Mittleren als ruhig und die Mitte als ruhiges Wesen ansprechen. Bei der Benennung der Extreme wollen wir für den Maßlosen den Begriff jähzornig und für das entsprechende falsche Verhalten den Begriff Jähzorn prägen. Der Unzulängliche aber heiße phlegmatisch und das falsche Verhalten Phlegma. (2,7,39)
Es gibt noch drei weitere Erscheinungsformen der Mitte. Bei mancher Ähnlichkeit sind sie voneinander doch verschieden. Sie beziehen sich nämlich alle drei auf unser Reden und Tun im Verkehr mit dem Mitbürger, sind aber insofern verschieden, als die eine (a) die Aufrichtigkeit im Leben zum Gegenstand hat, die beiden anderen dagegen das Angenehme. Dieses hinwiederum kann erlebt werden (b) bei geselliger Kurzweil im besonderen, dann aber auch (c) in allen Lebenslagen. Auch davon ist also noch zu sprechen, damit wir noch besser einsehen, wie überall die Mitte unser Lob verdient, während die Extreme weder richtig sind noch Lob verdienen, sondern Tadel. Zwar fehlen auch in diesem Fall fast durchweg gängige Begriffe, wir müssen aber doch, wie schon bisher, versuchen, sie selber zu prägen, denn unser Ziel ist Klarheit und leichte Faßlichkeit für die Hörer. (2,7,39)
So gelte denn (a) in Hinsicht auf die Aufrichtigkeit folgendes: wer die Mitte einhält, mag aufrichtig heißen und die Mitte Aufrichtigkeit. Die Absicht der Verstellung ist, wenn sie übertreibt, Aufschneiderei und der Träger dieser Eigenart ein Aufschneider. Wenn sie dagegen verkleinert, spricht man von geheuchelter Bescheidenheit und von heuchlerisch bescheiden. (b) In Hinsicht auf das Angenehme bei geselliger Kurzweil ist, wer die Mitte einhält, gesellschaftlich gewandt und seine Eigenart die gesellschaftliche Gewandtheit. Das Zuviel ist die Hanswursterei und der Träger dieser Unart der Hanswurst. Bei dem Zuwenig spricht man vielleicht von Rüpel und Rüpelhaftigkeit. (c) In Hinsicht auf die zweite Form des Angenehmen, soweit sie in den sonstigen Lebensumständen erscheint, heißt jemand, der sich in der richtigen Weise angenehm macht, freundlich und die Mitte Freundlichkeit; der übertrieben Freundliche aber ist liebedienerisch, falls keine Nebenabsicht dabei ist. Wenn er nur seinen eigenen Vorteil verfolgt, ist er ein kriecherisches Subjekt. Der übertrieben Unfreundliche und in allen Lagen Widerwärtige heiße etwa Streithahn und Widerborst. (2,7,40)
Aber auch bei den irrationalen Regungen und in deren Bereichen gibt es ein Mittleres. (a) So ist z.B. das Feingefühl zwar kein sittlicher Vorzug und doch wird auch ein feinfühliger Mensch gelobt. Denn auch in diesen Fällen sagt man von einem Menschen, er halte die Mitte oder überschreite das Maß, wie z.B. der Schüchterne, der vor allem zurückscheut. Und der Mann des Zuwenig, der überhaupt keine Scheu kennt, heißt unverschämt, der Mittlere aber feinfühlig. (2,7,40)
(b) Ehrliche Empörung ist die Mitte von Mißgunst und Schadenfreude. Alle drei gehören zu Unlust und Lust, soweit man sie über das Ergehen des Nächsten empfindet: der ehrlich Empörte ärgert sich über das Glück der anderen, wenn es unverdient ist. Der Mißgünstige geht darüber hinaus, indem er sich über alle ärgert, die glücklich sind. Der Schadenfrohe dagegen ist von Ärger weit entfernt: er freut sich vielmehr. (2,7,40)
Daß also sittliche Tüchtigkeit eine Mitte ist und in welchem Sinne sie dies ist und daß sie Mitte zwischen zwei falschen Zuständen ist, nämlich zwischen dem des Übermaßes und dem der Unzulänglichkeit und daß sie solcher Art ist, weil ihr Wesensmerkmal eben darin besteht, bei irrationalen Regungen und beim Handeln nach dem Mittleren zu zielen, das ist nun genügend festgestellt. (2,9,42)
Daraus folgt freilich auch, daß es keine leichte Sache ist ein wertvoller Mensch zu sein; denn in jedem einzelnen Fall die Mitte zu fassen ist keine leichte Sache: den Mittelpunkt des Kreises findet nicht unterschiedslos ein jeder, sondern nur der Wissende. So ist das Zornigwerden leicht, das kann jeder, ebenso Geld herschenken und verschwenden – allein das Richtige zu bestimmen in Hinsicht auf Person, Ausmaß, Zeit, Zweck und Weise, das ist nicht jedem gegeben, das ist nicht leicht. Daher ist richtiges Verhalten selten; es ist des Lobes wert und es ist edel. (2,9,42)
Indes: wenn jemand von der richtigen Linie – nach der Seite des Zuviel oder des Zuwenig – nur um ein Geringes abirrt, wird er noch nicht getadelt, wohl aber wenn er sich weiter entfernt, denn dann fällt er auf. Aber begrifflich scharf festzulegen, bei welchem Punkte und bei welchem Grad der Abweichung der Tadel einzusetzen hat, das ist nicht leicht – wie ja bei allen Gegenständen der Erfahrung. Erscheinungen wie die genannten gehören zum Bereich der Einzeltatsachen: da entscheidet das unmittelbare Erfassen. Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen. (2,9,43)
[1] Zur bequemeren Orientierung des Lesers verwenden wir die Reihe der Tugenden als Inhaltsverzeichnis und bezeichnen die Stelle, wo die genauere Ausarbeitung in den Büchern III-IV erfolgt:
- Tapferkeit, άνδρεíα, andreia (III 9-12)
- Besonnenheit, σωφροσύνη, sophrosyne (III 13-15)
- Tugenden mit dem Bezugspunkt Geld:
Großzügigkeit, έλευθεριότης, eleutheriotes (IV 1-3)
Großgeartetheit, μεγαλοπρέπεια, megaloprepeia (IV 4-6)
4. Tugenden mit dem Bezugspunkt Ehre:
Hochsinnigkeit, μεγαλοφνχία, megalopsychia (IV 7-9)
Ehrliebe, φιλοτιμία, philotimia (IV 10)
- Tugend mit dem Bezugspunkt Zorn:
Vornehme Ruhe, πραότης, praotes (IV 11)
- Tugenden des geselligen Verkehrs:
Aufrichtigkeit, άλήθεια, aletheia (IV 13)
Freundschaft, φιλία, philia (IV 12)
Gewandtheit, εύτραπελία, eutrapelia (IV 14)
- Uneigentliche Tugend:
Schamempfindung, αίδώς, aidos(IV 15)
- Gerechtigkeit, δικαιοσύνη, dikaiosyne (Buch V)